Samstag, 30. Dezember 2006

Ärzteblatt-Nachlesen 1

Medizingeschichte(n): Psychiatrie - Psychische Kur
(Deutsches Ärzteblatt 100, Ausgabe 50 vom 12.12.2003, Seite A-3321)

Medizingeschichte(n): Mesmerismus Sympathie
Deutsches Ärzteblatt 100, Ausgabe 47 vom 21.11.2003, Seite A-3094

über den Tod Sigmund Freuds:
Medizingeschichte(n): Ethik in der Medizin – Sterbehilfe
Deutsches Ärzteblatt 100, Ausgabe 47 vom 21.11.2003, Seite A-3108

Deutsches Ärzteblatt 103, Ausgabe 51-52 vom 25.12.2006,
Seite A-3444

Deutsches Ärzteblatt 103, Ausgabe 51-52 vom 25.12.2006,
Seite A-3444


Ärzteblatt-Nachlesen 2

Von schräg unten: Doctors hopping
(Deutsches Ärzteblatt 103, Ausgabe 47 vom 24.11.2006)

Arztgeschichte: Der himmlische Arztbrief
(Deutsches Ärzteblatt 103, Ausgabe 48 vom 01.12.2006, Seite 100)

Freitag, 29. Dezember 2006

Schwarzwaldklinik für Sarkasten

Mein geliebter Dr. House hat es inzwischen sogar ins Deutsche Ärzteblatt geschafft:

Fernsehkritik: Dr. House – Misanthrop mit Kultstatus
(Deutsches Ärzteblatt 103, Ausgabe 50 vom 15.12.2006, Seite A-3405)

Sonntag, 24. Dezember 2006

Friede im Krieg

VON ACHIM BALKHOFF

Weihnachten und Schlachtenlärm, das paßt nicht zusammen. Im Ersten Weltkrieg haben heute vor 90 Jahren einfache Soldaten auf beiden Seiten der Front, Briten und Deutsche, die Weihnachtsbotschaft begriffen. Und Fußball gespielt, statt aufeinander zu schießen. Ein wahres Weihnachtsmärchen.

Bitterkalt ist es auf den Feldern von „La Moutarderie“. Es braust ein heftiger Sturm. Eine Menge Menschen sind dort draußen, zu sehen sind sie nicht. Sie müssen sich in selbst ausgehobenen Gräben verkriechen und stehen und waten dort knöcheltief im Schlamm. Wagen sie es doch einmal aufzuschauen, starren sie auf Munitionskisten, Stacheldraht und Tierkadaver. Auch tote Menschen liegen dort weit verstreut. Niemand traut sich, sie zu bergen.

Das Anwesen „La Moutarderie“ liegt in Nordfrankreich, in der Gemarkung Frelinghien, nahe der belgischen Grenze. Die nächst größere Stadt ist Armentiers. Das fruchtbare Land gehört eigentlich der Familie Leblon, die hier aber nicht wohnen darf. Nicht einmal die Kohl- und Rübenernte haben sie in diesem Jahr einfahren können. Die Leblons wurden vertrieben. Auf dem Bauernhof haben sich seit Wochen junge Männer aus England und Schottland verschanzt, auf den Feldern davor haben sich junge Deutsche eingegraben. Es ist Krieg – und es ist Heiligabend. Der erste Heilige Abend des Ersten Weltkriegs. Heute vor 90 Jahren.

Johannes Niemann ist Oberleutnant beim 179. Königlich-Sächsischen Infanterieregiment, Ernest Williams ist ein einfacher Soldat bei der 12. Division der Britischen Armee. Niemann ist Mitte zwanzig, ein wenig älter als Evans. Sie sind Feinde. Auf mehreren Kilometern stehen sich die Krieg führenden Streitkräfte in diesem Abschnitt der Westfront gegenüber. Hunderte von Menschen haben allein hier schon ihr Leben gelassen. Dem Deutschen wurde eingebläut, der „Tommy“ sei ein Barbar, umgekehrt sehen diese im „Fritzen“ nur ein „wildes Tier“, eines mit „Mord im Blick“. Daran erinnern sich Niemann und Williams später, aber auch noch an viel mehr.

Es ist der 24. Dezember, und irgendetwas ist angenehmer als in all diesen furchtbaren Wochen zuvor. Will der Krieg etwa eine Pause machen? Unaufhörlich knatterten vorher die Gewehre, schlugen Granaten ein, mußte man mit Sturmangriffen rechnen und um sein Leben fürchten. Plötzlich aber liegt eine gespenstische Ruhe über „La Moutarderie“. Nur aus der Ferne klingt noch ein leiser Gefechtsdonner herüber. Mit klammen Fingern kramt Johannes Niemann ein Geschenkpaket heraus.

Die Feldpost hat es im ersten Kriegsjahr noch bis in die vordersten Reihen geschafft. Ein Büchlein, eine Kerze, ein Brief von daheim. Das Übliche in solchen Zeiten. „Wolltest du nicht nur ein paar Wochen weg?“ „Warum müssen wir Weihnachten getrennt sein?“ „Pass bitte auf Dich auf.“ Den anderen frierenden Männern in den verschlammten Gräben widerfährt Ähnliches. Wehmut kommt auf, aber auch ein Hauch festlicher Stimmung. Die ersten Tränen rollen über die unrasierten Wangen. Langsam wird es dunkel, es ist 16 Uhr.

Ein bißchen Frieden zwischen den Schlachten: Im Ersten Weltkrieg versuchten sich die Soldaten in Weihnachtsstimmung zu versetzen – im Schützengraben wie im Unterstand.

Der kaiserliche Nachschub hatte es sogar geschafft, kleine, geschmückte Tannenbäume an die hart umkämpfte Front zu bringen. Wie zum Trotz stellen Niemann und die anderen Soldaten die Bäumchen, Symbole für ein Friedensfest, auf die Balustraden ihrer Schützengräben und zünden die Kerzen an.

Flackerndes Kerzenlicht erhellt das Niemandsland. So etwas wie friedliche Stimmung macht sich breit über „La Moutarderie“. Aber wie so oft, wenn Krieg ist, sind Mißverständnisse im Spiel, und der Feind, keine 200 Meter entfernt, vermutet Böses.

Die beleuchteten Christbäume habe man zunächst für eine listige Geheimwaffe der Deutschen gehalten, erzählt Ernest Williams später einmal. Ein ohrenbetäubendes Gewehrfeuer sei deshalb die erste Antwort gewesen, die Realität des Krieges schien die halbwegs festliche Atmosphäre brutal zu zerstören. Gehen beide Seiten jetzt wieder aufeinander los?

Doch Niemann und andere Offiziere lassen nicht zurückschießen. Aus den deutschen Stellungen erklingt ein anderes Geräusch, Gesang. Anfangs ist es nur einer, der „Stille Nacht, heilige Nacht“ vor sich hin singt. Ganz leise und zart erklingt die Weise von Christi Geburt – und sie wird lauter. So laut, bis ein weihnachtlicher Chorgesang erschallt. Kurz darauf „entspringt das Ros“, und der Feind reagiert. „Good, old Fritz“ ruft es aus den gegenüberliegenden Stellungen und „More, more“. Gern doch, und die sächsischen Soldaten singen ihr „Oh, du Fröhliche“ herüber.

Bald beginnt auch die Gegenseite, die plötzlich keine mehr zu sein scheint, zu singen: „The Boys of Bonnie Scotland, where the Heather and the Bluebells grow.“ Dafür gibt's Beifall. Dann „While Shephers Watched their Flocked by Night“, und die Dämme sind gebrochen. Kehlen statt Kanonen. Der Krieg verwandelt sich in dieser Nacht in einen friedlichen Sängerwettstreit. Und diese Nacht verläuft wie so viele andere, gesellige Nächte. Erst lauthals und lustig, dafür stimmt man gern „Tipperary“ und „Home, Sweet Home“ an, am Ende melancholisch „Auld Lang Syne.“

Am ersten Weihnachtstag ist Ernest Williams frühmorgens als Späherposten eingeteilt. Er traut seinen Augen nicht. Feldgrau gekleidete deutsche Soldaten klettern aus ihren Gräben, waffenlos, gehen auf die feindliche Seite zu. „Merry Christmas Englishmen. We not shoot, you not shoot.“ Die sächsischen Infanteristen sind gebildete Leute, als Kriegsfreiwillige haben viele die Sprache des Feindes – wenn auch nicht perfekt – auf den Gymnasien gelernt, von denen sie direkt und ohne Umwege in den Krieg abgezogen wurden.

Die britischen Soldaten verstehen die Geste sehr wohl und verlassen ihre Schützengräben. Man begegnet sich, grüßt höflich, schüttelt sich die Hände. An sich ein normaler Vorgang, im Krieg aber geradezu undenkbar.

„We are Saxons, you are Angelsaxons, why should we shoot each other?“, fragt der deutsche Offizier seinen britischen Gegner, der sich dieser simplen, aber doch überzeugenden Logik anschließt. Mit einem Schluck Brandy bekräftigen sie ihre neue Erkenntnis. Es werden Geschenke ausgetauscht, Dresdener Christstollen gegen Plumpudding. Die Koalition der Unwilligen steht, auf dem blutgetränkten Acker der Familie Leblon ruhen nun die Waffen, die jungen Männer wollen an diesem Tag nicht töten – aber gewinnen wollen sie schon.

Plötzlich fällt ein Fußball aufs Feld, ein echter Lederball. Einer von der anderen Seite hat ihn mitgebracht, das Wort Feind fällt nicht mehr. Ein Sachse brüstet sich damit, daß er mit Leipzig vor einem Jahr 1:0 gegen die Celtics aus Glasgow gewonnen habe, was zu jener Zeit wahrlich einem Fußballwunder glich. Galt doch das Königreich als Mutterland der „Footers“. Also Revanche?

Man zögert nicht allzu lange und pfeift das Länderspiel „Deutschland gegen England“ an. Einen neutralen Schiedsrichter gibt es nicht. Wer sollte es auch sein? Bauer Leblon war ja vom Hof gejagt worden. Auch Torstangen sind nicht zu finden, dafür müssen jeweils zwei Mützen herhalten, korrekt in sieben Meter Abstand. Das Spielfeld kann sich sehen lassen, 50 mal 100 Meter, von den Soldaten platt und glatt getreten, von Munitionskisten und toten Tieren freigeräumt. Die herumliegenden Menschenleichen hatte man vorher noch gebührend bestattet.

Das Spiel selbst verläuft, wie Fußball eben verläuft. Es spielen elf gegen elf, und ihre jeweiligen Anhänger fiebern mit und feuern an. Von kleinen spielerischen Mängeln ist später zu hören, die selbstverständlich auf den hart gefrorenen Acker zurückzuführen sind. Gute Ausreden finden konnte man damals schon. Ja, und selbst die hohe Schule der Taktik wurde praktiziert. Die wenigen schottischen Spieler trugen unter ihrem Rock – trotz der Kälte – keine Unterhosen, was die deutsche Mannschaft anfangs doch sehr irritiert haben soll. Erst hinterher wurden sie über diesen würdigen Brauch aufgeklärt.

Überhaupt hinterher. Man macht dort weiter, wo nachts zuvor aufgehört wurde. Die Schotten spielen auf ihren Dudelsäcken, die Deutschen auf ihren Mundharmonikas. Es wird noch ein gemeinsames Foto gemacht, wie das bei denkwürdigen Sportereignissen so üblich ist, und es wird auch noch kräftig und gemeinsam einer gehoben. Schnaps ist schließlich keine Mangelware an der Front. Über Politik wird im Niemandsland nicht gesprochen, eher schon über die Menschen daheim. Fotos der Angehörigen werden aus den Taschen gezogen und Fragen nach dem Sinn des Krieges gestellt. Niemann tauscht noch eine Flasche Rum gegen eine Büchse mit Rindfleisch. Später spricht er vom Wahnsinn, mit dem Gegner keine Kugeln, sondern Konserven getauscht zu haben. Beim Auseinandergehen schwören sich beide Seiten noch zwei Dinge. Keinem Befehlshaber vom Fußballspiel und der Feier zu erzählen und nicht mehr aufeinander zu schießen. Welch schöne Bescherung.

Die Männer in den Schützengräben halten sich an diesen Schwur, kein einziger Schuß entweiht die weihnachtliche Stille über diesen Frontabschnitt. Auch in den Tagen danach liegt Frieden über den Feldern von „La Moutarderie“. Doch ein Geheimnis bleibt das christliche Miteinander nicht.

Der nicht befohlene Waffenstillstand, der in Kriegszeiten so unglaubliche „Friede von unten“ ergreift auch andere Abschnitte der Front – und so etwas fällt auf. Die Opferzahlen gehen spürbar zurück, und das haben Heeresleitungen überhaupt nicht gern. Die Engländer lösen sofort ihre Truppen ab und weisen die nachrückenden Divisionen an, auf jeden Feind zu schießen. Auch das deutsche Oberkommando handelt, tauscht aus und untersagt ab 29. Dezember jedwede Verbrüderungsaktion. Wer sich dem Befehl widersetzt, wird erschossen. Niemann und Evans verlassen „La Moutarderie“.

Danach wird geschwiegen. Die reichsdeutsche Presse bringt keine Zeile über die ungewöhnlichen Ereignisse an der Front, die Redaktionen beider Seiten waren ein halbes Jahr nach Ausbruch der Feindseligkeiten viel zu sehr mit Kriegspropaganda beschäftigt. Diese geradezu ungeheuerlichen Nachrichten hätten den Nationalstolz doch zu sehr getroffen.

Ohne sich untereinander abzusprechen, schweigen auch die Regimentskommandeure das friedliche Spiel tot. Noch heute gibt es in den Militärarchiven nur wenige Hinweise auf die Geschehnisse am Weihnachtstag 1914. Einen nutzt der frühere Beatles-Sänger Paul McCartney, um 70 Jahre später seinen Hit „Pipes of Peace“ zu schreiben, einen anderen die Filmindustrie, um daraus den Stoff für einen großen Weihnachtsfilm für 2005 zu drehen. In der Hauptrolle die von Hildesheim nach Hollywood gewechselte Diane Krüger.



Johannes Niemann stirbt 1979 in Hamburg. Er war der letzte Zeitzeuge auf deutscher Seite. „Es war die große Sehnsucht, die uns vereinte“, sagte er rückblickend. „Die Sehnsucht nach den Familien, die man lange nicht gesehen hatte, die Sehnsucht nach dem kleinen Glück in einer schweren Zeit.“

Ernest Williams glaubt fortan an die Kraft des Fußballs. Bis zu seinem Tod vor 20 Jahren leitet er den Landesverband Cheshire im englischen Fußballverband, sein Hauptaugenmerk gilt dabei der Jugendarbeit. „Mit der Vermittlung internationaler Jugendspiele möchte ich dazu beitragen, daß niemals wieder Menschen auf Menschen schießen müssen.“

Bleibt nur noch eines zu sagen. Dieses wohl ungewöhnlichste Fußballspiel aller Zeiten endet 3:2 für Deutschland. Wie unwichtig doch ein Ergebnis sein kann.


Ein Erinnerungs-, kein Wiederholungsspiel: In Neuville Saint-Vaast, nicht weit von dem Ort, wo verfeindete Deutsche und Briten mitten im Krieg Fußball spielten, trafen sich vergangenen Sonntag [Dezember 2004] ein französisches (in Blau) und ein internationales Team von Deutschen, Briten und Belgiern zu einem Wohltätigkeitsspiel.


aus der HAZ vom 24. Dezember 2004


siehe dazu auch:
- Der Weihnachtsfrieden von 1914 (Alles Schall und Rauch, 25.01.2014)

Freitag, 22. Dezember 2006

Das Licht der Hoffnung

Vier Kerzen brannten am Adventskranz Es war still. So still, daß man hörte, wie die Kerzen zu reden begannen. Die erste Kerze seufzte und sagte: „Ich heiße Frieden. Mein Licht leuchtet, aber die Menschen halten keinen Frieden, die wollen mich nicht.“ Ihr Licht wurde immer kleiner und verlosch schließlich ganz.
Die zweite Kerze flackerte und sagte: „Ich heiße Glauben, aber ich bin überflüssig. Die Menschen wollen von Gott nichts wissen. Es hat keinen Sinn mehr, daß ich brenne.“ Ein Luftzug wehte durch den Raum und die Kerze war aus.
Leise und traurig meldete sich die dritte Kerze zu Wort: „Ich heiße Liebe. Ich habe keine Kraft mehr zu brennen. Die Menschen stellen mich an die Seite. Sie sehen nur sich selbst und nicht die anderen, die sie lieb haben sollen.“ Und mit einem letzten Aufflackern war auch dieses Licht gelöscht.
Da kam ein Kind in den Raum. Es schaute die Kerzen an und sagte: „Aber, aber, ihr sollt doch brennen und nicht aus sein!“ Und fast fing es an zu weinen. Da meldete sich auch die vierte Kerze zu Wort. Sie sagte: „Hab’ keine Angst! So lange ich brenne, können wir die anderen Kerzen wieder anzünden.“
Mit einem Streichholz nahm das Kind Licht von dieser Kerze und zündete die anderen Lichter wieder an.

(von P. Tisch-Rodler)





Donnerstag, 21. Dezember 2006

Die Geschichte vom Lametta

gibt’s schon x-mal im Net, ich verlinke es deshalb nur.

Mittwoch, 20. Dezember 2006

Vorweihnachtliches

Im Juni 1922 wurde der Außenminister der ersten Deutschen Republik, Walther Rathenau, hervorragender Sohn eines hervorragenden Vaters, von Fememördern erschossen. Den jungen Fanatikern, ersten Gefolgsleuten Hitlers, war er ein verächtliches Sinnbild friedlichen Aufbaus nach der Niederlage, das Hindernis auf ihrem Wege zur Macht und zudem verhaßter Inbegriff des deutschen Judentums.

Zwei Mörder richteten sich selbst, als sie sich umzingelt sahen; der dritte, der 21jährige Werner T., entsprang. Am Tage nach dem Mord erhielt die Mutter des Mörders einen Brief von Mathilde Rathenau, der Mutter des Ermordeten. Hier sein Wortlaut:

„Im namenlosen Schmerz reiche ich Ihnen, Sie ärmste aller Frauen, die Hand. Sagen Sie Ihrem Sohn, daß ich im Namen und im Geiste des Ermordeten ihm verzeihe, wie Gott ihm verzeihen möge, wenn er vor der irdischen Gerechtigkeit ein volles öffentliches Bekenntnis ablegt und vor der göttlichen bereut. Hätte er meinen Sohn gekannt, den edelsten aller Menschen, so hätte er die Mordwaffe eher auf sich selbst gerichtet als auf ihn. Mögen diese Worte Ihrer Seele Frieden geben.“

Zwanzig Jahre nach jenem Brief begab sich folgendes: Werner T., der gefaßt, verurteilt und 1927 begnadigt worden war, tauchte im Zweiten Weltkrieg als französischer Fremdenlegionär und später als Matrose wieder auf. Der Nationalsozialismus hatte inzwischen Deutschland und die halbe Welt erobert. Aber eine Eroberung war ihm entglitten: die Seele des jungen Rathenau-Mörders. Die Erschütterung, die der Brief Mathilde Rathenaus bewirkte, ging durch und durch. Werner T. hat nicht nur gebüßt, sondern bereut und gutgemacht. Um seine Tat zu sühnen, setzte er sich jahrelang während der deutschen Okkupation Frankreichs mit allen Mitteln für das verfolgte Freiwild Hitlers, vor allem für die Juden, ein. Nach zuverlässigen Berichten hat er auf diese Weise mehr als siebenhundert Menschen vor Tod und Marter bewahrt, oft auf seltsamen Umwegen. Der Brief einer Mutter, die tiefste Menschlichkeit über tiefstes Mutterleid stellte, rettete nicht nur siebenhundert Menschenleben; er rettete eine Menschenseele, die in die Irre ging.

Quelle unbekannt