Samstag, 8. Oktober 2016

Politik heute: Willkommen in der postfaktischen Welt!

Das Wort „postfaktisch“ ist in aller Munde. Angela Merkel beschrieb damit die Praxis, Gefühlen und Spekulationen mehr zu glauben als Tatsachen. Das ist verführerisch. Aber vor allem gefährlich
Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das hat nicht irgendwer gesagt, sondern die Kanzlerin Angela Merkel. Genauso hat sie es gesagt. Das ist ein Fakt. Wir konnten es alle sehen in der Bundespressekonferenz. Der Begriff „postfaktisch“ aber waberte schon vorher durch Zeitungen, Radio und Fernsehen. Die Kanzlerin selbst hatte es auf dem Rückflug vom G-20-Gipfel in China von Journalisten aufgeschnappt. Das Wort müsse sie erst einmal in ihren Wortschatz aufnehmen, sagte sie, so jedenfalls stand‘s im Spiegel. Ist das jetzt ein Fakt? Dazu später mehr.

Fakt ist aber, dass „postfaktisch“ das Wort der Woche ist, vermutlich wird es sogar das Wort des Jahres, ja, vielleicht wird es sogar einmal die Ära der Kanzlerschaft Angela Merkels definieren. Reingefallen. Das war jetzt natürlich Spekulation, mehr so ein Gefühl. Aber genau darum geht’s ja in der postfaktischen Welt, um die Vermischung von Tatsachen mit Gefühlen und Spekulationen und was dabei herauskommt.

mehr:
- Politik und Wahrheit: Willkommen in der postfaktischen Welt (Constantin Wißmann, Cicero, 23.09.2016)
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Wenn wir nicht mehr an das System glauben: Militärisch-industrielle Angstunternehmer

Hassprediger, Narziss, Rowdy, Aufschneider, Teilzeitclown, Vollzeitpsychopath, Hitzkopf, Rassist, Ignorant, Faschist, Wüterich, Autist – im Vokabular seiner Gegner fehlt kaum eine abwertende Bezeichnung für Donald Trump. Alle diese Zuschreibungen haben jedoch eines gemeinsam: Sie gehen davon aus, dass man es mit einem Außenseiter und Abweichler zu tun hat, der gängige Regeln verhöhnt, um die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Optimisten können mit diesem Befund gut leben. Der politische Alltag, so ihre Prognose, wird es richten, weil Trump wie alle Poltergeister vor ihm zwischen Anpassung und Untergang wird wählen müssen. Demnach wäre selbst ein zunehmend unwahrscheinlicher Wahlsieg im November mehr Katharsis als Katastrophe. Pessimisten hingegen haben den Glauben an die Integrationskraft US-amerikanischer Politik und Kultur längst verloren. In ihren Augen ist der republikanische Präsidentschaftskandidat ein nicht integrierbarer Störenfried, der einem amerikanischen Faschismus den Weg ebnen und am Ende zum Sprengmeister des Systems werden kann.

So unterschiedlich die Befunde auch klingen, sind sie doch aus ein und derselben Unterstellung abgeleitet: „The Donald“ verletzt nicht nur Normen, er fällt aus der Norm. Historisch belastbarer ist indes die Gegenthese: Trump entspricht – ganz unabhängig vom Wahlausgang – viel mehr der Norm, als die meisten wahrhaben wollen. Und genau hier liegt die eigentliche Gefahr des Phänomens Trump.

Selbstverständlich ist damit nicht gesagt, dass Trump eine Mehrheit vertritt oder auf sonstige Weise das moderne Amerika repräsentiert. Im Gegenteil: Dieses Land ist heute bunter denn je, nie zuvor war die Toleranz für Unterschiedliches und Vielfältiges derart ausgeprägt. Auch und gerade in der sogenannten Provinz – dem „fly-over-country“ zwischen San Francisco und New York – boomt der Markt alternativer Wirtschafts- und Gemeinschaftsprojekte zur Wiederbelebung krisengeschüttelter Kommunen.[1]

Und dennoch ist Donald Trump kein irrlichternder Fremdkörper. Er bedient sich vielmehr aus einem in allen Milieus vorhandenen Ideen- und Gefühlshaushalt. Auf diese Weise spielt er der Mitte der Gesellschaft ihre eigenen Melodien vor. Sie mögen schrill, verzerrt oder wie aus allen Fugen klingen – wiedererkennbar und eingängig sind sie trotzdem. Die Kohorte der Angstunternehmer

Damit reiht sich Trump in eine Kohorte politischer Aktivisten ein, die einen festen Platz in der amerikanischen Geschichte haben und immer wieder dem Land ihren Stempel aufdrücken konnten: den Angstunternehmern. Gemeint sind Choreografen von Emotionen, vor allem aber Stichwortgeber und Nutznießer von Ängsten.

Das Geschäft von Angstunternehmern besteht darin, Unsicherheit in Angst zu verwandeln, abstrakte Risiken in akute Gefahren umzudeuten und Gefahren umstandslos als Bedrohung innerer oder äußerer Sicherheit aufzubauschen. Ihr ungeschriebenes Statut lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Je rücksichtsloser das Spiel mit Ressentiments, Affekten und Ängsten, desto einträglicher die politische Dividende. Zwar versprechen Angstunternehmer stets eine Bändigung des Bedrohlichen, aber wenn sie im Geschäft bleiben wollen, müssen sie diffuse Ängste am Köcheln halten. Andernfalls verspielen sie ihr wichtigstes Kapital. Daher benötigen sie inszenierte Kulturkämpfe und eine Politik der moralischen Panik.

mehr:
- United States of Angst: Donald Trump und der Extremismus der Mitte (Bernd Greiner, Blätter für deutsche und internationale Politik, September 2016)
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siehe auch:
Ex-Botschafter Klaus Scharioth warnt vor Donald Trump (WAZ, 07.10.2016)
- Nie alleine mit Donald – Eigene Anwälte misstrauten Trump (n-tv, 07.10.2016)
- Von Martin Luther bis Donald Trump (Markgräfler Tagblatt, 07.10.2016)
- Präsidentschaftskandidat: Das denken Amerikaner in Deutschland über Donald Trump (Kölnische Rundschau, 06.10.2016)
- Donald Trump steht am Abgrund (Daniel Haufler, FR online, 05.10.2016)
- Trump und der rote Knopf: USA modernisieren ihre Atomwaffen-Arsenale (Olaf Standke, Neues Deutschland, 28.09.2016)
- „Postfaktisch“ – Donald Trump und die neue Dimension des Lügens (Christian Bos, Berliner Zeitung, 28.09.2016)
- Donald Trump kritisiert die Fed und warnt vor dem Crash (Goldreporter, 27.09.2016)
- Amerikas Muslime und die Furcht vor Donald Trump (Merkur, 27.09.2016)
- TV-Kritik „Anne Will“: Bescheuerte Amerikaner? (Frank Lübberding, FAZ, 29.06.2016)

Anne Will | 25.09.2016 | Emotionen statt Fakten - Warum ist Trump so erfolgreich? | [1:00:46]

Veröffentlicht am 25.09.2016
Anne Will mit Thomas Gottschalk, Martin Schulz, Oskar Lafontaine, Constanze Stelzenmüller, Roger Johnson
sendung vom 25.09.2016

- Bruce Springsteen: Donald Trump ist ein Vollidiot (Münchner Abendzeitung, 24.09.2016)
- Donald Trump Says Earth Is Flat (Maine Republic Email Alert, 20.09.2016)
- Noam Chomsky: "Trump-Unterstützer sind nicht die Armen" (FR online, 16.09.2016)
- Demokratie: Kampf der Gefühle? (Luisa Theresa Braun, der Freitag, 14.09.2016)
- US-Aktien schwächer - Politische Unsicherheit dominiert (Passaurer Neue Presse, 24.08.2016)
- Politik und Unsicherheit: Strategien in einer sich wandelnden Sicherheitskultur (Christopher Daase, Stefan Engert, Georgios Kolliarakis, Hrsg., Campus Verlag, 2014, GoogleBooks)
- Die Unsicherheit von der Angst trennen (Jochen Volz, 32. Biennale São Paulo, Goethe Institut Brasilien, 2016)
- Widerstand 1933-1945 - Sozialdemokraten und Gewerkschafter gegen Hitler – Untergang der Weimarer Republik (Ankündigung Wanderausstellung, Friedrich-Ebert-Stiftung)

Planet Wissen - Von der Weimarer Republik zum Zweiten Weltkrieg [58:18]

Veröffentlicht am 31.05.2012
Was die radikalen Nationalisten in Frankreich einte, war ihre Abscheu gegen die "korrumpierten politischen Parteien", die ihrer Meinung nach nicht ausreichend für die nationalen Belange Frankreichs kämpften. Im Gegensatz dazu traten sie betont unpolitisch auf und gaben vor, die Interessen der "guten Franzosen" zu vertreten und das "bedrohte Vaterland" zu retten. Sie diffamierten Juden und "Ausländer", die sie aus der nationalen Gemeinschaft ausschließen wollten. Sie sehnten sich nach einem starken Mann an der Spitze des Staates und wollten die Klassengegensätze überwinden.
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La Rocques Partei griff dabei Themen wie Arbeit, Familie und Vaterland auf, die zuvor von den Konservativen besetzt waren. Und wie die Konservativen forderte auch er eine Stärkung der Exekutive, predigte den Nationalismus der Schützengräben und vertrat traditionelle Werte. Er akzeptierte die Spielregeln des Parteiensystems und gab sich legalistisch, was ihm einige partielle Wahlerfolge einbrachte. Nachdem Marschall Philippe Pétain 1940 die Macht übernommen hatte, schloss sich La Roque dessen Kollaborationsregierung an. Doch nicht alle Parteimitglieder folgten ihm. Nicht wenige lehnten es ab, mit der neuen Regierung in Vichy zu kooperieren. Aus patriotischen Gründen schlossen sie sich dem Widerstand an. [Französischer Faschismus – Die Republik widersteht (Ulrich Pfeil, ZEIT, 17.10.2013)]