Mittwoch, 16. März 2011

Kernkraft, Risiken, Wahrscheinlichkeiten und unsere Sprache

Jemand bietet mir eine Wette an: Ich setze 10 EUR ein und kann bei einer Chance von 50:50 die gleiche Summe – also ebenfalls 10 EUR – gewinnen, bin ich geneigt, die Wette einzugehen.
Jetzt kann man dieses Gedankenspiel bis zu einer gewissen Höhe fortsetzen. Irgendwann aber, sagen wir mal bei 1.000 EUR, wird mir das Risiko zu groß. Das hängt von meiner Risikobereitschaft und der Höhe meines Vermögens ab.

Wenn ich in ein Flugzeug einsteige, was mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:10.000 abstürzen wird, werde ich das Riskio eingehen. Bei 1:100 wird es prekär. Wenn die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes 1:1 betrüge, würde kaum noch jemand das Flugzeug nehmen – es sei denn, er müßte vielleicht ein Erbe von 10 Millionen EUR geltend machen und hätte keine Wahl, anders zu dem betreffenden Notar zu gelangen.

Wenn ich abends in mein Auto steige, um nachhause zu fahren, gehe ich ein Risiko ein. Das Risiko, in einen Unfall zu geraten ist recht gering, das Risiko, dabei verletzt zu werden, ist noch geringer. Das Risiko, bei einem Unfall, in den ich gerate, getötet zu werden, ist noch geringer. Wie man an der Realität sieht, gehe ich dieses Risiko ein.

Wenn ich also ein Risiko eingehe, muß die Wahrscheinlichkeit, daß etwas Schlimmes passiert, gering sein gegenüber dem Vorteil, den ich habe. Es ergibt sich dann also eine Formel, in die die Wahrscheinlichkeit, Vor- bzw. Nachteil (also zum Beispiel Gewinn bzw. Verlust) und die Bewältigungsfähigkeit der Nachteile eingehen. Ein Milliardär wird andere Lottorisiken einzugehen gewillt sein als ein HARZ IV-Empfänger.

In der Talkshow von Sandra Maischberger "Die Geister, die wir riefen: Atomkraft außer Kontrolle?" gestern abend kritisiert der Präsident des Deutschen Atomforums, Ralf Güldner die Aussage von Umweltminiseter Röttgen, der gestern vor laufenden Kameras beteuert hatte: »Wir werden die deutschen Atomkraftwerke hundertprozentig sicher machen.« »Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit«, betont Güldner, und Wolfgang Renneberg, von 1998 bis 2009 Referatsleiter für Reaktorsicherheit und somit Chef der Bundesatomaufsicht, pflichtet ihm bei. Er spricht von einer trügerischen Sicherheit, die den Menschen suggeriert werde: »Es gibt immer ein Restrisiko.« Erhard Epple, SPD Urgestein, meint: »Das Dumme an solchen Unglücken ist, daß man sie sich halt nicht vorstellen kann – bis sie passieren.«

Kritik in der Süddeutschen

Die Süddeutsche vermeldet, daß Wolfgang Renneberg als Chef der hessischen Atomaufsicht 1997 ein Verfahren zur Stilllegung von Biblis A eingeleitet hatte und damit gescheitert war. In der Maischberger-Talkshow ging Renneberg näher auf den Unfall ein (siehe auch Wikipedia): aufgrund eines bei Wartungsarbeiten vergessenen Meißels brannte in Biblis A innerhalb des Containments der Motor einer Hauptkühlmittelpumpe, weil es zu einem Kurzschluß gekommen war. Was bei Wikipedia nicht steht und was ich aus der gestrigen Sendung erinnere: Beim Anfahren des Reaktors hätte die Mannschaft ein Geräusch gehört, aber nicht darauf reagiert. Die spätere Untersuchung habe ergeben, daß ein umherfliegender Gegenstand ein Loch geschlagen hätte. Dieses Loch habe gut auch in eine Kühlmittelleitung geschlagen werden können und wäre, da die Mannschaft nicht reagiert habe, möglicherweise zu spät entdeckt worden.
(siehe auch Schriftenreihe Reaktorsicherheit und Strahlenschutz – BMU – 2005–664, downloadbar unter Fußnote 30 des Wikipedia-Artikels)

Beim Lotto ist die Gewinnwahrscheinlichkeit konstant und beträgt immer 1 : 13.983.816, also bei zwei Reihen pro Woche durchschnittlich einen Sechser in 140.000 Jahren. 205 Spieler gewannen im Juni 1977 mit 6 richtigen Lottozahlen, die eine Woche zuvor schon beim niederländischen Lotto gewonnen hatten. [Quelle: winnersystem.org, siehe da unter: 6 Richtige aber die falschen richtigen Lottozahlen] Die Wahrscheinlichkeit, mit der in Deutschland und Holland an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden die gleichen Gewinnzahlen ermittelt werden, ist unglaublich gering, über den Daumen würde ich schätzen: so bei 10 hoch minus 27.

Was wir in den letzten Tagen gelernt haben – eigentlich haben wir es nicht gelernt, wir wußten es schon seit mindestens Juni 1977 – ist, daß völlig unwahrscheinliche Dinge trotzdem geschehen können. Es geschieht wohl nur alle 20 Milliarden Jahre (wieder über den Daumen gerechnet), daß die gleichen Gewinnzahlen an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden in Holland und Deutschland auftauchen, aber es geschieht. Die Frage ist, ob wir auch bei völlig unwahrscheinlichen Risiken gewillt sind, die Konsequenzen aus einem »Lottogewinn« auf uns zu nehmen. Sind wir mit einem Restrisiko von 1 : 10 hoch minus 27 gewillt, die Möglichkeit der Verstrahlung von Rheinland-Pfalz für die nächsten 1000 Jahre auf uns zu nehmen?
Auch das rechnerisch völlig unwahrscheinliche wird irgendwann geschehen. Es ist zwar völlig unwahrscheinlich, aber irgendwann passiert’s. Bisher dachten wir, das völlig Unwahrscheinliche passiert nicht. In der letzten Woche haben möglicherweise Umweltminister Röttger und Bundeskanzlerin Merkel gelernt, daß das völlig Unwahrscheinliche passiert.

Schon 1985 konnte sich Peter F. Bringmann (bekannt durch »Theo gegen den Rest der Welt«) einen terroristischen Anschlag auf ein AKW vorstellen: über seinen ausgezeichneten (und 1987 nur ein einziges Mal ausgestrahlten – siehe dazu den SPIEGEL-Link) Fernseh-Zweiteiler »Gambit« (Darsteller u.a. Heinz Bennent, Peter Berling, Despina Pajanou, Dominic Raacke, Rolf Zacher und Hans Zander; Rezensionen bei Amazon; SPIEGEL-Link: Der GAU und das Mädchen) läßt sich im Internet fast nichts finden.

Also: welche Restrisiken gibt es, und welche sind wir zu welchem Preis einzugehen bereit?



Wenn man die Icons größer macht, sieht das sehr beeindruckend aus:

(Karten gefunden auf dem Landkarten-Blog)

aktualisiert: 22.03.2014