Sonntag, 3. Mai 2015

Nachschulung für New Yorks Polizisten

Michael Brown in Ferguson, ein 12-jähriger Junge in Cleveland, Eric Garner in New York: In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Fälle von Polizeigewalt. In New York sollen nun 22.000 Streifenpolizisten nachgeschult werden, um weitere Übergriffe zu verhindern.
mehr:
- Polizisten in New York | Bildquelle: AFP Polizeigewalt in den USA – Nachschulung für New Yorks Polizisten (Kai Clement, Tagesschau, 05.12.2014) Man beachte auch die Kommentare!
siehe auch:
- Heute vor 23 Jahren – 29. April 1992: Schwere Rassenunruhen in Los Angeles nach Freispruch von Polizisten  (Post, 29.04.2015)
- Das Allmachts-Problem vieler US-Cops (Ansgar Graw, Die Welt, 08.12.2014)
- Der Tag, an dem die US-Polizei mein Feind wurde (Ansgar Graw, Die Welt, 19.08.2014)

Der "wohl im letzten Moment vereitelten Terroranschlag in Hessen"

Die kritische Distanz im Journalismus schwindet, die FAZ hat erneut dafür ein peinliches Exempel statuiert

Mitunter könnte einen der Verdacht beschleichen, dass angesichts der Nöte der Bundesregierung bis hinauf zur Kanzlerin durch immer neue Enthüllungen über die Arbeit des BND und seines Kuschelns mit der NSA, ein Fall höchster terroristischer Bedrohung gerade recht käme. Die Festnahme des türkischstämmigen Paars in Oberursel war Donnerstagnacht vor dem Internationalen Radrennen "Rund um den Finanzplatz Frankfurt-Eschborn" erfolgt, weil die Polizei vermutete, dass womöglich ein Anschlag wie in Boston auf die Marathonläufer geplant gewesen sein könnte.


Das Radrennen wurde trotz der Festnahme abgesagt, einige hundert Radfahrer ließen es sich trotzdem nicht nehmen, am 1. Mai demonstrativ die Räder zu besteigen. Die Geste richtete sich gegen mögliche Islamisten, dass man sich nicht vor Angst zurückzieht, aber auch gegen die Behörden, die möglicherweise mit dem Verbot - nicht mit der Festnahme - überreagiert haben.

Mehr:
- Der "wohl im letzten Moment vereitelten Terroranschlag in Hessen" (Florian Rötzer, Telepolis, 03.05.2015)
mein Kommentar: klassische Win-Win-Situation: keiner macht was falsch, alle sind schön vorsichtig, die Bevölkerung ist wieder in Maßen aufgeregt…
Und wehe, wehe, wehe, was wäre gewesen, wenn’s Rennen nicht abgesagt worden und was passiert wäre, dann wären aber Köpfe gerollt.

AIIB: eine fortschrittliche Alternative zum IWF?

Die Gründung der Asiatischen Investitions- und Infrastrukturbank (AIIB) wird von vielen Beobachtern als ein für die zukünftige Entwicklung der Weltwirtschaft positives Ereignis gesehen

In den Augen der Befürworter wird die AIIB ein Gegengewicht zum US-dominierten IWF bilden, auf diese Weise die globale Macht des US-Dollars begrenzen und so ihren Teil zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung beitragen. Um diese Sichtweise auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, hier erst einmal ein kurzer Blick auf die Vor- und Entstehungsgeschichte der AIIB.
Die chinesische Regierung hat in den vergangenen Jahren mehrfach auf eine Erhöhung ihres Stimmrechts innerhalb des Internationalen Währungsfonds (IWF) gedrängt. Diese wurde ihr nicht gewährt. Daraufhin hat die Führung in Beijing im Juli 2014 zusammen mit den übrigen BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und Südafrika) die Gründung der "Neuen Entwicklungsbank" (NEB) und im Oktober 2014 die Gründung der AIIB angekündigt.

mehr:
- Ist die AIIB eine fortschrittliche Alternative zum IWF? (Ernst Wolff, 02.05.2015)

Gabriel: TTIP-Gerichtshof statt Schiedsstellen

Im Streit um TTIP hat Wirtschaftsminister Gabriel eine Alternative zu den umstrittenen Schiedsstellen erarbeiten lassen. Eigens für TTIP soll ein Gerichtshof gegründet werden, heißt es in einem Konzept Gabriels. EU und USA sollen dafür unabhängige Richter ernennen.
mehr:
- Wirtschaftsminister Gabriel legt Konzept vor – TTIP-Gerichtshof statt Schiedsstellen (Tagesschau, 02.05.2015, man beachte auch die Kkommentare!)

Ausspähen unter Freunden geht doch!

Codename SUSLAG - BND nutzte NSA-Material zur Ausspähung von Freunden und Verbündeten
Das Schweigen des BND, die Umgehung der G10-Kommission und die Desinformation im parlamentarischen NSA-Untersuchungsausschuss scheint solider motiviert zu sein, als bislang bekannt war. So hat der BND nicht etwa nur das Ausspionieren europäischer Partner geduldet und unterstützt - sondern offenbar auch selbst hiervon profitiert.

So berichtet die Bildzeitung von aufgefangener Kommunikation in Krisengebieten wie Telefonaten zwischen Afghanistan und Pakistan. Betroffen sei aber auch Kommunikation europäischer Unternehmen, Ministerien und Behörden, die in Nahost tätig seien. Mitgeschnitten worden seien nicht etwa nur Meta-Daten, sondern vollständige Aufzeichnungen von Telefonaten und E-Mails, Ton- und Textdateien. Im wohl besonders betroffenen Frankreich hält man sich bislang mit Kommentaren zurück - wo man mit Wirtschaftsspionage auch nicht schüchtern ist.

mehr:
- Ausspähen unter Freunden geht doch! (Markus Kompa, Telepolis, 02.05.2015)
siehe auch:
- „Der Bundesnachrichtendienst ist eine kriminelle Vereinigung“ – und Deutschland ist nicht souverän (Post, 27.04.2015)

Pressefreiheit in Saudi-Arabien: Blogger Badawi

In wenigen Ländern ist es schlechter um die Pressefreiheit bestellt als in Saudi-Arabien. Zum Symbol dafür wurde der Blogger Badawi, der zu 1000 Stockschlägen und langer Haft verurteilt wurde. Seine einzige Hoffnung ist der weltweite Zuspruch.
mehr:
- Internationaler Tag der Pressefreiheit – Wenn auf Worte Schläge folgen (Sabine Rossi, Tagesschau, 03.05.2015)
siehe dazu:
- Urteil in Saudi-Arabien: Zehn Jahre Haft und 1000 Peitschenhiebe für Blogger (SPIEGEL, 08.05.2014) Zitat:
Badawis Vergehen: Er hatte im Internet eine Debatte über das Verhältnis von Politik und Religion in Saudi-Arabien angestoßen. 2008 hatte er im Netz das Forum "Freie Saudische Liberale" gegründet, das fortan ins Visier der Behörden in dem konservativen Königreich geriet.

Nato reaktiviert das Rote Telefon für Ernstfall

Es ist ein Symbol des Kalten Krieges: Das Rote Telefon. Der Kommunikationskanal zwischen dem Westen und der Sowjetunion sollte den Dritten Weltkrieg verhindern. Auf deutsche Initiative reaktiviert die Nato nun die Direktverbindung zum russischen Militär.
mehr:
- Direkter Draht nach Moskau – Nato reaktiviert das Rote Telefon für Ernstfall (03.05.2015)

Vollzeitgehalt für 6 Stunden Arbeit

Nur noch sechs Stunden arbeiten pro Tag, und trotzdem das gleiche Gehalt einstreichen - für viele Arbeitnehmer ist dies ein Wunschtraum. In Schweden wird dieser in einigen Betrieben Realität. Sie haben diese verkürzte Arbeitszeit eingeführt. Ist das ein Schritt in die Zukunft? Zumindest ist es der Versuch einer Antwort auf die steigende Arbeitsbelastung und die steigenden Krankenstände.
mehr:
- Vollzeitgehalt für 6 Stunden Arbeit – Neues Arbeitsmodell könnte Schule machen  (n-tv-Mediathek, Video)

Protokollwünsche, re-traumatisierende Irritationen und die Suche nach den überforderten Schuldigen

Feine Gedecke für prominente Gäste, Holztische für die Überlebenden – nach der Gedenkfeier im KZ Ravensbrück wird Kritik an den Veranstaltern laut. Ein Helfer sagt: "Es war einfach beschämend."
mehr:
- Irritierende Zwei-Klassen-Gesellschaft in Ravensbrück (Die Welt, 26.04.2015)


»Meinungen sind wie Arschlöcher: Jeder hat eins.« (Clint Eastwood)

Ich habe mal eine Zeitlang bei der Friedensuniversität Berlin mitgemacht. Ich weiß, was für eine Veranstaltungsqualität dabei herauskpommt, wenn die Personaldecke sehr dünn ist. Wehe, man stolpert dabei über die Lichtschranken von Politik, Medien oder sonstigen Gutmenschen! Während einer Veranstaltung Im Agathenhof in Kärnten (damals ein Esoterik-Wellness-Hotel, heute ein »Gesundheitsresort«) Anfang der 90er kam ein Student aus Wien zu Besuch zu seiner Großmutter, die dort als ehemalige Angestellte kostenlos wohnen durfte. Dieser junge Mann gehörte in Wien zur rechtsradiklen Szene. Da war was los in den Medien hinterher!

Ein italienisches Fußball-Märchen

Ein Spieler-Etat von 3 Millionen Euro und ein Stadion, in das keine 4200 Zuschauer passen. In Carpi wird erfolgreich mit kleiner Kelle angerührt. Schon bald sollen hier Juve, Inter und Lazio spielen. 

Blitze und Donnergrollen leiten die Nachspielzeit des Fussballspiels zwischen Carpi und Bari ein. Der Himmel über dem Stadion Sandro Cabassi verfärbt sich in der Nacht auf Mittwoch in den unterschiedlichsten Violetttönen. Spannung liegt aber nicht nur in der Luft. «Nur noch 240 Sekunden trennen Carpi vom historischen Aufstieg in die Serie A», brüllt der Reporter des Lokalsenders Radio Bruno ins Mikrofon. Die knapp 4200 Zuschauer im randvollen Stadion sind elektrisiert. Auch sie wissen, dass das 0:0 genügen würde, um zu erreichen, was bis vor ein paar Monaten undenkbar war. Der Trainer Fabrizio Castori tigert im strömenden Regen vor der Bank auf und ab. Ein letztes Aufbäumen der Mannschaft aus Apulien könnte das Fussballfest noch ruinieren. Wie sich das anfühlt, wissen die Spieler. Ein paar Tage zuvor sind sie nach sieben Siegen in Serie in Frosinone gestrauchelt und haben die erste Gelegenheit zum vorzeitigen Aufstieg verpasst.

Ein Barkeeper als Türöffner
Nochmals werde sich die Mannschaft aber nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, zeigt sich Castori am Vortag des Spiels überzeugt. «Wir sind bereit für den letzten Schritt», sagt der 60-Jährige nach dem montäglichen Training in den heruntergekommenen Katakomben des Stadions. Die Mannschaft habe die Meisterschaft dominiert und sich den Aufstieg verdient.

Tatsächlich hat Carpi eine traumhafte Saison gespielt. Nach einem Start mit dem Ligaerhalt als Ziel zeigte sich rasch, dass es mit der Taktik des zu Saisonbeginn engagierten Trainers, die auf ein intensives, schnelles Spiel mit weiten Pässen in die Spitze fusst, möglich ist, auch Gegner zu schlagen, die auf dem Papier übermächtig erscheinen. Schritt um Schritt kletterte Carpi die Tabelle der Serie B hoch. Und wenn während der Vorrunde das Augenmerk des Vereins noch auf dem Punkte-Unterschied zu den Abstiegsplätzen lag, begann man Mitte Herbst mehr und mehr an das Unmögliche zu glauben. Nach den Weihnachtsferien grüsste die Mannschaft von der Tabellenspitze, hatte jedoch Mühe, ins neue Jahr zu starten. Mehrere Verletzungen unter anderem des nigerianischen Torjägers Jerry Mbakogu führten zu vier torlosen Remis in Folge.

Die Verfolger konnten daraus jedoch keinen Profit schlagen. Und so setzte Carpi zu einem Höhenflug an, bei dem der Mannschaft alles zu gelingen schien, ganz zum Ärger Claudio Lotitos. Der wiederholt in juristische Querelen verwickelte Präsident der SS Lazio Rom und Besitzer der US Salernitana sagte in einem mitgeschnittenen und Mitte Februar von den Medien publizierten Telefongespräch , dass der Aufstieg von Mannschaften wie Carpi der Serie A schade, weil sich die TV-Rechte nicht verkaufen liessen. Seither ist Lotito nicht nur in Carpi regelmässig Zielscheibe von Spruchbändern und Fan-Chören. Die Mannschaft dürfte derweil von solcher Polemik zusätzlich angespornt worden sein.

Spätestens seit dem 3:0-Sieg im Spitzenspiel gegen das einst so grosse Bologna Anfang April sei allen klar gewesen, dass diese Mannschaft heuer nicht mehr zu stoppen sei, erzählt Romeo Girelli. Der Besitzer des Caffè Madera und langjährige Carpi-Fan ist zum Mannschaftstraining gekommen, in der Hoffnung, ein Ticket für das seit Tagen ausverkaufte Dienstags-Spiel zu ergattern. Als er erfährt, dass sich eine Schweizer Zeitung für «seinen» Klub interessiert, lässt er alles stehen und liegen, um uns zum Klubhaus auf der gegenüberliegenden Seite des Stadions zu begleiten. Ohne uns ausweisen zu müssen oder kontrolliert zu werden, werden wir vom Barkeeper ins Herz der Klub-Verwaltung eingeschleust.

Im Innern des Gebäudes an der Via Carlo Marx geht es zu wie in einem Bienenhaus. Dauernd klingelt irgendwo ein Telefon. «Pronto!», widerhallt es von den nackten Wänden, die sich einzig durch die vielen Mannschafts-Fotos von einem Hinterstübchen eines in die Jahre gekommenen Tabacchinos unterscheiden. Die Gesichter, die von den vergilbten Postern lachen, freuen sich über gewonnene Meisterschaften der Serie D oder Aufstiege in die Serie C1. Vom «grande calcio» wurde in «Cäärp», wie die Stadt im lokalen Dialekt heisst, immer nur geträumt. Über weite Strecken seiner 106-jährigen Geschichte pendelte Carpi zwischen den Serien C, D – und noch tieferen Ligen. Im Jahr 2000 ging der Klub in Konkurs. In der Folge spielte die Mannschaft bis 2010 in Amateurligen, auf Plätzen, auf denen kaum ein Grashalm wuchs. Der erstmalige Aufstieg in die Serie B vor zwei Jahren wurde von den Fans bereits als «Ankunft im Paradies» bezeichnet – ohne die geringste Hoffnung auf mehr.

mehr:
- Italienisches Fussballmärchen – Carpi diem (Ronny Nicolussi, NZZ, 02.05.2015)

Nepal – Griechenland im Himalaya

Für Nepals Machtelite ist der Staat ein Mittel zur Selbstbereicherung. Auch deshalb ist das Land nach dem Beben so stark auf internationale Hilfe angewiesen. Die Geber laufen Gefahr, diese Missstände zu verfestigen.

Einer der meistgehörten Sätze dieser Tage in Kathmandu ist ein Misstrauensvotum. «Vom Staat erwarten wir nichts.» Die Menschen unter den Zeltplanen, die aus Furcht vor Nachbeben nicht in ihre Häuser zurückkehren wollen, die Freiwilligen, die in den Trümmerhaufen nach Überlebenden suchen, die Verschonten, die den weniger Glücklichen mit Nahrungsmitteln helfen – von der Regierung erwarten sie nichts. Und dies zu Recht, denn mit Ausnahme der Armee glänzen die staatlichen Institutionen nach der schwersten Naturkatastrophe der letzten acht Jahrzehnte in jeglicher Hinsicht mit Abwesenheit. Die Auftritte von Premierminister Koirala an Unglücksorten lassen sich an einer Hand abzählen.

Günstlingswirtschaft

«Nepals Eliten haben den Staat nie als Leistungserbringer für das Volk, sondern immer als Bereicherungsmöglichkeit verstanden», erklärt Thomas Bell. Der Brite lebt seit über einem Jahrzehnt in Nepal und hat mit dem Buch «Kathmandu» eine vielbeachtete Beschreibung seiner Wahlheimat vorgelegt. «Auch vor dem Beben funktionierten Wasser- und Stromversorgung dort am besten, wo Günstlinge der Regierung lebten. Das Einzige, was die Regierung effizient betreibt, ist die Bewirtschaftung ihres Patronagesystems.» Auch nach dem Hochwasser im Sommer 2014 habe die Regierung nicht viel mehr getan, als internationale Hilfe zu fordern.

Natürlich ist Nepal nicht das einzige arme Land mit Eliten, die sich nicht um das Wohl der Bevölkerung kümmern. Die Stabilität der Machtverhältnisse ist aber aussergewöhnlich. Der Himalajastaat war nie eine westliche Kolonie, seit dem 18. Jahrhundert herrscht eine relativ homogene städtische Oberschicht aus Angehörigen der höchsten Kasten über nahezu alle Aspekte des Lebens. Dies hat sich auch nicht geändert, als nach dem Ende des Bürgerkrieges die Monarchie abgeschafft wurde. Das Land führt zwar demokratische Wahlen durch, ist aber weiterhin von feudalen Machtstrukturen geprägt. Wie stark diese auf enge Kreise in Kathmandu beschränkt sind, zeigt sich auch daran, dass ältere Generationen von «Nepal» sprechen, wenn sie die Hauptstadt meinen. Das Machtzentrum steht fürs ganze Land. Wer nicht dazugehört, sieht nur im Ausland Perspektiven. Kaum ein Land der Erde ist so stark auf Überweisungen von Gastarbeitern im Ausland angewiesen wie Nepal.

mehr:
- Nepals korrupte Eliten – «Vom Staat erwarten wir nichts» (Volker Pabst, NZZ, 03.05.2015)
»Die in Teilen Griechenlands über 400 Jahre währende osmanische Herrschaft führte dazu, daß die Griechen den Staat im wesentlichen als Ausbeuter erlebten. Während in Westeuropa ein selbstbewußtes Bürgertum entstand, welches den Staat als das eigene Staatswesen, als die eigene bürgerliche Republik empfand, war der Staat für die Griechen gleichbedeutend mit Fremdherrschaft, gegen die es sich zu wehren galt und die man haßte. Steuervermeidung und Diebstahl von staatlichem Eigentum waren typische Abwehrreaktionen. Diese Einstellung zum Staat wurde zu einer Tradition, die bis heute fortwirkt.« (Heinz A. Richter, Athener Klientelismus, in: Lettre international 96, Frühjahr 2012)

Im Irak im Schützengraben

Es gibt Soldaten, die Strichlisten über die getöteten Feinde führen. Einer hat eben seinen 182. Strich gemacht. Mit den kurdischen Peschmerga, an der Front im Nordirak, im Kampf gegen den «Islamischen Staat».

Dohuk, Nordirak, 40 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Morgens um sieben. Es ist sonnig, aber kalt. Allan, Cameran und ich stehen auf der Strasse herum und warten. Das Lokal, das gross mit «Caffee» angeschrieben ist, serviert keinen Kaffee. Der Mann, der schon an einem Kebab herumsäbelt, weiss gar nicht, wovon wir reden. Also trinken wir Tee, der wie immer viel zu süss ist.

Wir sind um fünf Uhr in Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan, aufgebrochen. Ausserhalb der Stadt assen wir unter Lastwagenfahrern im Neonlicht frischen Joghurt und warmes Brot. Jetzt warten wir auf unseren Fixer. Fixer werden in Ländern wie dem Irak jene Leute genannt, die für Journalisten übersetzen und organisieren, deren Hauptaufgabe aber darin besteht, dafür zu sorgen, dass der Journalist überlebt.

Unser Fixer soll uns heute an die Front bringen. Wir wollen sehen, wo die kurdischen Streitkräfte, die Peschmerga, gegen die Truppen des «Islamischen Staates» (IS) kämpfen. Doch als ich ihn vor einer Viertelstunde anrief, weckte ich ihn offensichtlich. Er versprach, gleich zu kommen. Bis er da ist, bleibt genug Zeit für die erste Auseinandersetzung des Tages.

Allan und Cameran kennen sich vom Studium, beide studierten internationale Beziehungen in Genf. Allan ist Schweizer, er hat über Kurdistan lizenziert, Cameran ist ein in der Schweiz aufgewachsener Kurde und feuriger Nationalist. Wie viele seiner Landsleute sieht er im momentanen Kriegs-Chaos im Mittleren Osten die Stunde für einen Kurdenstaat gekommen.

Letztes Jahr wollte er sich den Peschmerga anschliessen, er stellte sich vor, seine Ausbildung an der Panzerfaust im Schweizer Militär könnte nützlich sein. Doch seine Eltern protestierten. Neben dem IS gilt Camerans Feindschaft den Arabern im Allgemeinen und den Irakern im Speziellen. Dafür lässt er nichts auf Israel kommen; diese Sympathie ist in Kurdistan weit verbreitet. Umzingelt von Todfeinden, damit können sich die Kurden identifizieren.

mehr:
- Reportage: Im Irak im Schützengraben (Christoph Zürcher, NZZ, 03.05.2015)