Dienstag, 3. Februar 2015

Das Versagen der selbstgerechten Etablierten

Der Populismus der Gegenwart ist keine Bewegung der völlig Abgehängten, sondern ein Phänomen der breiten unteren Mitte. Er fußt in der globalisierten Wirklichkeit und setzt an tatsächlichen Missständen an. Wo Eliten diese Probleme leugnen, werden sie den Populismus nicht zurückdrängen können
mehr:
- Das Versagen der selbstgerechten Etablierten (René Cuperus)
Zitat:
Die entscheidende Frage also lautet, wie das linke politische Lager auf diese Entwicklungen reagieren kann. Das Problem ist, dass die Parteien der linken Mitte die aktuelle Situation mit zu verantworten haben, denn durch die Reform- und Austeritätspolitik haben sie den populistischen Unternehmern und Abenteurern erst den nötigen Raum gegeben. Beispiel Niederlande: In den siebziger Jahren haben wir die klassisch-sozialdemokratische Partei PvdA modernisiert und in eine fortschrittliche Partei verwandelt. Wir propagierten in erster Linie postmaterialistische Werte – durchaus vergleichbar mit den Grünen Parteien in Europa heute. Nicht gute Arbeit, sondern Kernenergie, Feminismus, Entwicklungshilfe und Multikulturalismus standen im Mittelpunkt unserer Politik. Die gesellschaftlichen Spannungen zwischen dem Weltbild der Akademiker und der Nicht-Akademiker wurden damals noch durch den Sozialvertrag über den allgemeinen Wohlfahrtsstaat abgemildert. Das schien zu funktionieren, zumindest für eine Weile. Doch als wir, die postmodernen Sozialdemokraten, den Sozialvertrag brachen oder sogar verrieten, wie die permanenten Reformen des Sozialstaats bisweilen wahrgenommen wurden, öffneten wir dem Misstrauen Tür und Tor. Zorn, Ressentiments und Frustration waren die Folge.

Wir müssen verstehen, dass der Populismus in der Wirklichkeit fußt. Er kommt nicht einfach aus dem Nirgendwo. Populistische Bewegungen repräsentieren äußerst reale Ängste und Sorgen, die wir ernstnehmen müssen. Dass die Gebildeten die weniger gebildete Klasse und deren legitime Sorgen verachten, ist alles andere als hilfreich. Ebenso wenig nützt es, den schlechter ausgebildeten Bürgern ihren niedrigeren Bildungsgrad und ihren mangelnden Enthusiasmus in Bezug auf Europa zum Vorwurf zu machen. Denn dabei gerät aus dem Blick, dass die Menschen mit geringerer Bildung im Alltag sehr viel direkter mit den Komplexitäten der europäischen Integration und Einwanderung konfrontiert sind als die Akademiker, die sich die so genannte weiße Flucht in weniger multikulturelle Stadtteile, Schulen und Sportklubs leisten können. […]

Das vielleicht größte Problem aber besteht darin, dass die besser ausgebildete Hälfte der Gesellschaft ein falsches Selbstbild entwickelt hat: Die Leute geben vor, kosmopolitisch und universalistisch, für Einwanderung und gegen Islamophobie, für die EU und gegen eine Politik des „Law and Order“ zu sein. Doch viele dieser Einstellungen beruhen zumeist nur auf dem Bemühen um soziale Statusabgrenzung gegenüber den als ordinär und vulgär wahrgenommenen unteren Klassen. Denn wie kosmopolitisch, pro-europäisch und islamfreundlich ist diese akademische Elite bei genauerer Betrachtung wirklich? Provozierend kann man sagen: Die wirkliche Avantgarde sind heute die weniger Gebildeten, indem sie auf die Schattenseiten der Globalisierung hinweisen und die ungerechte und ungleiche Lastenverteilung der Globalisierung auf die politische Agenda setzen. Es gibt also auch Hoffnung: In Wirklichkeit sind die besser und die weniger gut ausgebildeten Bürger einander in Gesellschaftsfragen vielleicht näher als angenommen. Daraus könnten sich ein neues wechselseitiges Verständnis und eine neue Zusammenarbeit entwickeln.

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