Montag, 12. Februar 2007

Vielleicht geht’s auch einfach

Sein Lehrer war Albert Einstein

Der Wissenschaftler Ernest Sternglass und seine verblüffenden Erkenntnisse über Gesundheit und Atomenergie. Ein Porträt

VON SEBASTIAN PFLUGBEIL

Als 14-jähriger Junge floh Ernest J. Sternglass im Jahr 1938 mit seinen Eltern aus Berlin in die USA. Der Großvater wurde von den USA abgewiesen, weil er schwerhörig war. Er starb wenig später in einem deutschen Konzentrationslager. Die Eitern von Ernest J. Sternglass waren Ärzte. Am Familientisch erfuhr Sternglass schon als Kind, dass Röntgenstrahlen in der Medizin sehr hilfreich sein können, andererseits zu großzügig angewandt – aber auch zu erheblichen Gesundheitsschäden führen könnten. Sternglass beendete in den USA die Schule und studierte Physik. Er gehört zu den wenigen Menschen, die heute noch von ihrer Begegnung mit Albert Einstein berichten können.

Das Treffen im Jahr 1947 beeindruckte ihn tief. Einstein hatte ihm klargemacht, dass niemand beeinflussen könnte, was mit seinen Entdeckungen und Erfindungen später von anderen angestellt würde. Danach war Sternglass klar, dass er sich lebenslang für die Abschaffung von Atomwaffen einsetzen würde.

Viele Jahre lang arbeitete Sternglass hei der Firma Westinghouse, die auch die meisten amerikanischen Kernkraftwerke konstruierte Von 1958 an befasste er sich aus eigenem Interesse mit den Auswirkungen des Fallouts der Atomwaffentests auf die Gesundheit, ohne aber deshalb Ärger mit der Firma Westinghouse zu bekommen. Sein Spezialgebiet bei Westinghouse war die Entwicklung bildgebender Verfahren, ein Thema, das ihm etliche Jahre später zu einer Professur an der Universität Pittsburgh verhalf. Dort nutzte er den Status und die Freiheiten eines Professors, um sich öffentlich über Atomwaffen, die Schädigungen durch den Test Fallout und auch durch den Normalbetrieb kerntechnischer Anlagen zu äußern. Seine Ausführungen hatten einen gewichtigen Anteil an der Ratifizierung des Atomwaffenteststoppabkommens durch die USA.

Die Analysen von Sternglass sind ebenso überzeugend wie umstritten. Er geht immer nach demselben Muster vor: Er besorgt sich von staatlichen Stellen veröffentlichte Angaben über den Gesundheitszustand der Bevölkerung in bestimmten Regionen und legt die ebenso offiziellen Angaben über radioaktive Verschmutzungen in diesen Regionen daneben. Er betrachtet die Veränderungen der Daten mit der Zeit und sucht Vergleiche zwischen belasteten und unbelasteten Regionen.

Komplizierte epidemiologische Analysen sind seine Sache nicht – seine Grafiken sind dafür anschaulich, man versteht sie sofort und kann sie – im Prinzip – überprüfen. Er zeigt an vielen Beispielen auf, wie sich atmosphärische Atomwaffentests in Veränderungen der Sterblichkeit, der Krebsrate und anderer Erkrankungen widerspiegeln. Dort, wo es keinen Fallout gab, bleiben diese Effekte aus. Er zeigt, dass sich nach dem Ende der Atomwaffentests in der Atmosphäre auch die Gesundheitsparameter normalisierten – dann aber in solchen Regionen wieder schlechter werden, in denen Kernkraftwerke in Betrieb gehen. Ein Beispiel dafür ist die Veränderung der Krebssterblichkeit in Connecticut zwischen 1956 und 1975. Man sieht die zunächst sinkende Krebssterblichkeit, die aber jeweils sechs Jahre nach großen Atomwaffentests wieder deutlich steigt. Sechs Jahre nach den letzten atmosphärischen Tests der Russen und Amerikaner sollte man erwarten, dass die Daten für die Krebssterblichkeit weiter sinken, stattdessen steigen sie steil an und übertreffen schnell die Auslenkungen der Daten nach den Atomwaffentests.

In diesen Jahren gingen zwei Kernkraftwerke, die KKWs Haddam und Millstone, in Betrieb, mit denen sich Sternglass sehr ausführlich befasst hat. Hört man ein solches Beispiel, mag man zunächst an die statistische Beziehung zwischen Klapperstörchen und Geburtenrate denken. Hört man weiter zu, so werden die Klapperstörche durch die umwerfende Vielfalt der konkreten Analysen gründlich vertrieben. Sternglass hat nicht nur die Daten in Zusammenhang mit den Atomproblemen der USA studiert, er befasst sich ebenso mit den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und mit den Auswirkungen der Tschernobylkatastrophe auf die Gesundheit der Menschen in verschiedenen westeuropäischen Staaten. Er machte zum Beispiel darauf aufmerksam, dass sich nach Hiroshima und Nagasaki und den Atomwaffentests die Krebsraten in ganz Japan verändert haben. An Bauchspeicheldrüsenkrebs starben vor 1945 0,3 von 100.000 Menschen. Noch 1965 sind es 3,5 von 100.000. Das heißt, fast zwölf Mal so viele. Fünf bis neunjährige japanische Jungs hatten vor 1945 eine Krebssterblichkeit von einem Prozent. 1965 lag der Wert bei 600 Prozent mehr.

Die Art des Vorgehens von Sternglass ist so überschaubar, dass er nicht auf die Bewilligung großer staatlicher Forschungsbudgets angewiesen war, er konnte die Arbeiten mit wenigen Freunden wirklich unabhängig durchführen. Die großen epidemiologischen Institute verachten sein simples Vorgehen. Sie werden von ihm vorgeführt, weil er wichtige Zusammenhänge erkennt, die sie – trotz ihrer ganzen Wissenschaft, ihrer vielen Mitarbeiter und großer Forschungsbudgets nicht erkennen konnten, wollten oder durften. Es läge auf der Hand, die Hypothesen von Sternglass mit dem großen epidemiologischen Instrumentarium zu überprüfen. Solche Studien sind uns aber nicht bekannt. Es scheint einfacher, Sternglass zu ignorieren und ihn mit gehässigen Allgemeinplätzen wissenschaftlich zu diskreditieren.

Es gibt nicht viele Wissenschaftler, die sich über einen so langen Zeitraum kontinuierlich mit der Aufklärung der Auswirkungen der Kernenergienutzung auf die Gesundheit der Bevölkerung befasst haben. Es ist empfehlenswert, seine Arbeiten und die seiner engeren Mitarbeiter und Freunde aufmerksam zu studieren. Sie sind zu einem großen Teil auf der Homepage des „Radiation and Public Health Project“ (www.radiation.org) zu finden.

Am 21. Juni 2006 sprach Sternglass auf Einladung der Gesellschaft für Strahlenschutz, der IPPNW und der Kinder von Tschernobyl (Berlin) im Ökologischen Zentrum Auferstehungskirche in Berlin. Er sah zum ersten Mal seit 1938 sein Elternhaus, seine Schule in der Sybelstraße und andere Orte in Berlin wieder, die in seiner Kindheit eine Rolle gespielt hatten.
Aus Publik-Forum 14/2006