Dienstag, 20. Mai 2008

Verwahrlosung als gesellschaftliches Symptom

Auf den ersten Blick mag überraschen, dass es doch immer wieder Fälle von extremer Verwahrlosung gibt in einer Gesellschaft mit so großem materiellen Reichtum und dem Anspruch, Sozialstaat zu sein. Beim Nachdenken über die Ursachen wird deutlich, dass von Verwahrlosung vor allem diejenigen betroffen sind, die besonders auf die Fürsorge anderer angewiesen sind: Kinder, psychisch Kranke, Arme und Alte. Wie kann das sein bei der Vielzahl von Einrichtungen und Institutionen, die sich um die Problemfälle in der Gesellschaft kümmern sollen? Es greift zu kurz, wenn Politiker und Bevölkerung die Ursachen entweder in organisatorischen Mängeln, die nach jeder Katastrophenmeldung beklagt werden und deren umgehende Behebung dann versprochen wird, oder in individuellem Versagen sehen.

Verwahrlosung ist Symptom für grundsätzliche Defizite in unserer Gesellschaft und die jüngsten Extremfälle sind nur die Spitze eines Eisbergs. Verwahrlosung ist immer Folge eines Mangels an Fürsorge, und diese wiederum ist an persönliche Beziehung gebunden. Der Charakter vieler zwischenmenschlichen Bindungen ist in unserer nach ökonomischen Maximen funktionierenden Gesellschaft einem schleichenden Wandel unterworfen.
Wir alle erfahren mehr und mehr: Beziehungen stehen dann nicht hoch im Kurs, wenn sie nicht direkt und kurzfristig absehbar zu ökonomisch messbaren Erfolgen führen – nicht zufällig spielen die von Verwahrlosung am ehesten Betroffenen im materiellen Wertschöpfungsprozess keine oder nur eine geringe Rolle. Es ist die zunehmende Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche, der sowohl der Einzelne in seinen Beziehungen als auch gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen ausgesetzt sind: Erfolg wird definiert als möglichst direkt und kurzfristig – erzielbarer materieller Gewinn.

Solch kurzfristige Erfolge lassen sich in den Bereichen, die für die Prävention von Verwahrlosung relevant sind, nicht erreichen; solange dieses kurzfristige Denken aber vorherrscht, werden notwendige Schritte nicht getan.

So machen sich die Investitionen – auch ein der Ökonomie entliehener Begriff – in eine qualifizierte Betreuung von Eltern mit besonderen Erziehungsschwierigkeiten erst nach Jahren oder Jahrzehnten bezahlt im wahrsten Sinne des Wortes, indem sie ein Vielfaches an Folgekosten für Krankheit, Verhaltensauffälligkeit und Kriminalität ersparen allerdings tragen de von Anfang an zu einem menschlicheren Leben bei.

Dasselbe gilt für den Bereich der Kindergartenerziehung, der Vorbereitung und Unterstützung von Eltern für ihre Erziehungsaufgabe; es gilt auch für die Schulen und die Qualifikation der Pädagogen: Auch hier wird die Bedeutung der persönlichen Beziehung und Zuwendung unterschätzt; Lehrer sind leider zu wenig motiviert und ausgebildet, um sich selbstverständlich um die seelische Entwicklung der ihnen anvertrauten Schüler zu kümmern.

Gespart wird im Gesundheitswesen vor allem an den Kosten für persönliche Zuwendung: In den Krankenhäusern werden die Personalkosten gesenkt, die Zeit für die Patienten wird extrem rationiert, die zuwendungsintensive (sog. sprechende) Medizin wird am schlechtesten bezahlt. Mit Apparaten und Medikamenten, allzu häufig als Alternative zum Gespräch verschrieben und eingenommen, kann mehr und schnell Geld verdient werden – die später zu bezahlenden Zuwendungsversäumniskosten werden in keiner Bilanz aufgeführt.

In die psychotherapeutischen Praxen kommen mehr und mehr Menschen, die unter Zuwendungsmangel und deren Folgen leiden, die Entwicklungsdefizite aufweisen aufgrund fehlender emotionaler Nähe und Geborgenheit – und de dennoch oft lange im Leben äußerlich funktioniert haben. Als letztes sei der Bereich der Altenpflege erwähnt: Hier wird besonders deutlich, dass die Menschlichkeit auf der Strecke bleiben muss, wenn die Ökonomie absoluten Vorrang hat.

In allen Bereichen kann man von einer schleichenden Verwahrlosung sprechen: Während die Extremfälle Empörung hervorrufen, werden die Vorstufen hingenommen, oft mit Hinweis auf oder im Glauben an vermeintliche Sachzwänge, hinter denen sich letztlich Werteentscheidungen verbergen. Während man von privaten Investoren nicht unbedingt erwarten darf, dass sie sich von sich aus der Humanität verpflichtet fühlen, sind Politiker dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet; dazu gehört, sich auch für solche Investitionen einzusetzen, deren präventive
Wirkung sich in der Regel erst nach mehreren Legislaturperioden entfaltet. Da lassen es die meisten doch an Einsicht und Mut fehlen.

Auch im privaten Leben der Menschen sind diese Tendenzen zu beobachten: Eltern haben immer weniger Zeit für ihre Kinder, Zweierbeziehungen werden nach den Vorgaben und Angeboten der Event- und Spaßgesellschaft gestaltet. Dabei wünschen sich viele einen verantwortungsvollen und fürsorglichen Umgang miteinander.

Sich der Tendenz der Ökonomisierung entgegenzusetzen fällt deshalb schwer, weil das Verführungspotenzial groß ist. Wir alle sind in Gefahr, die Prinzipien, nach denen die Wirtschaft „funktioniert“, zu verinnerlichen: Wir lernen, psychoökonomisch zu denken und zu fühlen, um an den angebotenen „Werten“ teilzuhaben: Spaß, Größe, Schönheit, Jugendlichkeit, Reichtum und vor allem Konsum. Wer da nicht mithalten kann oder will, muss mit Entwertung und Ausgrenzung rechnen – auch das können Vorstufen von Verwahrlosung sein.

Diese angebotenen Werte sind zum großen Teil antisozial; das bedeutet, dass sie kaum Beziehungen und Solidarität, sondern Konkurrenz fördern. Gemeinsamkeit erschöpft sich allzu häufig in Konsum, wobei die Inhalte beliebig und austauschbar werden (Extrembeispiel: k.o.-Trinken). So gehen Jugendliche immer mehr solchen Freizeitbeschäftigungen, die vereinzelt und tendenziell passiv erfahren werden, leben in einer virtuellen Fernseh- und Internetwelt konkrete Beziehungserfahrungen, soziales Engagement und hilfreiche Konfrontation mit der Realität bleiben auf der Strecke.

Fernseher und PC bieten den Kindern zwar Beschäftigung, die jedoch häufig zu gedanklicher Verwahrlosung führt. Besonders Eltern und Erziehern fällt es schwer, diesen Verführungen der Freizeitindustrie etwas entgegenzusetzen und die Kinder und Jugendlichen aktiv zu lenken, denn das ist mit großem persönlichem Engagement und Zeitaufwand verbunden: Man muss sich auf Beziehungen einlassen, alternative Ziele und Werte müssen aktiv vertreten werden. Was muss geschehen? Die besonders Betroffenen können sich allein nicht wehren, sie bedürfen der Solidarität derjenigen, die die Unterordnung ihrer beruflichen Tätigkeit, z.B. als Ärzte, Lehrer, Pfleger, Sozialarbeiter, Erzieher – die Eltern mit eingeschlossen – unter die Vorherrschaft der Ökonomie und des Profits als Anzeichen einer inhumanen Beziehungskultur erkennen und nicht deren Sachwalter werden wollen.

Wenn insgesamt das Bewusstsein über den Zusammenhang zwischen der Ökonomisierung vieler Lebensbereiche und der Tendenz zu Bind ungslosigkeit und schleichender Verwahrlosung wächst und dieses Wissen mit ihrer Erfahrung über den Verlust an Menschlichkeit in Beziehung gebracht wird, werden verantwortungsvolle Bürger zur Verbesserung der Verhältnisse beitragen und eine Kultur der Sorge und Fürsorge schaffen. Sie werden das umso engagierter tun, je klarer wird, dass früher oder später alle unter den Folgen von Verwahrlosung leiden werden.

Quelle: Meinhard Korte, Rundbrief des vhvp (bvvp-Landesverband Hessen), 18.12.07, übenommen aus dem Rundbrief des bvvp Niedersachsen