Dienstag, 16. August 2016

Russland zwischen Ost und West, ungestümem Wachstum und wilder Marktwirtschaft

Russland Moskau zwischen Ost und West, ungestümem Wachstum und wilder Marktwirtschaft. Eine Rückkehr nach 30 Jahren (Teil 1)

Auf den Moskauer Lenin-Bergen gibt es diese herrlichen russischen Parkbänke, die so niedrig sind, dass auch Frauen die Chance haben, ihre Beine rechtwinklig aufzustellen. Links von mir erhebt sich das 1953 errichtete 240 Meter hohe Hauptgebäude der Lomonossow-Universität (MGU), rechts deren 2005 aus Marmor und Granit erbaute Bibliothek. Dorthin wollte ich gerade, erfuhr aber, die Bibliothek „arbeite“, wie man hier sagt, erst ab elf. Ein seltener Moment der Ruhe und des Nachdenkens darüber, was mir in dieser gigantisch-grandiosen, atemberaubenden Stadt so alles schon widerfahren ist.

Vor 30 Jahren war ich hier als Doktorandin am Lateinamerika-Institut der Akademie der Wissenschaften. In der ersten Hälfte der 80er lagen bleierne Jahre der Stagnation über dem Land. Die Perestroika ließ sich nicht vorausahnen, geschweige denn das, was danach noch kommen sollte. Nach fünf Jahren Studium in Leningrad („eine fremde Stadt hieß damals noch Leningrad, und das Meer hieß einfach Meer“, singt der unvergleichliche Hans-Eckardt Wenzel) hatte ich schon etwas „Russland im Blut“. Bis heute blieb dieses Land ein wichtiger Teil meines Fühlens und Denkens. Wissenschaftlich mit ihm beschäftigt habe ich mich freilich nie.

Olympische Geher


Drei Jahrzehnte später bin ich über die Ostpartnerschaft des Akademischen Austauschdienstes DAAD nach Moskau zurückgekehrt, nunmehr als Leipziger Professorin für Internationale Beziehungen, um Vorlesungen an der Moskauer Universität zu halten. Zwischen beiden Aufenthalten herrscht die absolute Leere, es fehlen Eindrücke der Gorbatschow-Zeit, des Umbruchs danach, der Jelzin- und Putin-Jahre. Ist das nachgerade ideal für den unvoreingenommenen Vergleich, weil keinerlei Zwischenerfahrung diffundieren kann?

Sicher hat sich mein Blick genauso gewandelt wie die Perspektive meiner russischen Gastgeber, einst treue, wenn auch nicht unkritische Bürger der sozialistischen Sowjetunion, heute angekommen in einer wilden Marktwirtschaft irgendwo zwischen russisch-orthodoxem Glauben, esoterischen Fiktionen, einem ordnungsschaffenden Putin und ja, noch immer, dem etwas sehnsüchtigen Blick nach Westen. Und Moskau selbst, wo erkenne ich Altes, Überkommenes? Und wo ist diese Stadt sogar westlichen Standards längst davongeeilt?

mehr:
- Geliebte Kakerlaken (Heidrun Zinecker, der Freitag, 10.08.2016)

ᴴᴰ Mythos Moskau - Metropole im Wandel [Doku] [Deutsch] [44:29]

Veröffentlicht am 08.04.2016
Einst als “drittes Rom” oder “Mütterchen Mokau” verklärt, ist Russlands Hauptstadt heute ein Moloch, der unter massivem Verkehr leidet. Autor Tom Kühne findet spannende Spuren von gestern, wenn er die Metropole im Wandel zeigt
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