Thubten Jigme Norbu, der ältere Bruder des Dalai Lama, verstarb am 5. September nach langer Krankheit und wurde am 11. September in Bloomington, Indiana, beigesetzt. Er war stets ein kompromißloser Verfechter der Unabhängigkeit Tibets anstelle einer bloßen Autonomie des Landes, und als solcher wurde er auch in den vielen Nachrufen gewürdigt. Doch weit mehr als Politiker war er als begeisterter Tibet-Experte mit einer starken emotionalen Bindung an seine Kultur und sein Volk sowie als starke und unabhängige Persönlichkeit bekannt. So wie die Nomaden der Region Amdo, denen er einen großen Teil seiner akademischen Studien widmete und denen er sich besonders verbunden fühlte, besaß er einen großen Freiheitsdrang und wollte sich nicht durch gängige Strukturen und Meinungen einengen lassen.
Er wurde im Jahre 1922 in einem kleinen Dorf nahe des großen Klosters Kumbum in der tibetischen Provinz Amdo, die heute einen Teil der chinesischen Provinz Qinghai bildet, geboren. Als Kind wurde er als Inkarnation von Taktser Rinpoche, einem hohen Lama der Gegend, erkannt. 1931 verließ er sein Zuhause, um Mönch zu werden. Seine Familie zog im Jahre 1939 nach Lhasa, nachdem sein jüngerer Bruder als der XIV Dalai Lama erkannt worden war. Im Jahre 1941, als Thubten Jigme Norbu ebenfalls nach Lhasa kam, um dort seine monastischen Studien zu vervollkommnen, wurde er wieder mit seiner Familie vereint. Er kehrte erst sieben Jahre später, als gerade die Kommunistische Partei in China gesiegt hatte, in das Kloster Kumbum zurück, das sich außerhalb des Territoriums befand, das der Regierung in Lhasa unterstand. In diesen chaotischen und turbulenten Zeiten war er den Mönchen des Klosters Kumbum dank seiner Verwandtschaft mit dem Dalai Lama eine große Stütze. Trotz seines jungen Alters wurde ihm angetragen, Abt des Klosters Kumbum zu werden.
Als die chinesischen Truppen im Herbst des Jahres 1949 in Amdo einmarschierten, geriet Taktser Rinpoche unter starken Druck von Seiten der kommunistischen Parteikader, die von ihm verlangten, Einfluß auf seinen Bruder zu nehmen. Er war empört über ihre Abwertung der traditionell-tibetischen Institutionen und ihre gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzten Reformen. In seiner Autobiographie beschreibt er diese entscheidende Periode seines Lebens als "bittere Erfahrungen". Weil er die Situation nicht länger ertragen konnte, trat er schließlich von seiner Position als Abt zurück und ging nach Lhasa, wo er seinen Bruder vor der unmittelbar bevorstehenden Gefahr warnte.
Als die Volksbefreiungsarmee die tibetischen Truppen in Osttibet überrannte und auf Lhasa zu marschierte, machte er sich gemeinsam mit seinem Bruder und dessen Gefolge auf den Weg in das kleine Dorf Chumbi nahe der Grenze zu Indien, wo die tibetische Führung die weiteren Entwicklungen abwarten wollte. Nach der Unterzeichnung des 17-Punkte-Abkommens im Jahre 1951, das eine Phase der Deeskalation einleiten sollte, beschlossen der Dalai Lama und seine Regierung, nach Lhasa zurückzukehren, wo sie mit der neuen Regierung der Volksrepublik China (VRC) zu kooperieren versuchten. Ausgehend von den negativen Erfahrungen, die er im Kloster Kumbum gemacht hatte, erachtete Thubten Jigme Norbu die Bemühungen jedoch für aussichtslos und beschloß, Tibet zu verlassen. Er begab sich über Indien auf den Weg in die Vereinigten Staaten. In den fünfziger Jahren reiste Thubten Jigme Norbu des öfteren zwischen Amerika und Asien, vor allem Japan, hin und her. Er wirkte an verschiedenen buddhistischen Foren mit und widmete sich wissenschaftlichen Studien. Wie sein Bruder Gyalo Thondup assistierte er der CIA bei ihrer Unterstützung des tibetischen Widerstandes. Außerdem hielt er immer wieder Vorträge über Tibet.
Als der Dalai Lama im Jahre 1959 endgültig ins Exil nach Indien floh, stand Thubten Jigme Norbu dort den Flüchtlingen bei und schrieb zusammen mit Heinrich Harrer, mit dem er sich während der vierziger Jahre in Lhasa angefreundet hatte, seine Lebensgeschichte nieder. In deutscher Sprache wurde dieses Buch im Jahre 1960 veröffentlicht.
Thubten Jigme Norbu war Repräsentant des Dalai Lama in den USA und in Japan. Er betätigte sich darüber hinaus als Wissenschaftler und veröffentlichte mehrere Artikel, und zusammen mit dem Anthropologen Colin Turnbull im Jahre 1968 ein Werk über Tibet. Er betrieb mit Eifer historische Studien und widmete sich den diversen kulturellen Aspekten Tibets. Sein besonderes Interesse galt den Nomaden in Amdo. Er sprach mehrere ihrer Dialekte sowie die mongolische Sprache. Er war Kurator des American Museum of Natural History in New York und lehrte bis zu seiner Pensionierung an der Indiana University in Bloomington, USA.
Politisch gesehen vertrat Thubten Jigme Norbu den Standpunkt: "Über den Status Tibets gibt es nichts zu verhandeln. Tibet ist Tibet." Er räumte dennoch ein: "… obwohl von chinesischer Seite nicht mehr als die Autonomie ermöglicht werden wird."
Im Jahre 1995 gründete er zusammen mit Larry Gerstein die amerikanische Organisation International Tibet Independence Movement. Alles in allem war er mehr ein politischer Individualist als eine Leitfigur und einige Male äußerte er sich sehr zurückhaltend über die Arbeit der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Auch verhielt er sich gegenüber der tibetischen Exil-Regierung in Dharamsala recht zurückhaltend und pflegte in den 90er Jahren zu bemerken: „Diese Gemeinschaft besteht lediglich aus einigen wenigen Familien – darunter meiner eigenen.“ Trotz seiner früheren Verbindung zu der CIA war Thubten Jigme Norbu skeptisch, was das Engagement der USA für die Sache Tibets anbelangte. In einem Interview mit dem indischen Journalisten Mayank Chhaya sagte er: „Ich glaube nicht, daß die USA etwas tun können, weil sie hauptsächlich am Dollar und daran, wie viel sie verkaufen, interessiert sind. Sie machen sich keine Sorgen über das Leiden der Tibeter. Sie interessieren sich für die Geschäfte.“ Obwohl er, kurz nachdem er Tibet verlassen hatte, seine Mönchsgelübde ablegte, blieb er persönlich immer dem Erhalt und der Verbreitung des Buddhismus verbunden. Er gründete das buddhistische Zentrum Kumbum Chamtse Ling und das Tibetisch-Mongolische Zentrum in Bloomington.
Elliot Sperling und Larry Gerstein, ITIM: "Takster Rinpoches Lebensgeschichte", siehe:
http://www.igfm-muenchen.de/tibet/Phayul/2008/TaksterRinpocheITIM.html
Übersetzung: Melanie Pelka, Adelheid Dönges, Revision: Angelika
Mensching
aus einer Mitteilung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), Arbeitsgruppe München