Dienstag, 3. Februar 2015

Grenzen in einer entgrenzten Welt

Der Prozess der Globalisierung schien die Verflüssigung aller Verhältnisse zu bedeuten. Doch gerade Phänomene der Grenzenlosigkeit gehen überall einher mit neuen Abgrenzungen
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- Grenzen in einer entgrenzten Welt (Markus Schroer, Berliner Republik, 6/2014)
Zitat:
Schon ein oberflächlicher Blick auf die politische Weltkarte zeigt uns, dass Grenzen nach wie vor existieren und sogar zahlreiche neue hinzugekommen sind: Zwischen Nord- und Südkorea verläuft noch immer ein „Eiserner Vorhang“; die Vereinigten Staaten versuchen sich vor illegalen Einwanderern aus Mexiko mit einem über 3 000 Kilometer langen Grenzzaun zu schützen; die Israelis errichten eine Sperranlage zwischen dem von ihnen beanspruchten Land und den Gebieten der Palästinenser; ein meterhoher Zaun trennt Indien von Bangladesch; die EU umgibt sich mit starken Außengrenzen und rüstet die Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla so auf, dass Europa aus der Perspektive von „unerwünschten Einwanderern“ immer mehr wie eine uneinnehmbare Festung erscheint, in die sie gleichwohl verzweifelt zu gelangen versuchen[…] Befestigungsmauern, Stacheldraht und Grenzbefestigungen sind also keineswegs von der internationalen Bildfläche verschwunden. Im Gegenteil: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Zerfall Jugoslawiens kam es zu etlichen neuen Staatsgründungen – von Estland über Serbien bis Georgien –, die mit der Errichtung neuer Grenzanlagen einhergingen. Diese intensive Produktion von Grenzen macht deutlich, was Grenzen gerade nicht sind und auch niemals waren: natürlich. Zwar sind natürliche Barrieren wie Flüsse, Küstenstreifen oder Gebirgszüge in der Vergangenheit immer wieder zu Grenzen erklärt worden, inzwischen aber herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Grenzen das Produkt menschlicher Handlungen sind. In der Konsequenz heißt dies, dass auch der Verlauf von Grenzen veränderlich ist: Grenzen können ab- und wieder aufgebaut werden.

Die primäre Funktion der Grenze besteht darin, die Intensität von sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Austauschbeziehungen zu regulieren, wobei Grenzen hinsichtlich ihres Durchlässigkeitsgrades variieren. Nur solange die Möglichkeit besteht, das Ausmaß der Grenzüberschreitungen regulieren und kontrollieren zu können, ist eine Grenze wirklich eine Grenze. Das Ziel einer Grenzerrichtung dürfte in den wenigsten Fällen darin bestehen, sie immer offen oder dauerhaft geschlossen zu halten. In aller Regel geht es darum, einen geregelten Verkehr von Personen zu ermöglichen. Grenzen bilden den Ort, an dem Grenzübertritte gewährt oder untersagt werden. Während bestimmte Menschen als unerwünscht zurückgewiesen werden, wird anderen die Einreise erlaubt. Je nach Bedarf des Einreiselandes können sich die Kriterien für die Entscheidung „erwünscht oder unerwünscht“ durchaus verändern. Grenzen sind Selektionsmaschinen, die einen Unterschied zwischen Einheimischen und Ausländern, innen und außen sowie eigen und fremd markieren.

Zur immanenten Ambivalenz der Grenze gehört, dass sie zwar Trennungen vornimmt, das Getrennte aber zugleich in Beziehung zueinander setzt. Beide Seiten – innen und außen, heimisch und fremd – sind wechselseitig konstitutiv. In dieser elementaren Funktion eines auf Differenz gegründeten Sozialen scheint auch der Grund für das hartnäckige Überdauern von Grenzen zu liegen. Weniger selbstverständlich ist hingegen, dass Grenzen sich im Raum …einschreiben. […] Grund genug, um das irenische Nachdenken über den Raum neu auszurichten und die Kämpfe um Raum wieder in den Vordergrund zu rücken. Nicht die wissenschaftlichen Theorien und Modelle bestimmen, mit welcher Art von Räumen und Konflikten wir es zu tun haben, sondern die handelnden Akteure. Wird dies nicht berücksichtigt, drohen fatale Fehleinschätzungen von politischen Situationen, vor denen auch eingefleischte Politprofis nicht gefeit sind: Erst kürzlich hat der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer in einem Interview mit dem Spiegel Wladimir Putins vermeintlich antiquierte Sicht der Dinge kritisiert: „Sein Kardinalfehler ist es zu glauben, dass Macht auch im 21. Jahrhundert von territorialer Größe abhängt. Aber sie hängt vor allem von wirtschaftlicher Stärke und einer breiten gesellschaftlichen Modernisierung ab.“

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