Donnerstag, 13. März 2008

Achtsam für das Leben

Spirituelle Praktiken boomen, doch längst nicht alle machen die Menschen gesünder. Über magische Irrwege und vier Kriterien einer Spiritualität, die wirklich heilsam ist
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Von Norbert Copray


Spiritualität ist das Zauberwort unserer Zeit. Die Angebote quellen über. Von Taizé-Gottesdiensten, Meditation über meditativen Tanz bis hin zu Handauflegen, magischen Ritualen und Feuerlauf wird so gut wie alles angeboten. Die Nachfrage wächst, denn in einer Zeit zunehmender Unsicherheit und Unübersichtlichkeit ist die Sehnsucht nach emotionaler Selbstvergewisserung groß. In der Tat kann Spiritualität die Achtsamkeit für die verschiedenen Dimensionen des Lebens verstärken und diese sogar überschreiten, also transzendieren. Viele Menschen spüren neue Gefühle und eine neuen Ebene des Denkens und Erlebens. Spiritualität kann so bei der Bewältigung des Lebens helfen. Sie vermittelt inneren Frieden und eine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen und mit der Natur.

Allerdings gibt es keine Spiritualität an sich, sondern unterschiedliche Wege und Formen. Doch die Breite der Angebote und Fachbegriffe darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Begriff Spiritualität missbraucht wird und dass es Fehlformen von Spiritualität gibt, die schwerwiegende Folgen haben können.

Besonders groß ist der Missbrauch des Spirituellen derzeit im Marketing. Der Kauf einer Ware wird überhöht zum Erlebnis. Es werden Mythen erfunden und Werbekulte geschaffen. Dabei geht es nicht darum, dass die Seife reinigt, sondern dass sie der Haut schmeichelt und das Lebensgefühl hebt. Die Werbewelt kennt die Sehnsucht nach emotionaler Zufuhr vieler Menschen als Ersatz für ein entleertes und ausgebranntes Innenleben – und die Werbewelt nutzt diese Sehnsucht. Spiritualität dient der Überhöhung: Die Ware wird zum Fetisch.


Spiritualität als Mogelpackung

In einem solchen Fall kann man von Pseudospiritualität sprechen: Es steht Spiritualität drauf, sie ist aber nicht drin. Spiritualität als Mogelpackung. Dazu zählen auch Wahrsagerei, Pendeltechniken, viele Bewusstseinsseminare und mancherlei Managerkurse. Dazu gehören Extremsportarten, die den Kick bringen sollen: oder Theorien, die aus der Unterscheidung von rechter und linker Gehirnhälfte eine Erlösungsideologie für fast alle Probleme des Lebens machen.

Zu dieser Form von Pseudospiritualität gehören auch die Suche nach dem Gral, sogenannte Mvthopraktiken (die Beeinflussung von Naturgottheiten durch magische Rituale), ideologisch überhöhte Formen der Homöopathie, Reiki (Handauflegen), indianische Schwitzhütten, Feuerlauf Edelsteinmagie, europäisches Tantra, Channeling (Empfang und Weitergabe von übernatürlichen Botschaften), Spiritismus, Aura Soma (kosmetische Produkte sollen eine ganzheitliche Seelentherapie bewirken) oder manche Formen der Lichttherapie.

Gemeinsam ist diesen pseudospirituellen Praktiken, dass überall das Zauberwort »Magie« auftaucht, Viele, die solche Formen von Spiritualität praktizieren, werden sagen: Was ist das Problem, wenn es mir hilft? Doch das greift zu kurz, Denn: Das Bedürfnis nach außergewöhnlichen Erfahrungen wird hier auf bestimmte Objekte und Prozesse geleitet, denen ein quasi heiliger Status zugesprochen wird. Bewusstseinserweiternde Erlebnisse, das natürliche Bedürfnis nach Entgrenzung und die Übersteigung des Alltäglichen werden miteinander verbunden, um das Besondere zu erfahren. Dies heißt nichts anderes als: zu erfahren, selbst etwas Besonderes zu sein. Wer sich in diesen Praktiken verliert, kann – wie Erfahrungen zeigen – krank werden und den Kontakt zur Umwelt verlieren.


Gefährlicher Narzissmus

Dazu kommen neurotische Formen von Spiritualität. Sie treten dann auf, wenn »spirituelle« Menschen in, hinter und über allem ihr eigenes großes Selbst erblicken oder erblicken müssen. Hier wird eine zunächst gesunde Selbstliebe (Narzissmus) pathologisch aufgebläht. Diese Spiritualität kreist nur um das eigene Selbst. Sie ist denn auch das Gegenteil von christlicher Spiritualität, die gerade dazu auffordert, sich nicht auf das eigene Leben zu fixieren – weil man es dann verliert.

Doch in manchen spirituellen Szenen wird der Narzissmus geradezu kultiviert. Ständig ist vom Selbst die Rede, das es zu entdecken gelte und mit dem man in eine harmonische Beziehung treten müsse. Dies kann narzisstisch bedürftige Menschen in eine pathologische Spiritualität verwickeln. Was die Menschen zeigen, ist ihre Selbstbeschädigung, ist die Verletzung ihres Selbst, ihr Mangel an Selbst(-Bewusstsein). Die Bewältigung dieser belastenden Situation besteht jedoch nicht darin, einen Selbst-Kult zu entwickeln und ihn Spiritualität zu nennen. Hier wäre eher psychotherapeutische Arbeit im Sinne des Dreischritts »Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten« vonnöten, um spirituelle Kompetenz überhaupt erst zu erwerben.

Des Weiteren gibt es die psychotische Spiritualität. Eindrückliches Beispiel ist der Satanismus, die Verehrung des Teufels beziehungsweise des Bösen. Da setzt ein religiöser und politischer Fanatismus ein, der auch in den Religionen und Kirchen auftaucht. Aus der Unfähigkeit, die natürlichen Grenzen des Lebens und Beschränkungen des Denkens anzuerkennen, wird eine Tugend gemacht. Menschen, die solche oder ähnliche Spiritualitätsformen praktizieren, verlieren häufig die Bodenhaftung, finden sich in ihrer Umwelt immer schlechter zurecht, werden an sich und an anderen irre – und erheben dann die Verrücktheit zum Lebensprinzip. Oft werden solche Formen von Spiritualität von Einzelnen oder kleinen Kadergruppen inszeniert, die sie für Macht, Sex und Profit ausnutzen.

Wer sich von bösen Mächten, von Dämonen und Teufeln, von zu beschwörenden Kräften, denen geopfert werden muss, umstellt sieht und auf diese mit Spiritualität »reagieren« zu müssen glaubt, lebt eine spirituelle Neurose oder wird durch solch einen Glauben neurotisiert. Da wird Spiritualität zum Ausdruck von Zwang – und damit zum Gegenteil dessen, wozu sie Jesus und auch Buddha – bestimmt haben: nämlich zur Befreiung von Zwängen, zum Loslassen jeglicher Wahnvorstellungen und Konflikte, zur Auslöschung der Dämonen.

So ist es irreführend, Spiritualität von vornherein mit Gesundheit oder einer gesund machenden Lebensform gleichzusetzen. Viele Angebote treten mit spirituellem Anspruch auf, sogar mit therapeutisch-spirituellem Anspruch. Sie finden viele Anhänger – und können doch krank und abhängig machen, bedienen nur die Begierde nach der schnellen Verfügbarkeit von Gesundheit und Vollkommenheit, anstatt das Bewusstsein dafür zu bahnen oder wachzuhalten, dass zum Leben stets Einschränkungen und Begrenzungen zählen.


Norbert Copray
________________________ist Theologe, Psychotherapeut und geschäftsführender Direktor der Fairness-Stiftung in Frankfurt Er verantwortet das Buchlektorat von Publik Forum und ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher.


Spiritualität, die wirklich hilft


Spätestens jetzt stellt sich die Frage: Gibt es Kriterien für eine menschlich verantwortbare Spiritualität? Zunächst: Spiritualität in stets ein Suchprozess. Sie ist Auseinandersetzung mit Erfahrung, mit Irrtum, Glaube, Gewissheit und Gefährdung. Sie ist ständiges Wagen und Wägen, befindet sich stets auf der Grenze von wilder und zivilisierter Religion. Daher gehören zur Spiritualität Fehl- und Mangelformen, Umbrüche und vielerlei Versuche. Wer nicht sucht, wird auch das Gute nicht finden und behalten können. Wer jedoch die angeblich reine, unverdächtige, dogmengerechte Spiritualität will, macht der Spiritualität letztlich den Garaus, Schaut man auf die Geschichte des Christentums, so erscheinen vier Kriterien für eine »gesunde« Spiritualität hilfreich und verlässlich:

1. Heilsamkeit: Der Mensch als Mängelwesen und als verletztes Kind kommt zur Ruhe, findet zu sich selbst, zentriert sich, setzt sich in Beziehung zu sich selbst, lässt sich von anderen Menschen ansprechen, berühren und seine Verletzungen beruhigen, entwickelt Durchstehvermögen in Krisen, verliert die Angst um sich selbst. Die Gefahren dabei sind: Selbstgenügsamkeit, Isolation, kultureller Autismus, Verklärung von Krankheit, Spiritualität als Heilungsersatz, Verwechslung von Therapie und Spiritualität; dauerhafte Kuschelnischen, Hass auf jene, die den eigenen Weg nicht teilen.

2. Entfaltung: Es geht darum, die Anlagen und Potenziale im Menschen, in der Schöpfung und in der Geistigkeit des Lebens zu entdecken, die Fülle des Lebens wahrzunehmen und ihr zum Ausdruck zu verhelfen. Das heißt: sich von der Fülle des Lebens berühren zu lassen: ein kommunikatives Leben zu führen, um sich darin auch selbst zu entfalten: kreativ zu leben, Ideenreichtum zu entwickeln und Zeiten der Muße zuzulassen. Risiken gibt es dabei allerdings auch: übersteigerte Formen der Kreativität bis hin zum »Schöpfungswahn«, das Aufgehen in einer Gruppe, Sektenmentalität, Gehorsamsbereitschaft ohne Bereitschaft zum Widerspruch.

3. Bewahrung: Der spirituelle Mensch sieht die Zufälligkeit des Lebens, ohne deswegen die Chancen der Lebenserhaltung zu vertun. Er sucht Geborgenheit, findet sie und gibt sie weiter; er schafft in der Gesellschaft Biotope und Oasen gegen die Todeswüsten, er setzt sich konstruktiv mit der Erfahrung auseinander, dass die Welt zufällig und begrenzt ist; er stillt sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit; er gibt anderen Heimat. Doch auch hier lauern Fehlformen: Stillstand und Versenkung als Versteck, weil man Angst vor dem Tod hat und vor jeglicher Bedrohung; es werden apokalyptische Bilder geschürt, um das eigene Seelenheil gegen das körperliche Heil und das Heil der Schöpfung auszuspielen; es entsteht ein Heimat-Wahn.

4. Befreiung: Dieses Kriterium entspricht der Sehnsucht des Menschen und der Schöpfung nach Freiheit. Selbstbestimmung und Eigenwert werden anerkannt und im Alltagsleben ermöglicht. Aktion und Kontemplation werden nicht als Gegensätze in der Spiritualität verstanden, sondern als zwei notwendige Dimensionen, damit Spiritualität ganzheitlich wird. Im schlechtesten Fall führt diese Haltung zur Abkehr von einer ganzheitlichen Sicht und zu einer Verabsolutierung bestimmter Befreiungswege, die dann religiös überhöht werden; zur Vortäuschung geistiger Freiheit und Andersheit bei gleichzeitigem totalitären Autoritarismus; oder zur Entfremdung von der Welt, zu Illusion und Anarchie.

Leicht werden wie ein Schmetterling: Heilsame Spiritualität kann befreien

Die Heilsamkeit einer spirituellen Lebensweise ist ein ganz entscheidender Maßstab für eine menschlich verantwortbare Spiritualität. Spiritualität, die nicht zur Gesundheit des Menschen beiträgt, verdient diesen Namen nicht. Zur Gesundheit gehören nicht nur das körperliche und das seelische Wohlbefinden, sondern auch die soziale und politische Gesundwerdung. Insofern sind der Befreiungs- und der Entfaltungsaspekt einer verantwortbaren Spiritualität eng mit dem Heilsamkeitsaspekt verbunden. Wo das Leben als begrenzt erfahren wird und Tränen ohne Ende fließen oder fließen könnten, ist die spirituelle Lebensform die therapeutisch wirksame Bewältigung dieser Erfahrung. Spiritualität geht dabei über die Psychotherapie hinaus und bewirkt eine tiefere Einsicht in die Existenzbedingungen des Menschen und in das Sein des Kosmos.

Das muss nicht zwangsläufig zu einer Versöhnung mit der Welt führen. Weder Jesus noch Buddha erklärten sich aufgrund ihrer spirituellen Lebensform einfachhin mit dem Zustand der Welt und der menschlichen Existenz einverstanden. Im Gegenteil! Beide fanden die Einsicht und die Kraft, Perspektiven für eine Erlösung beziehungsweise eine Erlöschung des Leidens in und an der Welt zu entwickeln. Doch sie wurden dadurch weder zu Politikern noch zu Medizinmännern. Vielmehr wurde ihre spirituelle Erfahrung zur Schlüsselerfahrung für viele andere Menschen, die in ihr eine Perspektive für den Umgang mit der metaphysischen Dimension des Leidens und der Angst sahen und sie deshalb zum Ausgangspunkt einer neuen Religion für alle erklärten •


Vier Formen der Spiritualität

In der Geschichte des Christentums haben sich vier Grundformen gelebter Spiritualität ausgebildet. Zusammen ergeben sie eine Vollgestalt christlicher Spiritualität:

• Da ist die mystische Dimension – klassisch Via negativa, der negative Weg, genannt. Hier wagt es der Mensch, sich dem Dunkel des Lebens auszusetzen, leer zu werden, um erfüllt zu werden. Mystiker, Beter und Schamanen stehen für diesen Weg.

• Da ist die ästhetische Dimension – traditionell Via positiva, der positive Weg, genannt. Hier geht es darum, hinter die Oberfläche der Dinge zu schauen, wahrzunehmen, was die Welt im Innersten zusammenhält und verbindet. Von dieser Dimension der Spiritualität lassen sich vor allem seherisch begabte und empfindungsstarke Menschen faszinieren.

• Da ist die praktische Dimension – die Via creativa, der kreative Weg. Er entgeht vielen Menschen, weil sie zum Beispiel Künstler, Dichterinnen oder Gärtnerinnen nicht als spirituelle Gestalten verstehen können, die durch ihren Ideenreichtum und ihre kreative Arbeit spirituell
leben.

• Und schließlich ist da die ethische Dimension – die Via transformativa, der transformierte Weg. Er wird von Propheten, Kämpfenden und Protestierenden gegangen, indem sie sich den Bedürftigen zuwenden und sich dort engagieren, wo sie sich angefragt und gefordert fühlen. • Norbert Copray

aus Publik-Forum 1•2008


Eine der Geschichten, die hier von Nansen (Nanch’üan P’u-yüan, 748 – 834) berichtet wird, erklärt treffend die Haltung eines Meisters dem Leben gegenüber und gibt uns selbst heute noch ein gutes Beispiel, das uns Zen-Leben lehrt. Ich liebe diese Geschichte sehr und empfehle den Lesern, gerade diese beim ZenStudium im Gedächtnis zu behalten.

Als Nansen auf dem Feld arbeitete und Gras mit seinen Manchen schnitt, fragte ihn ein vorbeikommender Mönch: »Wo geht der Weg zum Nansen-Kloster?« Der Wandernde wußte natürlich nicht, daß der Mann, den er fragte, der Meister Nansen selbst war. Dieser hielt seine Sichel lässig hoch und sagte: »Ich zahlte 30 Geldmünzen dafür!«, als ob er die Frage des Mönches nicht gehört hätte. Es muß nicht betont werden, daß der Meister vom Nansen-Kloster genau wußte, was der Wanderer hören wollte, aber er wollte ihm vor allem klarmachen, daß die Beschäftigung mit Zen keine Anhäufung von abstrakten Kenntnissen ist oder Erfahrung auf den Abwegen philosophischer Gespräche bedeutet. Zen ist praktisches Leben in diesem Augenblick. Deshalb führt der Pfad zum Nansen-Kloster nicht über philosophisches Verständnis, sondern über die Wirklichkeit der Sichel in der Hand.

Wir können voraussetzen, daß der wandernde Mönch keineswegs ein Zen-Anfänger war, sondern schon über bestimmte Erfahrungen verfügte. Deshalb wollte er hören, was Nansen weiter sagen würde, und fuhr fort: »Ich habe nicht nach dem Preis deines Werkzeuges gefragt, ich wollte den Weg zu Nansen erfahren.« Erneut überging der Meister offensichtlich die Frage, zumindest im wörtlichen Sinn, und sagte: »Sie schneidet sehr gut.«

Daisetz T. Suzuki in der Einführung zu Zenkei Shibayama, Zen in Gleichnis und Bild, O.W. Barth Verlag 2000, S. 11f.