Mittwoch, 2. Juli 2008

Kolportierte Fehler

Irren ist (auch) ärztlich

MYTHOS UND WAHRHEIT – Was Mediziner alles für möglich halten

Viel Eisen ist im Spinat – das ist wohl das Paradebeispiel für einen Irrtum, der durch stete Wiederholung zur vermeintlichen Wahrheit wurde. Der Physiologe Gustav von Bunge hatte korrekt den Eisengehalt von 100 Gramm Spinat mit 35 Milligramm bestimmt. Allerdings hatte er getrockneten Spinat untersucht, der zehnmal so viel Eisen enthält wie die gleiche Menge des frischen Krautes.

Mediziner sitzen aber noch anderen Irrtümern auf. Dies behaupten jedenfalls Rachel Vreeman von der Indiana University School of Medicine und Prof. Aaron E. Carroll, Kinderarzt am Regenstrief Institute aus Indianapolis. Sie haben vermeintliche Fakten unter die Lupe genommen. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscher im „British Medical Journal“. „Uns hat es richtig angefeuert, dass auch Ärzte diese Mythen glauben und sie an ihre Patienten weitergeben“, schreibt Aaron Carroll. „Wann immer wir mit Medizinern darüber gesprochen haben, waren sie überrascht, dass diese Dinge gar nicht wahr sind“, bestätigt Rachel Vreeman. Eine Auswahl der Legenden:

• Lesen bei schummrigem Licht ist schädlich
Falsch! „Es stimmt nicht, dass Lesen bei schummrigem Licht schädlich für die Augen ist“, schreiben Vreeman und Carroll. Pakt sei nur, dass schummriges Licht die Augen mehr anstrenge als helles. Das Fokussieren sei anstrengender, und da wir im Dämmerlicht seltener blinzeln, werde der Augapfel trockener. Das, so die Forscher, führe wiederum zu einem verstärkten Müdigkeitsempfinden, heißt aber noch lange nicht, dass das Lesen bei schummrigem Licht auch schädlich ist“, so die Forscher.

• Man sollte täglich mindestens 2,5l Wasser trinken
Falsch! Acht Gläser Wasser – oder mindestens zwei Liter Flüssigkeit am Tag – das empfehlen Ärzte – ihren Patienten immer wieder. „Wir haben diesen Glauben überprüft und fanden keine medizinische Begründung dafür, dass der Körper so viel Wasser benötigt“, sagt Rachel Vreeman. „Vermutlich beruht diese Empfehlung auf einer Aussage, die 1945 in Umlauf gebracht wurde. Darin heißt es, dass man für jede Kalorie, die man zu sich nimmt, einen Milliliter Flüssigkeit trinken soll.“ Doch diese Angaben stimmten nicht, das habe eine große Studie im „American Journal of Physiology“ gezeigt. Je nach körperlicher Leistung müsse mal mehr, mal weniger getrunken werden. Normalerweise sei aber in Säften, Milch, Kaffee, Tee sowie Obst und Gemüse genügend Flüssigkeit enthalten.

• Wir nutzen nur zehn Prozent unserer Hirnmasse
Falsch! Dieses Gerücht halte sich erstaunlich gut trotz moderner Hirnaktivitätsmessungen, so Vreeman und Carroll. Mithilfe moderner Bildgebungsverfahren kann man diesem Mythos leicht auf die Schliche kommen. Funktionelle Hirnscans beweisen, dass es keine „schlafenden“ Gehirnareale gibt. Auch einzelne Nervenzellen kommen bei gesunden Menschen nicht dauerhaft zur Ruhe. Rachel Vreeman und Aaron Carroll glauben, dass dieser Mythos vermutlich auf Geschäftemacher zurückgeht, die Menschen davon überzeugen wollten, dass sie ihr Potenzial noch nicht voll ausschöpfen – und gleichzeitig teure Methoden anpriesen, ungenutzte Kapazitäten zu aktivieren.

• Nach dem Tod wachsen Fingernägel und Haare weiter
Falsch! „Dass es manchmal so aussieht, als würden Haare und Fingernägel von Toten weiter wachsen, liegt an einem einfachen physikalischen Phänomen“, so die Forscher. „Die Dehydratation des Körpers nach dem Tod hat womöglich zur Folge, dass sich die Haut um Haare oder Fingernägel zurückzieht.“ Der Kontrast zwischen geschrumpfter Haut und Nageln oder Haaren kann den Eindruck erwecken, diese seien länger geworden. Alexa Fuchswinkel

aus Ärztliche Praxis vom 24. Juni 2008

Zu Punkt drei könnte man einwenden, daß der Kalorienverbrauch nur schwerlich eine Aussage über die Qualität der damit verbundenen Beschäftigung zuläßt. Wenn ich meine Energie ein halbes Jahr lang im Bordell lasse statt mein Hochschulstudium abzuschließen, ist die Aussage, ich nützte mein Potential nicht, doch wahrscheinlich zulässig (ich will das hier nicht weiter vertiefen). Aber die Tatsache, daß alle Neuronen am Feuern sind, bedeutet noch lange nicht, daß sie damit ihr Potential ausschöpfen. Wenn sich manche meiner Patienten von morgens bis abends klarmachen – manchmal auch noch in der Nacht –, wie wenig sie doch in ihrem Leben erreicht haben, wie wenig attraktiv oder wert sie sind oder auch wie wenig von ihrem Potential sie mal wieder in den letzten Tagen gelebt haben, dann kann man sehr wohl sagen, daß sie ihr Potential nicht ausschöpfen, egal, ob sie dies mit brachliegenden Hirnarealen oder mit überall feuernden fertiggebracht haben. Also: mit den bildgebenden Verfahren ist das so eine Sache…