Freitag, 10. Juni 2011

Stell dir vor es ist Wahl – und es gibt kein Wahlrecht

Schwarz-Gelb lässt die vom Verfassungsgericht gesetzte Frist zur Neuregelung des Wahlrechts verstreichen – und riskiert damit eine Staatskrise.
mehr bei ZEIT online

Von einem negativen Stimmgewicht spricht man, wenn eine Partei durch weniger Stimmen Mandate hinzugewinnt – oder Mandate verliert, wenn sie mehr Stimmen bekommt. Bei Bundestagswahlen ist das schon mehrfach geschehen. Nach Berechnungen von wahlrecht.de hätte beispielsweise bei der Wahl 2002 die SPD ein Bundestagsmandat hinzugewonnen, hätten alle 46.322 SPD-Wähler eines bestimmten Wahlkreises nicht gewählt. Der Grund: Die "fehlenden" 46.322 Stimmen wären zu wenige gewesen um Auswirkungen auf die Anzahl der bundesweiten SPD-Zweitstimmenmandate zu haben. An ihnen hätte sich nichts geändert. Bei der Verteilung der sozialdemokratischen Zweitstimmenmandate auf die einzelnen Bundesländer hätte es aber eine Verschiebung gegeben: Das Bundesland mit den "fehlenden" Stimmen (im vorliegenden Beispiel Thüringen) hätte ein SPD-Zweitstimmenmandat weniger bekommen, ein anderes Bundesland (hier: Bremen) eines mehr. An der Gesamtzahl der thüringischen SPD-Sitze hätte sich dennoch nichts geändert, denn die Partei gewann dort damals mehr Direktmandate, als ihr nach Zweistimmenergebnis zustanden. Diese Überhangmandate wären ihr trotz der "fehlenden" Stimmen geblieben. Bremen aber hätte einen SPD-Abgeordneten mehr in den Bundestag schicken können, die SPD-Fraktion dort wäre einen Sitz größer gewesen, als sie es tatsächlich war. (aus dem oben verlinkten Artikel auf ZEIT online)
Ich habe schon vor einiger Zeit (Post vom 17. März) beklagt, wie nachlässig die Regierung mit den Gesetzen umgeht, hier ist der nächste Fall. Sowas ist nicht mehr sauber!

Die Geschichte einer Qualtinger-Pointe

Als Helmut Qualtinger sich in den Sechzigerjahren von der Kleinkunst zurückzog und zum großen Bedauern des Publikums tatsächlich nie wieder im Kabarett auftrat, spielte er Theater, drehte Filme und betätigte sich als Autor satirischer Kurzgeschichten. Eine davon - sie trägt den Titel "Wienfilm" - zählt zu seinen köstlichsten, und sie führt uns zu einer Qualtinger-Schnurre, deren Pointe ihm leider erst posthum widerfuhr, was umso bedauerlicher ist, als sie zu erleben wohl ganz nach seinem Geschmack gewesen wäre. In Qualtingers "Wienfilm"-Satire kommt es im Foyer eines Wiener Vorstadtkinos zu einem Dialog zwischen dem Film-Operateur und einer Besucherin. Hier ein kurzer Ausschnitt:

Besucherin: "Der Johannes Heester, der Theo Lingens, der Heinz Rühmann und der Willi Forster, das sind meine Buam! Und der Hörbinger!" Kino-Operateur (korrigiert sie): "Hörbiger!" Besucherin: "Das is der Bruder!"

Das Reizvolle an dieser kleinen satirischen Szene von Helmut Qualtinger ist natürlich, dass die Kinobesucherin alle Namen ihrer Lieblinge (außer den von Heinz Rühmann) falsch aufsagt, was dem Ganzen eine sehr wienerische Note verleiht. Besagter Dialog zwischen Kino-Operateur und Besucherin ist in dem 1986 im Langen Müller Verlag von Brigitte Sinhuber herausgegebenen "Qualtinger-Buch" in völlig richtiger (weil falscher) Schreibweise nachzulesen. Zwölf Jahre später wurde eine neue "Qualtinger-Gesamtausgabe", diesmal im Deuticke Verlag, veröffentlicht. Wobei darin einmal mehr die Satire "Wienfilm" in Druck ging, und zwar im Band 3 auf Seite 264.

Der Lektor schlägt zu

Hier freilich schlug der übereifrige Lektor zu. Er las Heester, Lingens, Forster, Hörbinger und erkannte sofort mit lektoraler Gründlichkeit, dass da etwas nicht stimmen konnte. Und er verbesserte die Namen. So ist jetzt in dem Buch zu lesen:

Besucherin: "Der Johannes Heesters, der Theo Lingen, der Heinz Rühmann und der Willi Forst, das sind meine Buam! Und der Hörbiger!" Kino-Operateur (korrigiert sie): "Hörbiger!" Besucherin: "Das is der Bruder!" Womit die ganze, schöne Qualtinger-Satire zu Tode korrigiert wurde. Ein geradezu klassischer Pointenmord. Entdeckt wurde dieser nach Erscheinen der "Qualtinger-Gesamtausgabe" von Heinz Holecek, der mich damals schon auf die Vernichtung der Pointe seines Freundes aufmerksam machte. Nun aber hat er das Programm "Heinz Holecek liest und singt Helmut Qualtinger" zusammengestellt, das er von 23. bis 25. April in der Kleinkunstbühne "Brennessel" (1080 Wien, Auerspergstraße 19) präsentiert. Und dreimal dürfen Sie raten, welche Satire er darin in der richtigen (weil falschen) Version vorträgt. Natürlich die "Wienfilm". "Qausi", schau oba! georg.markus

Copyrighthinweis: © Kurier - Wien, 2009.

gefunden bei unart-forum

Heute vor 108 Jahren: Theo Lingen, »Komiker aus Versehen« und heimlicher Intellektueller

Eine der schlimmsten Gestalten, die mir Anfang der 70er in der deutschen Öffentlichkeit begegneten, war Theo Lingen. Bei Filmen wie »Wir haun’ die Pauker in die Pfanne!« oder »Hurra, die Schule brennt!« drehte sich bei mir ob des gestelzten und plumpen Humors und der hilflosen Lehrer der Magen um:



Wie jemand über sowas lachen konnte, ist mir auch heute noch unbegreiflich. Mir tat es weh. Auf die Youtube-Kommentare einzugehen erspare ich mir.



Alexander Golling als Studienprofessor Blaumeier sagt in obigem Ausschnitt aus »Hurra, die Schule brennt!«, nachdem durch das Öffnen der Tafel einen Eimer Wasser abbekommen hat: »Lauter blöde Hunde hat man hier zu unterrichten!« Heute würde er wegen dieser Äußerung möglicherweise eine Anzeige an den Hals bekommen. Golling spielte 1970 (neben Horst Frank, Christine Schuberth, Ralf Wolter, Walter Sedlmayr und Monika Dahlberg) auch in dem Film »Ein Glöcklein unterm Himmelbett« von Oskar Maria Graf mit, der in seiner Wikipedia-Filmographie verständlicherweise nicht aufgeführt ist. Die Ankündigung des Films in Moviepilot: »Die ›Dorfmatratze‹ eines bayerischen Alpendörfchens wurde dermaßen angebumst, dass es dabei zur Schwangerschaft gekommen ist. Nur wer ist der Erzeuger und kommt damit für den Unterhalt auf? Die Suche nach dem Vater gestaltet sich als Streifzug durch das Liebesleben der Ortsbewohner…«
So war die Zeit…
Dazu paßt übrigens aus die Meldung der msn-news von heute: Schläge und Mobbing: Schulleiter will Polizeischutz – Schlägereien, Erpressung und Mobbing unter Schülern, Drohungen und demolierte Autos der Lehrer - weil die Lage an der Kopernikus-Hauptschule in Garbsen bei Hannover eskaliert, hat der Direktor Polizeischutz für seine Schule gefordert. zum Artikel der HAZ

Zurück aber zu Theo Lingen: Sein Überlebenskampf in der deutschen Nachkriegs-/post 68-Kultur zwang ihn wie auch andere renommierte Künstler zu eher zweifelhaften Engagements. Hans-Peter Feldmann hat nun vor kurzem (9.2.-12.6.2011) eine Installation im Sprengel-Museum ausgestellt, in der sich ein mir völlig unbekannter Theo Lingen zeigte. (Interview mit Peter Feldmann bei monopol-magazin)

drei Dinge sind mir von meinem Besuch im Sprengel-Museum in Erinnerung geblieben:
- während sich Heinz Rühmann 1938 von seiner jüdischen Frau scheiden ließ, blieb er mit seiner jüdischen Frau Marianne Zoff, die er Bertolt Brecht ausgespannt hatte, verheiratet. (Thorsten Stegemann in der Virtuellen Kulturregion – »Komiker aus Versehen«; Marius Hetzel, Die Anfechtung der Rassenmischehe in den Jahren 1933-1939 bei googlebooks)
-Theo Lingen setzte sich während der Nazizeit nachweislich mehrfach für Verfolgte ein. (digitalvd.de, Rezension von Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen: Theo Lingen. Das Spiel mit der Maske, Aufbau Verlag bei nachkritik)
er rezensierte Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit
Wissenswertes:
- »Die Uraufführung der Physiker wurde zum „Theatererfolg der Saison“.[16] Unter der Regie von Kurt Horwitz spielten Hans Christian Blech, Gustav Knuth und Theo Lingen die drei Physiker sowie Therese Giehse die Mathilde von Zahnd.« (aus wikipedia)

Schmankerl:
- ein Beschwerdebrief von Dr. Anneliese Bretschneider, Gutachterin beim Kulturpolitischen Archiv des Amtes Rosenberg (offiziell »Amt Kunstpflege beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP), die fordert, »das weitere Aushängen dieser ins jüdische verzerrten Wiedergabe von« Plakaten mit dem »ausgesprochen rassefremd, vielleicht sogar jüdisch« aussehenden Theo Lingen zu verbieten. (Ernst Offermanns, Die deutschen Juden und der Spielfilm der NS-Zeit bei googlebooks) – über Frau Bretschneider läßt sich auch einiges googeln
- über den Einstieg Theo Lingens in die Rolle des Mackie Messer 1929 in Bertolt Brechts Dreigroschenoper (Ulrich Liebe, Verehrt, verfolgt, vergessen bei googlebooks) Nach dem großen Erfolg der Dreigroschenoper engagierte Brecht ihn für weitere Stücke, z.B. "Mann ist Mann" (1931) oder "Die Mutter" (1932).

Zitate:
»Es gibt immer ein Stückchen Welt, das man verbessern kann - sich selbst.«
»Ich bin nur ein stehen gebliebener Expressionist. Ich mache nur weiter, was ich Anfang der Zwanziger Jahre gelernt habe. Ich turne Ausdruck. Ich spiele weiter pathetisch. Da das alte Pathos perdu ist, wirkt das heute komisch. Die Leute lachen, weil ich so unzeitgemäß ausdrucksemsig bin.«

eine Anekdote:
Theo Lingen war ein Frühaufsteher und Liebhaber druckfrischer Zeitungen. Wenn in der Hotelhalle des Hamburger Vier Jahreszeiten gegen sieben Uhr die Morgenblätter angeliefert wurden, wartete er schon perfekt angezogen im grauen Anzug, weißen Hemd und Krawatte. Er ging hinter den gläsernen Zeitungsstand, nahm mit weißen Handschuhen „Die Welt“ und las. Als sparsamer Mensch faltete er sie anschließend korrekt wieder zusammen und steckte sie zurück. Bei diesem liebenswerten Dauergast wurde so eine Marotte gern übersehen.
Eines Morgens, Lingen hatte sich wie üblich in sein Lieblingsblatt vertieft, erschien ein anderer Gast und verlangte ein Exemplar der „Welt„. Lingen reichte dem Mann eine Zeitung, der sah ihn verblüfft an, Lingen kassierte das Geld, und der Gast ging kopfschüttelnd zum Frühstücken ins Restaurant Haerlin. Während Oberkellner Rudolf Botor ihm den Kaffee eingoss, sagte er: „Sagen Sie mal, Ihr Zeitungsverkäufer da draussen sieht aber verdammt nach Theo Lingen aus!“ Botor antwortete: „Das ist Theo Lingen.“ Der frühe Gast blickte mißbilligend auf Botor und sagte kein Wort mehr. Er fühlte sich augenscheinlich auf den Arm genommen. Dabei hätte dem Mann klar sein müssen, daß ein Hotel Lingens liebste Bühne war.
Unzählige Male hat er im Theater und in Filmen Kellner und Diener gespielt. Dem Vier Jahreszeiten blieb er mehr als zwanzig Jahre treu, wenn er zum Filmen nach Hamburg kam. Er spielte häufig Theater in Hamburg, er führte Regie, meist im Thalia Theater. (gefunden bei studi.wordpress.com)



Von September 1975 bis kurz vor seinem Tod 1978 moderierte Theo Lingen die Sendung »Lachen Sie mit Stan und Ollie« im ZDF.