Samstag, 4. Oktober 2014

Entscheidung am Majdan

Eine Phänomenologie der ukrainischen Revolution
(…)
Beginn der Revolte
Wiktor Juschtschenko und Julija Tymoschenko erwiesen sich als derartige Enttäuschung, daß 2010 Janukowytsch zurückkam und über Tymoschenko triumphierte – die er kurz darauf einsperren ließ. Janukowytschs Hochburg ist der Donbass, das Donez-Steinkohlebecken, die ostukrainische Bergbauregion. Für viele dort ist er der Lokalmatador, der es zu etwas gebracht hat. Nicht, daß ihn dort „jemand wirklich mögen“ würde, der Mann ist eklig, lächerlich und ungebildet – aber trotzdem, so spekuliert Jurko, im Donbass denkt man eben, das ist einer von uns. Und darauf waren sie stolz. Wie auch immer, einmal mehr wurde die Ukraine von einem Gangster regiert, der vor dem Kreml buckelte. Janukowytsch und die Oligarchen auf seiner Seite beuteten ein verarmtes Land aus. Die Ukraine machte etwas durch, was an Nicolae Ceauşescus Herrschaft in Rumänien erinnerte. Janukowytsch und seine Familie bauten sich goldene Villen, während das gewöhnliche Volk hungerte, fror oder sein Leben bei einer Explosion in einem unregulierten Bergwerk lassen mußte, in dem die Arbeitsbedingungen nicht über das 19. Jahrhundert hinausgekommen waren. Ein kleiner, aber feiner Unterschied zu Ceauşescu, Hitler und Stalin, ja selbst zu Wladimir Putin, bestand darin, daß Janukowytsch kein großartiges Narrativ bot, kein Versprechen auf Transzendenz. Er war einfach – und völlig ungeniert – ein Gangster. („Er ist nicht nur ein Gangster“, sagte mir mein Freund Ivan Krastev, ein Politanalytiker. „Er ist ein kleiner Gangster.“ Ein Gedanke, zu dem der polnische Außenminister Radosław Sikorski meinte: „Na ja, die Summen, die da im Spiel waren, waren alles andere als klein.“)

mehr:
- Entscheidung am Majdan (Marci Shore, Lettre International Nr. 106, Herbst 2014)

Jurko Prochasko [Wikipedia]

Hat die Ukraine eine Zukunft? - im Gespräch mit Jurko Prochasko (3sat) [6:16]

Veröffentlicht am 02.05.2014
Hat die Ukraine eine Zukunft? Und ist es die, die sie mal hatte? Das fragen wir den ukrainischen Schriftsteller Jurko Prochasko.
Quelle: http://www.3sat.de/mediathek/?mode=pl...
Jurko Prochasko ist ein ukrainischer Essayist, Germanist, Schriftsteller und Übersetzer.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Jurko_Pr...

Zitat Tina Mendelsohn:
»Wahrscheinlich hat uns Shakespeare auch etwas über die Auflösung der Ukraine zu sagen. Darüber, daß etwas scheinbar Intaktes, Gesundes, die Ukraine mit ihren Oligarchen und schönen Femen-Mädchen, Anwärter auf die EU, sich plötzlich in verfeindete Gruppen auflöst.«

Ukraine: action des Femen devant le Parlement [0:50]

Veröffentlicht am 12.12.2012 Plusieurs militantes du mouvement Femen ont manifesté seins nus, mercredi 12 décembre à Kiev contre la corruption des députés devant le Parlement ukrainien. Durée: 00:50

Dieser erste Satz Mendelsohns spannt den Rahmen für das folgende Interview auf. Tina Mendelsohn beschreibt die Ukraine in einem etwas sorgenvoll-ratlosen Sandmännchen-Erzählton, der eine märchenhafte Idylle (oder ein idyllisches Märchen) von Oligarchen und oben-ohne herumlaufenden Protest-Mädchen – vielleicht ja auch noch jodelnd und im Dirndl – beschreibt. Fehlt nur noch der Bauernhof und gackernde Hühner. 
Und da bricht plötzlich Zwist auf in dieser Idylle? 
Wie blöde muß man sein? 

Auf diesem intellektuellen Niveau geht es weiter. Zitat:
»Der Streit geht durch die Betten […] Die Ehe ist in Gefahr, weil die eine pro-russische Gefühle hat, und der Ehemann auf der ukrainischen Seite steht.«
Na, dann hat der deutsche Superstar-Geschädigte, der sich auf 3sat verirrt hat, ja gleich vorgekaut bekommen, um welchen Konflikt – nämlich den zwischen dem machtgierigen Rußland und der armen, hilflosen, kleinen Ukraine – geht.

Tina Mendelsohn führte am 30. April mit Bazon Brock dieses so wunderschön in die Hose gegangene Interview über die scheinbar unangemessene Männerfreundschaft zwischen Ex-Bundeskanzler Schröder und Wladimir Putin. (Ukraine 9 – Wider die veröffentlichte Meinung, Post vom 11.05.2014, letztes Video)
Mein ehemaliger Ausbilder Wolfgang Scherf sagte so schön: 
»Wenn was aus heiterem Himmel kommt, dann stimmt was mit der Wetterbeobachtung nicht.«
Erster Satz des leider verstorbenen Peter Scholl-Latour im Interview mit Alfred Schier (Dialog Spezial, Der Ukraine-Konflikt 3 – Westliche Naivität oder westliche Machtpolitik?, Post vom 25.03.2014):
»Man hat ja gar nicht zur Kenntnis genommen, daß die Ukraine kein geeintes Land ist.«

Weil Scholl-Latour sich von dem »Freiheit und Demokratie«-Parfum des Westens nicht benebeln ließ und auf seiner illusionslosen Sicht beharrte, geriet er im politisch korrekten öffentlich Diskurs der letzten Jahre immer mehr in die rechte Ecke.

Die westliche Haltung in der sich seit Jahren (!!) anbahnenden Ukraine-Krise ist von einer Würgereiz erzeugenden Ignoranz geprägt, von der ich mir ständig unsicher bin, ob diese böswillig oder einfach nur borniert ignorant ist. Dabei erhärtet sich bei mir der Verdacht, daß auf Seiten von USA und NATO diese Borniertheit eher böswillig, auf Seiten von Journalisten und EU-Politikern eher borniert ignorant ist.

- Diese leere Muschel, die übrig geblieben ist… (Die ZEIT, 31.12.2004)
- Aktuelle Entwicklungen in der ukrainischen Literatur (Länder-Analysen, Ukraine, 24.06.2008)
- Künstler in der Ukraine – "Zielscheibe des Staatsterrors" (Deutschlandradio Kultur, 29.01.2014)
- Ukraine: Vier Autoren im Gespräch „Die da oben dürfen alles, alle anderen dürfen nichts“ (Frankfurter Allgemeine, 07.02.2014)
- Verklärung und Verbitterung in der Ukraine (IC-MN, 22.02.2014)
- „Sie nennen das Krise, ich nenne es Revolution!“ (The European, 14.05.2014)
- Die Ukraine, Putin und Europa – Ehre und Bitterkeit (tagesspiegel, 21.05.2014)
- Von Mythen, Märchen und Realpolitik (NovinkiBlog, 03.06.2014)
- Die Mitte liegt wieder ostwärts (Die Welt, 21.06.2014)
- Ukraine-Konflik – "Die Sprachverwirrung ist enorm" (Deutschlandfunk, 17.08.2014)



Je länger ich mich mit dem Ukraine-Thema befasse, desto mehr erhärtet sich meine Einschätzung, daß die gegeneinander agierenden Parteien – 
 ukrainisches Volk versus Oligarchen – 
sich beide Unterstützung suchend in die Arme des Westens (die Oligarchen sind da ambivalenter) zu stürzen versuchten und hier auf das geostrategische Glatteis gerieten. Die Ukraine hat halt das Pech, daß sich die USA seit Ende des Zweiten Weltkriegs ständig durch Ausdehnung ihres Einflusses abzusichern versuchen und Rußland seinen Hinterhof genauso sauber halten will. Das macht die USA ja nicht anders. (Das 7.800 km von Dallas entfernte Chile betrachteten die USA 1970 ja auch als Hinterhof, siehe: Heute vor 44 Jahren – 4. September 1970: Salvador Allende wird zum Präsidenten Chiles gewählt, Post vom 04.09.2014) Das hat mit Demokratie nichts zu tun, hier geht es nur um machtstrategisches Kalkül. Tina Mendelsohn macht es uns vor: Wir träumen von Idyllen, während im Hintergrund die Strippenzieher am Machen sind.

siehe dazu auch:
- Der Krieg der Oligarchen (Lutz Brangsch, Linksnet, 27.06.2014)
Der Bürgerkrieg in der Ukraine hat offensichtlich gemacht, dass die heute gängigen Maßstäbe der Bewertung politischer Prozesse untauglich sind. Die in vielen Analysen internationaler Konflikte präsente Unterstellung einer Homogenität nationaler Interessen sowie eine Trennung nationaler und internationaler Entwicklungen führen in die Irre. Etikettierungen wie »pro-russisch“, »pro-ukrainisch«, »pro europäisch« oder »Putin-Versteher« verstellen den Blick auf die Interessen der jeweiligen Konfliktparteien und blenden die Komplexität von Widersprüchen in einer globalisierten Welt aus. Es gibt weder den abstrakt bösen Putin noch den abstrakt guten Majdan. Reflexhafte Zuschreibungen von »Gut« und »Böse« sind auch gefährlich, weil es in der Region eine Reihe von Konflikten gibt, in die sowohl die EU als auch die USA seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in irgendeiner Form verwickelt sind.

Die Konflikte in der Ukraine müssen daher einerseits als soziale Probleme und die Art und Weise ihrer Bearbeitung sowie andererseits als ein Ringen um internationale Führungsansprüche verstanden werden. Im Folgenden soll es darum gehen, beide Dimensionen der gegenwärtig stattfindenden Kämpfe zu betrachten.


siehe auch:
- IPPNWforum: Roter Faden durch den ukrainischen Dschungel. (Post vom 08.10.2014)
- Wer sabotiert die Aufklärung der Maidan-Todesschüsse? (Ulrich Heyden, Telepolis, 09.10.2014)
Alle paar Monate werden neue Verhaftungen verkündet, aber die Aufklärung kommt nicht voran - Folge einer Taktik? 
Der Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU gab die "Festnahme und Verhaftung" von vier ehemaligen SBU-Offizieren bekannt, nannte aber keine Namen. Die Generalstaatsanwaltschaft erklärte dagegen, Niemand sei in Haft. Der ukrainische Innenminister fürchtet Image-Verlust wegen rechter Ausschreitungen.

"Zum jetzigen Zeitpunkt sind vier Verräter verhaftet, Offiziere mit hohem Dienstgrad", erklärte der Chef des ukrainischen Geheimdiensts SBU, Valentin Naliwajtschenko, am Sonnabend in einer Sendung des ukrainischen Fernseh-Kanals Espreso.tv. Zwei weitere für Todesschüsse auf dem Maidan verantwortliche Abteilungsleiter nicht näher benannter ukrainischer Strukturen seien auf der Flucht und wahrscheinlich in Russland, erklärte der SBU-Chef. Die Namen der Verhafteten und Flüchtigen nannte Naliwajtschenko nicht.

"Wir haben keine freie Presse mehr"

Über Medienlügen, den Ukraine-Konflikt und den Abschuss von MH17 -

Interview mit RAY McGOVERN, 9. September 2014 -


Ray McGovern arbeitete 27 Jahre lang als Analyst für den US-Auslandsgeheimdienst CIA, bevor er 1990 in den Ruhestand trat. Von 1981 bis 1985 gehörte er zu den verantwortlichen Offizieren, die dem Präsidenten täglich Bericht erstatteten. Anschließend war er mitverantwortlich für die Vorbereitung des Tagesberichtes der CIA an den US-Präsidenten. Im Jahr 2003 gründete er zusammen mit anderen ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern die Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS). Diese Organisation widmet sich der Analyse und Kritik nachrichtendienstlicher Tätigkeiten. Hintergrund traf ihn am vergangenen Samstag zu einem Gespräch in Berlin.

mehr:
- "Wir haben keine freie Presse mehr" (Interview mit Ray McGovern, Hintergrund, 04.10.2014)

Heute vor 55 Jahren – 4. Oktober 1959: Start der sowjetischen Mondsonde Lunik 3

Raumsonde zeigt nie gesehene Bilder 

Wie mag die erdabgewandte Seite des Mondes aussehen, die der Mensch auf der Erde nie zu sehen bekommt, weil der Trabant keine Eigendrehung aufweist, sondern in »gebundener Rotation« um den Blauen Planeten kreist. Bis Oktober 1959 konnte darüber nur spekuliert werden, dann übermittelte die sowjetische Mondsonde Lunik 3 mittels Bildfunktechnik die ersten Fotos. Es fiel sogleich ins Auge, dass die Rückseite des Mondes bedeutend weniger dunkle Flecken und Flächen (von erstarrter Lava bedeckte Tiefebenen) auf weist als jene Seite, die man von der Erde aus sieht. Folglich ist die Rückseite bedeutend heller, auch sind die lokalen Höhenunterschiede stärker ausgeprägt. 
Modell der Raumsonde Lunik 3, 1970
Die Lunik-3-Mission startete heute vor 55 Jahren, am 4. Oktober 1959. Ihr Vorgänger Lunik 1 war am Mond vorbeigeflogen und hatte Strahlungswerte geliefert, Lunik 2 war der erste Flugkörper, den die Kommandozentrale gezielt auf dem Mond aufschlagen ließ. Lunik 3 aber war der Star der Reihe. Nach vollbrachter Heldentat im Dienste des menschlichen Wissens verglühte die Sonde im April 1960 in der Erdatmosphäre. 

Lunik 3
▪︎ Startrampe: Weltraumbahnhof Baikonur (Kasachstan) 
▪︎ Startgewicht: 278 kg 
▪︎ erstes Foto von der Mondrückseite: 7.10.1959 

Harenberg – Abenteuer Geschichte 2014