Dienstag, 3. Oktober 2006

Die Amygdala-Politik

»Ich habe einen TV-Sender aufgebaut mit dem Ziel, das dominante Medium unserer Zeit zu demokratisieren. Wir leben ja in einer Drei-Wege-Kultur: Der Einfluß der Printmedien geht zurück, das Internet ist gerade geboren. Aber die Kultur des Fernsehens ist erdrückend. Die ganze Architektur des Fernsehens ist eine Einbahnstraße. Einige wenige Stationen befinden sich in den Händen einiger weniger. Die Zuschauer haben kaum eine Möglichkeit, in den Prozeß einzugreifen. Und das Resultat ist bei vielen eine Art Trance-Zustand.
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Der Durchschnittsamerikaner schaut 4 Stunden und 39 Minuten Fernsehen am Tag. Das entspricht drei Vierteln seiner Freizeit. Also jener Zeit, die Leute mit ihren Familien oder mit Arbeit in ihren Gemeinden, gewissermaßen mit Demokratie verbringen. Das geht alles verloren. Und dieses Vakuum wurde gefüllt von Interessengruppen, die viel Geld in die Manipulation der Massen investieren.
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Die Techniken,die sie benutzen, sind gewaltig, mächtiger als der normale Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Anzeigenkampagnen werden heutzutage schon gestaltet, ehe das Produkt überhaupt existiert. Sie versuchen herauszufinden, was funktioniert und entwerfen danach das Produkt. Genau dieses Phänomen wurde leider auf die politische Arena übertragen. Zu viele Kandidaten aus beiden Parteien orientieren sich daran, was gewünscht ist, und schalten dementsprechend ihreWerbung. Immer wieder.
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Ich nenne das Amygdala-Politik […] Das ist das Furchtzentrum des Gehirns, das die Regierung regelmäßig zu aktivieren versucht […] es ist beschämend.
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Meine Partei war, schon historisch betrachtet, immer progressiven Vorschlägen zugeneigt. Und jede Partei, die das versucht, hängt eben vom Austausch von Meinungen, von einer lebendigen Diskussion in der Demokratie ab. Aber wenn Logik und Vernunft in eine untergeordneteRolle gedrängt werden, läßt das eine Leere zu, die durch fundamentalistische Ideologie gefüllt wird. Das öffentliche Interesse wird dadurch gefährdet. Die Furcht wird benutzt, um die Menschen gefügig zu machen. Wenn die Amerikaner einen angemessenen Teil ihrer Zeit nutzen würden, sich mit den wahren Problemen auseinanderzusetzen, wären sie weniger anfällig für diese Furchtkampagne.
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Wir sind geradezu schockierend anfällig für Angst und Furcht. Auf den Rückzug der Vernunft folgt fast zwangsläufig der Vormarsch der Angst. Wenn Sie sich nur anschauen, wie das Weiße Haus wissenschaftliche Studien über Erderwärmung zensiert hat, ist das genau ein Beispiel dafür, wie Fragen der Fakten zu Fragen der Macht verdreht werden. Furcht ist eine effiziente Strategie.«

aus einem Stern-Interview mit Al Gore (Stern Nr. 39, 2006)
siehe: "Sogar Bush wird sich ändern" (Al Gore im Interview, Stern online, 30.09.2006)

Ich würde noch etwas weiter gehen: Man tischt Leuten Lügen auf. Das funktioniert um so besser, je mehr Angst sie haben. (Die Reflexionsfähigkeit ist umgekehrt proportional zur Angst.) Diese werden erst nach drei bis fünf Jahren im Bewußtsein der öffentlichen Meinung als Lügen erkannt. So lange braucht es, um die öffentliche Angst abnehmen zu lassen. Um die Angst aufrecht zu erhalten, benötigt man immer wieder aktuelle Katastrophen-Szenarien, die hinreichend glaubwürdig sind. (Man erinnere sich: Es gab Zeiten, in welchen in der ganzen USA Fensterspalten aus Angst vor Giftgasangriffen abgeklebt wurden. Man erinnere sich auch an die heute schon fast liebevoll wirkenden Anweisungen aus den 50er Jahren, wie man sich bei einem Atomschlag zu verhalten habe.) In dieser Zeit lassen sich Fakten schaffen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Dann braucht man noch ein oder mehrere Strohmänner, die bestraft werden. Nachdem diese "Who-dunn-it?"-Schale abgestreift ist, kann man sich ansehen, wer von der ganzen Geschichte einen Vorteil hatte. 
siehe dazu:
- Der vierte Golfkrieg (Post, 03.09.2006)
- Ich kann gar nicht so viel essen… (Post, 25.03.2006)