Sonntag, 30. März 2008

Real existierender Kapitalismus vor der Haustür

Kleingärten sollen Boehringer weichen

Pächter der Kolonie „Gartenheim“ sind entsetzt. Denn die Stadt plant für das neue Forschungszentrum die Flächen von 39 Parzellen ein.

Von Rüdiger Meise

Für das Vorhaben der Stadt, in Kirchrode ein Tierimpfzentrum der Firma Boehringer-Ingelheim anzusiedeln, sollen 39 Kleingärten der Kolonie Gartenheim weichen. So sieht es der Entwurf des entsprechenden Bebauungsplans vor, der dieser Zeitung vorliegt.
Bislang war lediglich bekannt, dass Boehringer auf dem Gelände der ehemaligen Kleingartenkolonie „Sommerlust“ bauen möchte. „Erst nach hartnäckigen Recherchen haben wir erfahren, dass die Stadt auch mit unserem Gelände plant“, sagt Elke Britz, deren Garten betroffen ist. Für die im Plan der Stadt ausgewiesene „Sonderfläche für Wissenschaft und Forschung“ und eine dazugehörige Frei- und Grünfläche müssten 39 Kleingärten abgerissen werden, sagt Britz. „Wir waren erschüttert.“

Die Grafik zeigt die Lage der Kleingartenkolonie Gartenheim.

Stadt-Sprecher Dieter Sagolla bestätigte gestern, dass „dies der momentane Planungsstand“ sei. Weitere Stellungnahmen lehnte der Sprecher jedoch mit Verweis auf die geplante Informationsveranstaltung am 2. April ab, bei der Vertreter der Stadt und von Boehringer-Ingelheim das Vorhaben vorstellen wollen.
Nach Angaben von Karl-Heinz Rädecker, Bezirksvorsitzender des Kleingärtnerverbands, wäre eine Kündigung des Generalvertrages zwischen der Stadt und dem Verband erst zum Februar 2009 möglich. Im gleichen Jahr plant Boehringer-Ingelheim mit dem Baubeginn für das Tierimpfzentrum.
Viele der betroffenen Kleingärtner sind nach Auskunft des Gartenheim-Vorsitzenden Michael Günther nicht gewillt, ihre Parzelle herzugeben, zumal die Kolonie nicht über Ersatzflächen verfüge, sagt Günther. „Bei uns stehen lediglich zwei Gärten leer.“ In einer Hauptversammlung am 4. April wollen die Mitglieder des Vereins „Lange Laube“, dem die Kolonie angehört, ihr weiteres Vorgehen besprechen. Kleingärtner-Chef Rädecker sichert die Unterstützung des Bezirksverbands zu – „ganz gleich, wie sich der Verein entscheidet“. Immerhin bestehe die Möglichkeit, eine Kündigung des Pachtvertrags abzulehnen. „Dann geht die Sache vor Gericht“, sagt Rädecker.
Elke Britz, deren Kleingarten ebenfalls dem Tierimpfzentrum weichen müsste, steht der Sinn nach Widerstand. „Es ist doch ganz logisch, dass Boehringer mittelfristig in Hannover expandieren will“, sagt sie – und befürchtet, dass dann auch der Rest der 80 Jahre alten Kolonie dem Konzern weichen müsste. Derzeit verfügt Gartenheim über 267 Parzellen.
Laut Bundeskleingartengesetz müsste die Stadt im Fall einer Kündigung des Pachtvertrags Entschädigung zahlen oder Ersatzflächen zur Verfügung stellen. Komplizierter könnte das Problem für die Stadt allerdings durch Kurt Großmann werden. Der 74-Jährige ist nicht Pächter, sondern Eigentümer seines Kleingartens. 1960 hatte sein Vater das 2400 Quadratmeter große Grundstück gekauft, hier hält Großmann Schafe und Hühner, züchtet Kaninchen und Blumen zwischen Gartenzwergen und rostigem Werkzeug. Für ihn kommt ein Verkauf der Parzelle nicht infrage. „Das hier ist mein Lebenswerk“, sagt er, und zeigt dann auf einen Baum auf seinem Grund. „Und wenn die mich enteignen, hänge ich mich hier auf.“

Kurt Großmann will seinen Kleingarten unter keinen Umständen abgeben.

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KOMMENTAR
Besser informieren


Es vergeht derzeit keine Woche, in der Boehringer-Ingelheim und die Stadt nicht neue Verärgerung auslösen: Erst kommen angekündigte Info-Briefe nicht an, dann fühlt sich die Lebenshilfe nicht ausreichend informiert darüber, was der neue Nachbar ihres Behindertenwohnheims plant, und jetzt stellen Kleingärtner entsetzt fest, dass die Stadt längst plant, für den Bau ihre Parzellen abzureißen.
Natürlich ist das Vorhaben umstritten, ein Tierversuchszentrum in einem Wohngebiet zu bauen. Umso wichtiger ist es, offen darüber zu informieren. Doch seit Tagen beantwortet die Stadt keine Fragen mehr – und verweist auf die Info-Veranstaltung am 2. April. Den Gegnern gibt dieses Verhalten nur neue Argumente an die Hand: Was gibt es da zu verschleiern? Mit ihrer – freundlich ausgedrückt – zurückhaltenden Informationspolitik zieht die Stadt den Unmut immer neuer Bevölkerungsgruppen auf sich. So war vonseiten der Kleingärtner bislang keine Kritik zu hören, obwohl ihre Parzellen direkt an das geplante Boehringer-Gelände angrenzen. Dass die Stadt ihren Interessen jedoch so wenig Beachtung schenkt, muss sie verärgern. Unterschätzen sollte man im Rathaus den Unmut der Anwohner nicht. Schließlich haben Bürgerproteste die Ansiedlung Boehringers in Tübingen verhindert. Rüdiger Meise
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aus der Hannoverschen Allgemeine Zeitung vom 28.03.2008



Große Angst um kleine Gärten

Die Besitzer der Kolonie „Lange-Feld-Straße“ fürchten, daß sie ihre Parzellen für die Ansiedlung von Boehringer Ingelheim räumen müssen. Das Unternehmen setzt derweil auf „eine faire Lösung“.

Die Kleingartensiedlung Gartenheim steht auf dem geplanten Boehringer-Gelände: Michael Günther und Elke Britz vom Verein „Lange-Feld-Straße“ sorgen sich um ihre Parzellen.


Von Rüdiger Meise

Wie ein Lauffeuer wurde die Nachricht gestern in der Kleingartenkolonie Gartenheim von Parzelle zu Parzelle weitergegeben: Boehringer Ingelheim hat bereits den größten Teil der Fläche gekauft, auf der die Kleingärten stehen, die dem geplanten Tierversuchszentrum des Pharmakonzerns weichen sollen. „Viele sind niedergeschlagen“, sagte Michael Günther, Vorsitzender des Vereins „Lange-Feld-Straße“, zu dem die Kolonie gehört. Erst gestern war bekannt geworden, dass Boehringer mit einer Fläche plant, auf der 39 Kleingärten stehen.
Die Stadt hatte gestern den Verkauf bekannt gegeben und mitgeteilt, der Bezirksverband der Kleingärtner und die Kolonie Gartenheim seien bereits am 3. März informiert worden, dass ihre Flächen für die Boehringer-Ansiedlung benötigt würden. Dem widerspricht Kleingärtnerpräsident Karl-Heinz Rädecker: „Eine glatte Lüge!“ Auch Vereinsvorsitzender Günther beteuert, er wisse nichts davon.
Für Rädecker ändert sich durch den Verkauf der Fläche „erstmal gar nichts“. Nun müsse eben nicht der alte Eigentümer, sondern Boehringer den Pachtvertrag kündigen, um die Flächen nutzen zu können.
Der Justiziar des Bezirksverbandes, Gerd Pinkvoß, rechnet damit, dass der für 2009 geplante Baubeginn auf dem Gartenheim-Gelände mit juristischen Mitteln um bis zu drei Jahre verzögert werden könnte, „wenn sich die Kleingärtner zum Widerstand entschließen sollten“. Die Pachtverträge könnten frühestens im Februar kommenden Jahres gekündigt werden, und dagegen könnte der Bezirksverband Klage vor dem Verwaltungsgericht einlegen. Zuvor könnten die Kleingärtner die für den Boehringer-Bau notwendige Änderung des Bebauungsplans anfechten.
„Die besten Karten hat sicherlich Kurt Großmann“, sagt Pinkvoß. Der 74-jährige Großmann ist nicht Pächter, sondern Eigentümer seiner Parzelle und hat signalisiert, sein 2400 Quadratmeter großes Grundstück in keinem Fall verkaufen zu wollen. „Wenn man Großmann enteignen will, muss man nachweisen, dass diese Maßnahme dem Wohle der Allgemeinheit dient. Das könnte schwierig werden, wenn man sie damit begründet, ein Tierversuchszentrum in der Nähe eines Wohngebiets bauen zu wollen.“
Ob sich die Kleingärtner zum Widerstand entschließen oder eine Kündigung der Pachtverträge akzeptieren, wollen sie in einer Sitzung am 4. April beschließen. Rädecker rechnet damit, dass Boehringer Ingelheim jedem Laubenpieper mehrere Tausend Euro anbieten wird.
Die Firma Boehringer ist nach Angaben ihres Sprechers Andreas Breitsprecher „an einer fairen Lösung“ interessiert. Wie diese aussehen kann, wolle man gemeinsam mit der Stadt Hannover prüfen. Und die weist in ihrem Entwurf des Bebauungsplans „Nr. 1708 – Forschungszentrum Bemeroder Straße“ darauf hin, dass die geplante Bebauung des Geländes eine „zeitlich gestaffelte Realisierung“ zulasse. Das soll wohl heißen: Falls es mit der Kolonie Gartenheim Schwierigkeiten gibt, wäre denkbar, dass sich Boehringer zunächst vorwiegend auf die Fläche der seit längerer Zeit aufgelösten Kolonie „Sommerlust“ beschränkt. Bis die Probleme beseitigt sind.

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Grüne wollen öffentliche Anhörung

Das Forschungszentrum von Boehringer Ingelheim beschäftigt am Sonnabend den Parteitag der hannoverschen Grünen. Mehrere Mitglieder wollen den Vorstand beauftragen, eine öffentliche Anhörung zum Ansiedlungswunsch des Konzerns zu veranstalten. Anwohner, Politiker, Verwaltungsfachleute und Experten von Boehringer sollen ebenso zu Wort kommen wie Vertreter von Umwelt- und Tierschutzverbänden. Nach dieser Anhörung sollen die Grünen entscheiden, ob und in welcher Form sie zu dem von Oberbürgermeister Stephan Weil (SPD) forcierten Projekt stehen. Antragsteller Jörg Schimke sagte, das Forschungszentrum betreffe zentrale Fragen grüner Politik wie Tierschutz, Bürgerbeteiligung und Gentechnik.
Der Vorsitzende der Grünen-Ratsfraktion, Lothar Schlieckau, hatte vor Kurzem gesagt, das Zentrum könne kommen, wenn Gefahren für Mensch und Umwelt ausgeschlossen seien. Enno Hagenah, Landtagsabgeordneter der Grünen, erklärte, die Entwicklung von Impfstoffen auch mithilfe von Tierversuchen sei letztlich Tierschutz. Schimke sagt, „ungeprüft können die Grünen keine Unbedenklichkeitserklärung abgeben“, es gehe besonders um mögliche Massentierhaltung. gum

aus der Hannoverschen Allgemeine Zeitung vom 29.03.2008



Der Begriff »Tierimpfzentrum« ist allein schon einen Schönheitspreis wert. Er suggeriert, daß hier Tiere geimpft werden. Tatsächlich geht es aber um die Beforschung von Infektionen mit – teilweise genmanipulierten – Erregern. Während die Geruchsbelästigung der Anwohner in Tübingen nach Darstellung von Boehringer »weitgehend vermieden« werden soll, lautet die Darstellung für die Hannoveraner, eine Geruchsbelästigung sei »ausgeschlossen«. Was passiert eigentlich in fünf Jahren, wenn festgestellt wird, daß – trotz aller Beteuerungen der Firma – doch eine Geruchsbelästigung existiert?
Wieso sich die Firma mit ihrer Forschungsanstalt in eine Wohngegend setzt – in Tübingen spricht die Linke von »fußballfeldgroßen, mehrstöckigen Schweineställen« –, ist mir völlig unklar. Wie dreckig muß es den betroffenen Städten da gehen, daß die so eine Schweinerei mitmachen! In Leserbriefen der Linken in Tübingen ist von Rinderställen die Rede, die später hinzukommen sollen. Wieso geht man da nicht einfach 10 Kilometer raus auf die grüne Wiese?

Also was haben wir da? Einen Pharmagiganten, der die betroffenen Bürger nicht informiert und eine geschröderte neoliberale SPD, die baggerartig über die Köpfe ihrer Bürger hinwegregiert, schöne neue Welt…

Mir ist völlig schleierhaft, wie sowohl Pharmakonzern als auch Politik glauben, so mit den Menschen umgehen zu können. Die basteln sich ihren Gegenwind doch selber!

Zitat aus dem Internetauftritt der Wählergemeinschaft »Wir für Hannover«:

»Die ehemalige Tübinger Bürgermeisterin Brigitte Russ-Scherer (SPD) hatte nach ihrer Abwahl (also erst, als sie nichts mehr zu verlieren hatte!) eingeräumt, dass Boehringer bei dem geplanten Projekt in Tübingen größten Wert auf äußerste Diskretion und auf möglichst wenig Öffentlichkeit gelegt hatte.«

Zur Chronologie der Boehringer-Vorstellung in Tübingen beim Schwäbischen Tagblatt

Hier noch ein Link zu Schweinerei.Mietrechtkanzlei.de


Dazu paßt doch folgender Artikel ganz ausgezeichnet:


Glückliche Hühner

Wie eine kleine Bürgerinitiative aus Niedersachsen den Bau einer Legehennenfabrik verhinderte. Geschichte eines Erfolgs


Im »Kulturschatz Artland«, einer alten, traditionell-landwirtschaftlich geprägten Gegend nördlich von Osnabrück, wird es keinen Riesenstall für 300 000 Legehennen geben (siehe Publik-Forum 16/2007). Statt die Einweihung einer Eierfabrik feiert die kleine Bürgerinitiative namens Notgemeinschaft jetzt ihren großen politischen Erfolg. Sie hatte sich vehement gegen das Mammutprojekt gewehrt.

Dass sich eine Handvoll Menschen in einer strukturschwachen Gegend gegenüber einem Investor mit Geld durchsetzen konnte, hat vor allem zwei Gründe: Sachkunde und Überzeugungskraft. Der Initiative gelang es, im traditionell konservativen Artland sowohl die anliegenden Landwirte und Nachbarn als auch Verbandsvertreter und schließlich Politiker zu überzeugen, dass der geplante Riesenstall durch Ammoniak-Gestank, versäuerte Böden und kranke Wälder Gesundheitsgefahren für die Bewohner des Landstrichs bringen würde – und die Ansiedlung des Agrobusiness den umliegenden Bauern auch wirtschaftlich eher schaden als nutzen könnte.

Ein weiteres Plus der Initiative war ihre große Sachkunde: Wer eine Agrofabrik der geplanten Größenordnung bauen will, muss dem zuständigen Landkreis Osnabrück nachweisen, dass er alle umweltrechtlichen Vorschriften einhalten kann. Mit Professor Herman Van den Weghe hatte die Notgemeinschaft einen ausgewiesenen Experten in ihren Reihen, der seit Jahren zur Filtertechnik in der modernen Landwirtschaft forscht. Er entlarvte die Gutachten des Investors als bloße Zweckgutachten. Und überzeugte den Landrat davon, dass die Anlieger dafür sorgen würden, dass das Bundesimmissionsschutzgesetz, dessen Richtlinien ein solcher Stall unterliegt, auch tatsächlich angewendet wird.

Und so machten die Politiker vor Ort dem Käufer, der das Grundstück vermutlich mithilfe holländischer Investoren erworben hatte, klar, dass mit einer Genehmigung des Landkreises für die geplante Hennenfabrik nicht zu rechnen sei. Als Hans-Herbert Theile versuchte, sein Grundstück daraufhin an andere Investoren zu verkaufen, verloren diese das Interesse, als sie hörten, dass sie für eine Genehmigung etwa Messstationen im benachbarten Eichenwald bauen müssten. Und ihre Anlage ohne viel Federlesens geschlossen und auf ihre Kosten abgerissen wurde, sollte es ihnen nicht gelingen, die gesetzlichen Grenzwerte einzuhalten. So kaufte schließlich die Gemeinde das Grundstück zurück. Und eine kleine Initiative gegen die Massentierhaltung in Deutschland ließ die Korken knallen. • Gunhild Seyfert

aus Publik-Forum 3•2008

ei, ei, ei…

»Gottes Fuß im Dorf«



1600 Kilometer entfernt von der Industriestadt Bochum: Jucu in Siebenbürgen soll zum Hightech-Dorf werden.





Nokia schließt ein Werk in Bochum und investiert in ein rumänisches Dorf: Dort hofft man auf 3500 neue Arbeitsplätze und eine sprudelnde Einkommenssteuer


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Von Katharina Lötzsch


Bis vor einem Jahr herrschte auf dem 159 Hektar großen Acker am Nordrand der siebenbürgischen Gemeinde Jucu Stille. Jucu – das war ein verschlafenes Dorf, etwa 1600 Kilometer entfernt von der deutschen Industriestadt Bochum. Die Bauern fütterten ihre Schweine fett und hofften auf eine reiche Maisernte. Doch seit Frühjahr 2007 dröhnen die Bagger. Sie bauen ein Hightech-Dorf im Dorf: das Nokia Village.

Für rund 30 Millionen Euro haben der rumänische Staat und der Landkreis Cluj/Klausenburg dem finnischen Mobilfunkhersteller einen Industriepark maßgeschneidert. Noch kurven Baumaschinen über das eingezäunte Gelände, stapfen Arbeiter in dicken Gummistiefeln durch den schlammigen Boden. Doch die Standortvorteile sind eindeutig: Das Gelände liegt direkt an der Nationalstraße Richtung Klausenburg. Sogar Bahngleise zum Nokia-Werk wurden gelegt, der Klausenburger Flughafen soll für 95 Millionen Euro ausgebaut werden, und von der im Bau befindlichen transsilvanischen Autobahn wird ein Zubringer direkt zu Nokia führen.

Der Handyhersteller selbst will laut Aufsichtsratsvorsitzendem Veli Sundbäck 200 Millionen Euro investieren – Peanuts für ein Unternehmen, das im vergangenen Geschäftsjahr 7,2 Milliarden Euro Gewinn eingefahren hat. 60 Millionen fließen allein in die neue Werkhalle: Ein grauer Klotz ohne Fenster, aber mit vielen Rolltoren, den das Bielefelder Bauunternehmen Goldbeck errichtet hat. Vor zwei Wochen liefen dort bereits die ersten Handys »Made in Romania« vom Band, zum 11. Februar will Nokia von Testbetrieb auf Serienproduktion umstellen. Die Geräte sind für den Verkauf in Rumänien bestimmt oder sollen nach Asien und Afrika exportiert werden.

»Die Ansiedlung ist kein Beispiel für Rumänien als verlängerte Werkbank«, sagt Marko Walde, Geschäftsführer der deutsch-rumänischen Außenhandelskammer in Bukarest. Eine Reihe von Faktoren wie die Größe des einheimischen Marktes, das Investitionsklima und das gut ausgebildete Personal in der Region böten Nokia eben die günstigsten Bedingungen in ganz Europa. Zu den ehrgeizigen Plänen der Finnen gehört beispielsweise auch ein Forschungszentrum. Schon kurz nach der Gründung des Standortes wurden die ersten Ingenieure angestellt. Die Universität Klausenburg gilt in Rumänien als Kompetenzzentrum in der IT-Ausbildung.

Nokia hat sich bisher allerdings einen Maulkorb verordnet. Pressesprecherin Monica Alb wiegelt konsequent ab. Dabei gab sich Manager John Guerry der für Nokia die Fertigungsanlage in Jucu aufbaut, noch im vergangenen Jahr auskunftsfreudiger: »Unsere Intention war, ein Werk in Osteuropa zu eröffnen, das einen wachsenden Markt bietet«, sagte der 36-jährige Texaner, der die neue Fabrik künftig leiten soll, der rumänischen Presse.

Bisher wurden etwa 100 Mitarbeiter rekrutiert, teilte Daniel Don, Direktor des Arbeitsamtes Klausenburg, mit. Bis Jahresende soll die Belegschaft auf 1000 Arbeitnehmer anwachsen, doppelt so viele wie bisher geplant. 8500 Bewerbungen auf diese Stellen habe das Arbeitsamt bereits erhalten – die wenigsten allerdings aus Jucu. Für die Bauern des Dorfes fallen nur unqualifizierte Jobs ab. »Etwa 30 Leute arbeiten derzeit für private Subunternehmer: Sie putzen, reparieren und montieren im neuen Werk«, erzählt Bürgermeister Joan Dorel Pojar. Direkt bei Nokia in der Handyproduktion angestellt zu werden, das könnten sich nur die Jungen, die 18- bis 30-Jährigen vorstellen. Die Älteren machen kein großes Tamtam um den neuen Industriegiganten, sie sprechen beim Bier kurz darüber – um danach zu diskutieren, was im Frühjahr auf den Feldern ausgesät werden muss.

Wenn das Werk 2009 seine volle Kapazität erreicht, werden 3500 Menschen in Jucu für Nokia arbeiten. Hinzu kommen mehrere Tausend Arbeitsplätze hei den Zulieferfirmen. »Nokias große Pläne waren seit Monaten bekannt, nur die Verlagerung der Kapazitäten aus Bochum kam überraschend«, sagt Marko Walde von der Außenhandelskammer. Die Entscheidung finde er aber keineswegs verwerflich. Sie sei lediglich Ausdruck von Chancengleichheit und Wettbewerb in Europa.

Dass Rumänien Nokia aus Deutschland weggelockt habe, will sich auch in Juni niemand vorwerfen lassen. »Wenn das Werk auf höchster Kapazität gefahren wird, kassiert der rumänische Staat von Nokia etwa 100 Millionen Euro Steuern pro Jahr«, sagt Landrat Mario Nicoara. Ebenso habe Deutschland von den Steuern profitiert, die Nokia seit Bestehen des Bochumer Werks gezahlt habe. In Jucu sollen allein die Einkommenssteuern der Angestellten pro Jahr mehr als 100 000 Euro bringen – eine riesige Summe für das Dörfchen. »Dass sich Nokia für uns entschieden hat«, sagt Bürgermeister Pojar, »ist so, als hätten wir Gottes Fuß zu fassen bekommen.« Von dem Geld will der 51-Jährige die Straßen im Dorf asphaltieren lassen und die Kanalisation erneuern.

Natürlich tue es ihm um die Nokia-Angestellten leid. Aber warum kommen Deutsche nicht zu uns arbeiten, so wie drei Millionen Rumanen im europäischen Ausland arbeiten, fragt er. Der Durchschnittslohn in Rumänien liegt derzeit bei rund 320 Euro, in der Provinz eher noch darunter.

Und nein, sagt Ioan Plan, man habe Nokia nicht mit europäischen Fördergeldern ködern können, wie oft fälschlich erwähnt. Das Geld für den Ausbau des Industrieparks »Tetarom 3«, in dem das Nokia Village rund 90 Hektar einnimmt, stamme ausschließlich aus den Kassen von Kreis und Staat. Das Gelände wird jedoch häufig mit dem Klausenburger Gewerbeareal »Tetarom 1« verwechselt, das mit mehr als drei Millionen Euro aus den Töpfen des europäischen Subventionsprogramms Phare gefördert wurde. EU-Geld war in den Bau des Autobahnzubringers geflossen – jedoch kein Cent in die Nokia-Produktionsverlagerung von Deutschland nach Rumänien.

Bürgermeister und Landrat sind derweil voll damit beschäftigt, den Boom von Jucu zu verarbeiten. Ioan Pojar zeigt stolz auf seine drei Nokia-Handys, die ganze Familie telefoniere seit jeher mit Nokia. Dann muss er sich verabschieden, es gibt Wichtiges zu diskutieren: Die Grundstückspreise in dem 4000 Einwohner zählenden Dorf sind explodiert. Mehr als 40 Euro wollen die Besitzer nun pro Quadratmeter Bauland, der vor zwei Jahren noch drei Euro kostete. Aber die neuen Nokia-Mitarbeiter müssen ja schließlich irgendwo wohnen. •


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Kniefall vor Nokia

Die gespielte Entrüstung der Politik und die Lehren aus Bochum. Ein Zwischenruf

Die Empörung aller Parteien über den drohenden Verlust von 2300 Arbeitsplätzen bei Nokia und nochmals 2000 Jobs bei den Zulieferfirmen darf nicht darüber hinwegtäuschen: Hier ist viel Heuchelei im Spiel. Schließlich trägt die Politik vor Ort, im Bund und vor allem auf der Ebene der EU für das gnadenlose Subventionsnomadentum der Konzerne – in diesem Fall Nokia – eine riesige Mitschuld. Da die unbehinderte, grenzüberschreitende Liberalisierung der Standortwahl im Rahmen des EU-Binnenmarktes gewollt ist, muss man sich nicht wundern, wenn Konzerne an den Standort wandern, der für die kommenden Jahre hohe Renditen abwirft.

»Wir haben sehr sorgfältige Analysen der Kosten und der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit des Bochumer Werks durchgeführt. Die Entscheidung zur Schließung ist genau durchdacht.« Aus der bornierten Sicht dieses Konzerns ist die Produktionsverlagerung in den Landkreis Cluj in Siebenbürgen zweifellos rational. Dabei geht es nicht nur um die Ausnutzung niedriger Löhne, denn deren Anteil am Produktionswert der Nokia-Handys ist mit unter fünf Prozent sehr gering. Vielmehr realisiert Nokia ein neues Produktionskonzept. Aufgebaut wird ein »Nokia-Dorf«, in dem auch die Zulieferfirmen ihre Produktionsstandorte ansiedeln. Modernste Infrastruktur auch mit Qualifizierungs- und Forschungseinrichtungen gehört dazu. Dieses »Nokia-Cluster« bietet für die nächsten Jahre hohe Renditen im Handygeschäft.

Die Fehler der Politik beginnen mit zeitlich befristeten Subventionen für einen Großkonzern. Die Landesregierung hätte die Subvention in eine Kapitalbeteiligung umwandeln sollen. Dann wäre die Politik bei der Entscheidung über den Standort Bochum im Aufsichtsrat dabei gewesen. Im Kniefall vor Nokia hat es die Politik versäumt, die öffentliche Förderung einer kleinteiligen, risiko-diversifizierten und wissensorientierten Wirtschaftsstruktur zu wagen.


»Bei der Empörung der Politik ist viel Heuchelei im Spiel«
Rudolf Hickel



Den Subventionsskandal komplettiert dann noch die EU. Aus dem Topf für den Aufbau der Infrastruktur ist der nagelneue Industriepark unterstützt worden. Um es klarzustellen: Der Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur zum Aufbau von Unternehmen ist gerade auch in Rumänien dringend erforderlich. Nicht akzeptabel ist jedoch, dass renditestarke Unternehmen wie Nokia einen zuvor subventionierten Standort schließen, um diesen jetzt an anderer Stelle mit Zuschüssen aus dem EU-Gemeinschaftshaushalt zu eröffnen. Am Ende ist Nokia mit steigendem Profit der Sieger, während die Krisenkosten in Bochum vergesellschaftet werden.

So sind aus dem Fall Nokia wichtige Lehren zu ziehen. Dazu zählt der Boykott als Protestform der Konsumenten. Politisch muss es Mindeststandards für die Subventions- und Steuerpolitik sowie auch für die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in der Europäischen Union geben. Die Konkurrenz um die Standorte in der EU braucht gemeinsame Spielregeln. • Rudolf Hickel

Professor Rudolf Hickel ist Direktor des «Instituts Arbeit und Wirtschaft« in Bremen.
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aus Publik-Forum Nr. 3•2008


Extrapolieren wir das Ganze doch in die Zukunft: Irgendwo hinterm Mond werden dann von Wirtschaft und Staat zusammen Elite-Universitäten gebaut, die Studenten aus aller Herren Länder ausbilden, die nach ihrem Abschluß in der Fabrik nebenan dann Arbeit finden. Nach 20 Jahren ist die umgebende Infrastruktur soweit verbessert, die Preise für alles mögliche soweit gestiegen, daß der Troß dann weiterzieht. Wie sagte Bruno Jonas im Scheibenwischer vor einigen Wochen (sinngemäß zitiert): »Wenn die alle immer weiter nach Osten ziehen, dann brauchen wir nur einen langen Atem …«