Montag, 17. Dezember 2012

Der Politjunkie und die Stille


Ulrich Kasparick gehörte zur Bundesregierung. Er war süchtig nach Politik. Dann begann er zu meditieren – und ein neues Leben in der Uckermark 
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Von Eva Baumann-Lerch

Ulrich Kasparick kommt auf weißen Schafwollschuhen die Treppe hinunter. Ein schmaler, jungenhafter Mann mit offenem Blick und festem Händedruck. Er trägt Jeans und einen grauen Pullover, der sein Lieblingsstück sein muss, weil er schon Tausende von Umdrehungen in der Waschmaschine hinter sich hat und an Ärmeln und Schultern mit Leder verstärkt ist. »Grüner Tee?«, fragt Kasparick. 
   Während er in der Küche verschwindet lässt er ein wenig Ratlosigkeit zurück. Merkwürdig, sich diesen Mann als den Spitzenpolitiker vorzustellen, der er bis vor drei Jahren gewesen ist. Wie er im Ministerium auf dem Chefsessel sitzt in Anzug, Krawatte und mit glänzend geputzten Schuhen. Wie er zu seiner Dienstlimousine eilt den Aktenkoffer hineinwirft und den Chauffeur zum Kanzleramt dirigiert. »Morgens um sieben stand der Fahrer vor der Tür«, erzählt der 55-Jährige von seiner Zeit als Parlamentarischer Staatssekretär. »Da war der schon im Ministerium gewesen und hatte sich meine Termine für den ganzen Tag ausdrucken lassen. Dann fragte ich: Wo müssen wir heute hin?« 
   Ulrich Kasparick ist zwanzig Jahre lang in der SPD Berufspolitiker gewesen. Während der rot-grünen Bundesregierung arbeitete er als Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für Forschung und Bildung. In der Großen Koalition unter Angela Merkel war er ebenfalls Staatssekretär, diesmal im Bundesministerium für Verkehr: Bau und Stadtentwicklung. »Pro Tag hatte ich dann meist ein Dutzend Termine zu absolvieren«, erinnert er sich. »Und wenn ich spät am Abend nach Hause kam, konnte ich mich manchmal nicht mehr erinnern, wo ich am Morgen gewesen war.« Er setzt sich in den Rattansessel. trinkt einen Schluck von dem grünen Tee und sagt: »Ich war völlig getrieben und fremdbestimmt.« 
Ein Mann, zwei Leben: Ulrich Kasparick als
Parlamentarischer Staatssekretär (kleines Bild)
und heute
   Kasparick gehörte zu den jungen evangelischen Theologen aus Ostdeutschland, die mit Kerzen, Protesten und Montagsgebeten den Fall der Mauer bewirkten und dann wie zwangsläufig in die Politik gespült wurden. Als ehemaliger Jugendpfarrer von Jena baute er nach der Wende die Friedrich-Ebert-Stiftung in den neuen Ländern auf. 1998 gewann er als Direktkandidat der SPD den Wahlkreis Magdeburg, wurde forschungspolitischer Sprecher seiner Fraktion und stieg schließlich zum Staatssekretär auf. Er kämpfte für die Ansiedlung von Forschungsinstituten in Ostdeutschland, »kannte jedes Labor persönlich«, arbeitete am Programm für Elektromobile und der Exzellenzinitiative mit und engagierte sich auf internationalem Parkett für eine klimaverträglichere Entwicklung der Megastädte. Wegen des Bundeswehreinsatzes auf dem Balkan legte er sich mit Kanzler Gerhard Schröder an – und hielt in aufgeheizter Stimmung im Osten den Kopf für die umstrittenen Sozialreformen seiner Regierung hin. Doch trotz Einflusses und Ansehens, sagt er, »hatte ich oft das Gefühl, das Leben zerrinne mir zwischen den Fingern wie Sand«. 
   Jetzt wenn Kasparick redet fällt es plötzlich leichter, den Politiker in ihm zu erkennen. Eine kleine Frage genügt um eine Fülle von Sätzen aus ihm herauszuspülen, seine Denk- und Sprechmaschine in Gang zu setzen, die unermüdlich Gedanken und Analysen auswirft. Er springt aus dem Sessel, läuft über die geschliffenen Holzdielen, steht am Fenster und redet stier in die blaue Herbstluft hinein. Dann hält er unvermittelt inne, als habe er sich selbst in einer alten Rolle ertappt setzt sich wieder hin und fragt: »Was will ich Ihnen eigentlich sagen mit meinen vielen Worten?« 
   Er will sagen, warum er ausgestiegen ist. 
   Er will erzählen, wie die Politik ihn süchtig gemacht hat. Wie die Mechanismen der Macht die Funktionäre verändern und ihnen die Ruhe rauben, die sie für ihre Entscheidungen doch dringend nötig hätten. »Die Welt der Berliner Politik ist eine sehr vorläufige Welt voller sinnfreier Rituale«, meint Kasparick. In den politischen Strukturen dort gehe es weniger um eine sinnvolle und nachhaltige Gestaltung der Gesellschaft als um Machterhalt und mediale Wirkung. »Das fängt schon damit an, dass jeder Vorschlag der Opposition unbesehen abgeschmettert wird – ob er nun gut ist oder nicht.« Unter dem wachsenden Druck der schnellen Medien müssten Politiker ständig Positionen verfechten, die nicht ernsthaft durchdacht seien. Zeit zum Abwägen, Überschlafen, Nachdenken und Ausdiskutieren gebe es nicht. Selbst die Ministerien innerhalb einer Bundesregierung konkurrierten tagein, tagaus um die Wahrnehmung in den Medien. »Solange Tempo, übereilte Entscheidungen und Misstrauen angesichts neuer Kommunikationsmöglichkeiten wachsen, wächst auch die Skepsis, ob die Politik wirklich noch angemessen auf die Herausforderungen reagieren kann, vor denen sie steht.« So steht es in dem Buch, das er noch während des Abschieds aus der Politik geschrieben hat: »Notbremse. Ein Politjunkie entdeckt die Stille«. 
   
Irgendwann hat er gespürt dass er nicht mehr zuhören konnte, dass er anderen ins Wort fiel. Seine Freundschaften verkümmerten. Seine Ehe zerbrach kurz vor der Silberhochzeit. Kasparick bekam Nierenkrebs, dann einen Schlaganfall. Im Krankenhaus kam er zur Ruhe und begann, über dieses Leben nachzudenken. »Die Krankheiten haben mir geholfen, meine Spur wiederzufinden«, sagt er heute. Der Staatssekretär nahm ein Sabbatjahr, machte eine Ausbildung zum Körpertherapeuten, übte sich in Zen-Meditation und machte sie zu seiner täglichen Praxis. Bei der Bundestagswahl 2009 ließ er sich nicht mehr aufstellen. Seit einem Jahr arbeitet Ulrich Kasparick als Landpfarrer in der Uckermark. 
   »Wenn man in die Stille geht kann man seine Sinne wieder schärfen und empfindsam werden«, hat er geschrieben: »Der Weg dahin ist nicht einfach. Man muss dem Kranken zunächst die Droge entziehen: keine Geräusche menschlicher Aktivität mehr, kein Handy; kein Laptop, kein Radio, kein TV - nur noch Stille. Denn dann erst können die Sinne wieder allmählich schärfer werden für das, was wirklich ist.« 

»Man muss dem Kranken die Droge entziehen: keine Geräusche menschlicher Aktivität mehr, kein Handy, kein Laptop, kein Radio, kein TV - nur noch Stille«


   In der kargen, dünn besiedelten Uckermark erlebt er das jetzt täglich. »Herr Pastor«, haben die Leute gesagt als er hier ankam, »hier kannste, dem lieben Gott unter'n Rock gucken!« Und dann sah er es selbst: »Das Licht ist unglaublich, der Sternenhimmel eine Wucht!« Wenn er das erzählt liegt ein Staunen auf seinem Gesicht. Auch das Hören, sagt er, hat sich hier verändert: »Buchen rauschen anders als Linden, Linden anders als Birken. Und im Sommer hörst du sie alle: die Baumfrösche, den Hirsch, die Nachtigall.« Er lebt allein im Pfarrhaus von Hetzdorf. seine zweite Frau, Familientherapeutin, ist in Berlin geblieben. Bei ihr verbringt er den freien Montag. 
   Seit er regelmäßig meditiert, hat sich auch seine Spiritualität verändert. »Als Sohn eines evangelischen Pfarrers in der DDR war meine Religion vorher sehr argumentativ«, berichtet er. »Wir haben viel diskutiert.« Ausgerechnet in Afghanistan eröffnete sich ein neuer Zugang, als er mit dem Menschenrechtler Rupert Neudeck eine Schule besuchte, die auch der muslimische Mystiker Rumi besucht hat: »Rumi hat mich fasziniert. Durch ihn bekam ich eine Ahnung, was wir in unserer eigenen Religion unter der Asche haben.« 
   Kasparick suchte nach den Mystikern des Christentums, er fand Teresa von Avila, Meister Eckhardt und Johannes vom Kreuz. »Anbetung«, sagt Kasparick jetzt ganz leise. Das Abendland habe diese Basis längst verloren. »Der Westen steht dem Phänomen des Religiösen völlig ratlos gegenüber. Seine Spiritualität ist geprägt vom Wechselkurs des Dollars und der Rohstoffmärkte.« 
   Und die Droge Politik? Ist er jetzt clean? »Nein«, sagt er vernehmlich, »ein Junkie bleibt immer ein Junkie.« Sein Ausstieg sei auch keine Flucht vor der Wirklichkeit. »Im Gegenteil! Das Ankommen in der Gegenwart das in der Meditation geübt wird, heißt ja auch Ankommen in der politischen Gegenwart!« Im Zuge der Affäre um den früheren Berliner Senator Thilo Sarrazin ist er aus der SPD ausgetreten, fühlt sich ihnen aber weiter verbunden, den Genossen, die er »meine Spezialdemokraten« nennt. In den letzten Jahren arbeitet er verstärkt bei Opportunity international mit einer Organisation, die Mikrokredite zur Existenzgründung für Arme vergibt. 
   Gerade im Sinne einer besseren Politik, meint Kasparick, wäre es sinnvoll, wenn die Politiker regelmäßig dem Getriebe entkommen und die Stille suchen würden. »Wären zum Beispiel die Verhandlungsergebnisse zum Kyoto-Folgeprotokoll in Kopenhagen besser, wenn die Vermittler regelmäßig Zazen trainierten?«, fragt er. Und antwortet: »Ja. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass politische Entscheidungen besser durchdacht dauerhafter und vielleicht auch richtiger und mutiger wären.« Politiker, die vor einer wichtigen Entscheidung ins Kloster gingen oder wie Dag Hammarskjöld durch Lappland wanderten, könnten besser zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden. »Sie würden der medialen Resonanz nicht in dem Maße nachlaufen, wie es heute der Fall ist.« Aber, sagt er resignierend, »so ist der politische Alltag nicht.« In solch einer Stimmung geht er jetzt oft nach draußen, greift sich einen Spaten und wühlt in der uckermärkischen Erde. 
    
   aus Publik-Forum Nr. 23 ● 2012

Adventsrätsel (das Siebzehnte von vierundzwanzig)

Als Pflanze wird’s die Schwester eng umgeben,
als Werkzeug kann es große Lasten heben.
Auflösung zu Nr. 16

Vor 100 Jahren – 1880-1914: Die Belle Époque in Paris

Die ganze Welt scheint zu flanieren 

 Von etwa 1880 bis 1914 bot Paris ein ganz besonderes Panorama urbaner Kultur, voller Lebensfreude und Beschwingtheit. Alles schien leicht und schön zu sein: Auf den Boulevards flanierten die Menschen im neuesten Putz der Modeschöpfer, man traf sich in Cafés, Theatern und auf privaten Soireen. Künstlerplakate warben für die Cabarets am Montmartre und auf den Champs-Elysees, der eben fertiggestellte Eiffelturm und die Weltausstellungen von 1889 und 1900 verhießen eine glanzvolle Zukunft, in der die Errungenschaften der Technik allen Menschen ein angenehmes Leben ermöglichen würden. Das Paris jener Jahre war die Hauptstadt der Eleganz, deren Urbanität, von Malern und Grafikern ins Bild gesetzt, weltweit zum Maßstab wurde. 


»Une soirée« in Paris, Gemälde von Jean Béraud
 Der Begriff der »Belle Epoque« für diese Jahrzehnte bürgerlicher Lebenskunst ist eine nachträgliche Schöpfung. Das folgende Jahrhundert mit seinen verheerenden Kriegen, die den Menschen auf grausame Weise eine ganz andere Seite des technischen Fortschritts vor Augen führten, ließ die Unbekümmertheit und den Glanz der »schönen Epoche« umso leuchtender strahlen. 

 Was am 17. Dezember noch geschah: 
 1963: Die BRD und die DDR schließen das erste Passierscheinabkommen, das Westberlinern den Besuch von Verwandten im Ostteil der Stadt ermöglicht. 
 Brockhaus - Abenteuer Geschichte 2012