Dienstag, 22. Dezember 2009

Geburt Christi

Hättest du der Einfalt nicht, wie sollte
dir geschehn, was jetzt die Nacht erhellt?
Sieh’, der Gott, der über Völkern grollte,
macht sich mild und kommt in dir zur Welt.

Hast du dir ihn größer vorgestellt?

Was ist Größe? Quer durch alle Maße,
die er durchstreicht, geht sein grades Los.
Selbst ein Stern hat keine solche Straße.
Siehst du, diese Könige sind groß,

und sie schleppen dir vor deinen Schoß

Schätze, die sie für die größten halten,
und du staunst vielleicht bei dieser Gift –:
aber schau in deines Tuches Falten,
wie er jetzt schon alles übertrifft.

Aller Amber, den man weit verschifft,

jeder Goldschmuck und das Luftgewürze,
das sich grübend in die Sinne streut:
alles dieses war von rascher Kürze,
und am Ende hat man es bereut.

Aber (du wirst sehen): Er erfreut.

aus: Das Marien-Leben, 1912
Rainer Maria Rilke

Die drei dunklen Könige

von Wolfgang Borchert

Er tappte durch die dunkle Vorstadt. Die Häuser standen abgebrochen gegen den Himmel. Der Mond fehlte, und das Pflaster war erschrocken über den späten Schritt. Dann fand er eine alte Planke. Da trat er mit dem Fuß gegen, bis eine Latte morsch aufseufzte und losbrach. Das Holz roch mürbe und süß. Durch die dunkle Vorstadt tappte er zurück. Sterne waren nicht da.

Als er die Tür aufmachte (sie weinte dabei, die Tür), sahen ihm die blaßblauen Augen seiner Frau entgegn. Sie kamen aus einem müden Gesicht. Ihr Atem hing weiß im Zimmer, so kalt war es. Er beugte sein knochiges Knie und brach das Holz. Das Holz seufzte. Dann roch es mürbe und süß ringsum. Er hielt sich ein Stück davon unter die Nase. Riecht beinahe wie Kuchen, lachte er leise. Nicht, sagten die Augen der Frau, nicht lachen. Er schläft.

Der Mann legte das süße, mürbe Holz in den kleinen Blechofen. Da glomm es auf und warf eine Handvoll warmes Licht durch das Zimmer. Die fiel hell auf ein winziges rundes Gesicht und blieb einen Augenblick. Das Gesicht war erst eine Stunde alt, aber es hatte schon alles, was dazu gehört: Ohren, Nase, Mund und Augen. Die Augen mußten groß sein, das konnte man sehen, obgleich sie zu waren. Aber der Mund war offen, und es pustete leise daraus. Nase und Ohren waren rot. Er lebt, dachte die Mutter. Und das kleine Gesicht schlief.

Da sind noch Haferflocken, sagte der Mann. Ja, antwortete die Frau, das ist gut. Es ist kalt. Der Mann nahm noch von dem süßen, weichen Holz. Nun hat sie ihr Kind gekriegt und muß frieren, dachte er. Aber er hatte keinen, dem er dafür die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte. Als er die Ofentür aufmachte, fiel wieder eine Handvoll Licht über das schlafende Gesicht. Die Frau sagte leise: Kuck, wie ein Heiligenschein, siehst du? Heiligenschein! dachte er, und er hatte keinen, dem er die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte.

Dann waren welche an der Tür. Wir sahen das Licht, sagten sie, vom Fenster. Wir wollen uns zehn Minuten hinsetzten. Aber wir haben ein Kind, sagte der Mann zu ihnen. Da sagten sie nichts weiter, aber sie kamen doch ins Zimmer, stießen Nebel aus den Nasen und hoben die Füße hoch. Wir sind ganz leise, flüsterten sie und hoben die Füße hoch. Dann fiel das Licht auf sie. Drei waren es. In drei alten Uniformen. Einer hatte einen Pappkarton, einer einen Sack. Und der dritte hatte keine Hände. Erfroren, sagte er, und hielt die Stümpfe hoch. Dann drehte er dem Mann die Manteltaschen hin. Tabak war drin und dünnes Papier. Sie drehten Zigaretten. Aber die Frau sagte: Nicht, das Kind. Da gingen die vier vor die Tür, und ihre Zigaretten waren vier Punkte in der Nacht. Der eine hatte dicke umwickelte Füße. Er nahm ein Stück Holz aus einem Sack. Ein Esel, sagte er, ich habe sieben Monate daran geschnitzt. Für das Kind. Das sagte er und gab es dem Mann. Was ist mit den Füßen? fragte der Mann. Wasser, sagte der Eselschnitzer,, vom Hunger. Und der andere, der dritte? fragte der Mann und befühlte im Dunkeln den Esel. Der dritte zitterte in seiner Uniform: Oh, nichts, wisperte er, da sind nur die Nerven. Man hat eben zuviel Angst gehabt. Dann traten sie die Zigaretten aus und gingen wieder hinein.

Sie hoben die Füße hoch und sahen auf das kleine schlafende Gesicht. Der Zitternde nahm aus seinem Pappkarton zwei gelbe Bonbons und sagte dazu: Für die Frau sind die.

Die Frau machte die blassen Augen weit auf, als sie die drei Dunkeln über das gebeugt sah. Sie fürchtete sich. Aber da stemmte das Kind seine Beine gegen ihre Brust und schrie so kräftig, daß die drei Dunklen die Füße aufhoben und zur Tür schlichen. Hier nickten sie nochmal, dann stiegen sie in die Nacht hinein.

Der Mann sah ihnen nach. Sonderbare Heilige, sagte er zu seiner Frau. Dann machte er die Tür zu. Schöne Heilige sind das, brummte er, und sah nach den Haferflocken. Aber er hatte kein Gesicht für seine Fäuste.

Aber das Kind hat geschrien, flüsterte die Frau, ganz stark hat es geschrien. Da sind sie gegangen. Kuck mal, wie lebendig es ist, sagte sie stolz. Das Gesicht machte den Mund auf und schrie.
Weint er? fragte der Mann.

Nein, ich glaube, er lacht, antwortete die Frau.

Beinahe wie Kuchen, sagte der Mann und roch an dem Holz, wie Kuchen. Ganz süß.

Heute ist ja auch Weihnachten, sagte die Frau.

Ja, Weihnachten, brummte er, und vom Ofen her fiel eine Handvoll Licht auf das kleine schlafende Gesicht.

Die Weihnachtsgans

von Marie Branowitzer-Rodler

In einem Vorort von Flensburg lebten in der hungrigen Zeit nach dem Krieg zwei nette alte Frauen. Damals war es noch bannig schwer, für Weihnachten einen Festbraten zu kriegen. Nun hatte aber eine der beiden Frauen die Möglichkeit, bei einem Bauern für Zeug eine magere aber springlebendige Gans umzutauschen. In einem Korb verpackt, brachte Fräulein Agathe das Tier nach Hause. Und sofort fingen sie und ihre Schwester an, auf die Gans aufzupassen und sie zu mästen.
Die beiden Frauen hatten eine Wohnung zur Miete im zweiten Stock. Und keiner im Haus wußte, daß in einer der Stuben der Schwestern ein Federvieh hauste, das verwöhnt, gefüttert und großzügig aufgezogen wurde. Agathe und Emma nahmen sich vor, keinem Menschen etwas davon zu sagen. Und das aus zwei Gründen: erstens gibt es neidische Leute, die sich keine Gans leisten konnten, und zweitens wollten die Frauen um nichts in der Welt die Gans, wenn sie dick und fett und fein gebraten ist, mit näheren Verwandten teilen. Darum hatten die beiden in den sechs Wochen bis zu dem 24. Dezember auch keinen Besuch mehr. Sie lebten nun bloß noch für die Gans.
Und so kam dann der Morgen des 23. Dezember heran. Es war ein klarer, feiner Wintertag. Die ahnungslose Gans stolzierte vergnügt herum – ihren Korb in der Küche nahe der Schlafstube der beiden Schwestern – und war ordentlich am Schnattern. Die beiden Frauen mochten sich nicht anschauen. Nicht, daß sie böse aufeinander waren, das natürlich nicht. Nein, nun war die Frage, wer die Gans schlachten sollte.

„Das tust du!“ sagte Agathe, stand vom Bett auf, zog sich schnell an, nahm den Kuhkopf-Korb, ließ ihre schimpfende Schwester stehen und ging aus der Wohnung. Was sollte unsere arme Emma tun? Diese knurrte vor sich hin und dachte, ob sie nicht ihren Nachbarn fragen sollte, die Gans um die Ecke zu bringen. Doch diesen Gedanken ließ sie wieder fallen, denn sonst hätte man in diesem Jahr auch einen großen Teil von der Gans abgeben müssen. Sie nahm sich ein Herz und machte sich an das greuliche Unternehmen, nicht ohne dabei lauthals zu heulen.
Als Agathe nach einer ganzen Zeit wieder nach Hause kam, lag die Gans auf dem Küchentisch und der lange Hals bummelte über die Tischkante. Er war bloß nicht zu sehen, dafür aber zwei alte nette Frauen, die sich heulend in den Armen lagen.
„Wie… wie… “, heulte Agathe los, „Wie hast du das bloß gemacht, Emma?“ „Mit… mit… VERONAL!“ heulte Emma. „Ich habe ein paar von deinen Schlaftabletten aufgelöst und in das Futter gegeben und nun ist sie … huhu … tot. Aber rupfen mußt du sie… huhu… “ Aber weder Emma noch Agathe konnten sich dazu entschließen. In der Küche stand der leere Korb, da war keine Gans mehr, die schnatternd „Guten Morgen“ sagte. Und so saßen die beiden eng umschlungen auf dem Sofa und heulten sich aus. Endlich nahm sich Agathe zusammen und fing an, den noch warmen Vogel zu rupfen. Eine Feder nach der anderen flog in den Papiersack, der von Emma festgehalten wurde. Und dann sagte Agathe: „Emma, du nimmst die Gans nun aus“, und ging in die Wohnstube, setzte sich auf das Sofa und heulte in das Kissen. Emma lief ihrer Schwester nach und sagte einfach, daß könnte sie nicht tun. Daraufhin wurden sich die beiden einig, denn es war nun schon spät am Abend, das Unternehmen von der Gans auf den anderen Tag zu verschieben.
Am nächsten Tag wurden Agathe und Emma in aller Frühe aus dem Schlaf gerissen. Mit einem Ruck saßen die beiden Frauen gleichzeitig senkrecht im Bett und schauten mit großen Augen nun auf die offene Küchentür. Und wer kam da hereinspaziert? Eine ulkige, leise schnatternde Gans, die am ganzen Leib zitterte und bebte!

Diese Geschichte ist tatsächlich wahr, aber das kommt noch besser. Als ich am Weihnachtsabend den beiden Frauen noch schnell ein kleines Päckchen bringen wollte, da kam mir doch wahrhaftig eine vergnügt schnatternde Gans entgegen, die ich aber bloß am Kopf erkennen konnte, denn das ganze Tier steckte in einem warmen Pullover, den die beiden Frauen in aller Eile für ihren Liebling zusammengestrickt hatten. Diese Pullover-Gans hat noch sieben Jahre gelebt und ist dann eines natürlichen Todes gestorben.