Etwa 1949 begannen kommunistische Truppen nach Nordost- und Osttibet (Kham und Amdo) einzudringen, und 1950 schon waren über 5’000 tibetische Soldaten umgekommen. Mit Blick auf die herrschende Situation entschloss sich die chinesische Regierung zu einer Politik der friedlichen Befreiung, die 1951 zur Unterzeichnung des 17-Punkte-Abkommens und seines Anhangs führte. Seitdem steht Tibet unter der Herrschaft der Volksrepublik China. Das Abkommen sieht jedoch ausdrücklich vor, dass Tibets einzigartige Religion und Kultur sowie seine traditionellen Werte geschützt werden sollen.
Zwischen 1954 und 1955 traf ich in Peking mit den meisten der hochrangigen chinesischen Führungspersonen der Kommunistischen Partei, der Regierung und des Militärs unter der Führung des Vorsitzenden Mao Zedong zusammen. Als wir darüber sprachen, wie die soziale und wirtschaftliche Entwicklung Tibets gestaltet und dabei das religiöse und kulturelle Erbe Tibets bewahrt werden sollte, erklärten sich Mao Zedong und alle anderen führenden Leute einverstanden, statt einer Militärverwaltungskommission lieber einen Vorbereitenden Ausschuss einzusetzen, der den Weg für die Errichtung einer Autonomen Region ebnen sollte, wie es im Abkommen vorgesehen war. Ab 1956 jedoch, als in Tibet eine ultralinke Politik eingeführt wurde, wendete sich die Lage zum Schlechteren. Das führte dazu, dass die Zusagen, die übergeordnete Staatsorgane gegeben hatten, vor Ort nicht eingehalten wurden. Die gewaltsame Durchführung der so genannten „demokratischen Reform“ in den tibetischen Regionen Kham und Amdo, die nicht im Einklang mit den Gegebenheiten vor Ort stand, führte zu Chaos und Zerstörung großen Ausmaßes. In Zentraltibet verstießen chinesische Beamte gewaltsam und absichtlich gegen die Bestimmungen des 17-Punkte-Abkommens, und ihre Politik der harten Hand verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Diese aussichtslose Entwicklung ließ dem tibetischen Volk keine andere Wahl als sich am 10. März 1959 friedlich zu erheben. Die chinesische Staatsmacht reagierte darauf mit beispielloser Gewalt, was in den folgenden Monaten dazu führte, dass Zehntausende Tibeter getötet, verhaftet und eingekerkert wurden. Deshalb floh ich in Begleitung einer kleinen Gruppe von tibetischen Regierungsbeamten, darunter einige Kalons (Minister), ins Exil nach Indien. In der folgenden Zeit flohen fast hunderttausend Tibeter ins Exil nach Indien, Nepal und Bhutan. Während der Flucht und in den Monaten danach litten sie unvorstellbare Not, die noch heute im tibetischen Gedächtnis lebendig ist.
Nach der Besetzung Tibets führte die chinesische kommunistische Regierung eine Reihe repressiver und gewaltsamer Kampagnen durch wie die „demokratische Reform“, den Klassenkampf, die Kommunen, die Kulturrevolution, die Verhängung des Kriegsrechts sowie in jüngerer Zeit die patriotische Umerziehung und die Kampagne des Hart-Zuschlagens. Dies stürzte die Tibeter in so tiefes Leid und Elend, dass sie buchstäblich die Hölle auf Erden erlebten. Das unmittelbare Ergebnis dieser Kampagnen war der Tod von Hunderttausenden von Tibetern. Die Kontinuität des buddhistischen Dharma wurde unterbrochen. Tausende religiöser Zentren – Mönchs- und Nonnenklöster und Tempel – wurden dem Erdboden gleich gemacht. Historische Gebäude und Denkmäler wurden zerstört, Naturschätze rücksichtslos ausgebeutet. Heute ist Tibets empfindliche Umwelt verschmutzt worden, Wälder wurden massiv abgeholzt und die Tierwelt, etwa die wilden Yaks und die tibetischen Antilopen stehen vor dem Aussterben.
Diese 50 Jahre haben dem Land und dem Volk von Tibet unermessliches Leiden und Zerstörung gebracht. Noch heute leben die Tibeter in Tibet in ständiger Angst, und die chinesische Regierung begegnet ihnen nach wie vor mit ständigem Misstrauen. Heute sind die Religion, die Kultur, die Sprache und die Identität, die Generationen von Tibetern höher geschätzt haben als ihr Leben, von Auslöschung bedroht; kurz gesagt: die Tibeter werden wie Verbrecher angesehen, die den Tod verdienen. In der Petition der 70’000 Zeichen, mit der sich der verstorbene Panchen Rinpoche 1962 an die chinesische Regierung wandte, hat er die Tragödie des tibetischen Volkes dargelegt. Noch einmal brachte er sie kurz vor seinem Tod 1989 in Shigatse zur Sprache, als er sagte, das, was wir unter der chinesischen kommunistischen Herrschaft verloren haben, wiege weit schwerer als das, was wir gewonnen haben. Viele besorgte und unvoreingenommene Tibeter haben sich ebenfalls zu den Nöten des tibetischen Volkes geäußert. Selbst der Sekretär der Kommunistischen Partei, Hu Yaobang, gab bei seiner Ankunft in Lhasa 1980 diese Fehler unumwunden zu und bat die Tibeter um Vergebung. Viele Infrastrukturmaßnahmen wie Straßen, Flughäfen, Eisenbahnenlinien usw., die scheinbar den Fortschritt in tibetische Gebiete gebracht haben, sind in Wirklichkeit mit dem politischen Ziel unternommen worden, Tibet zu sinisieren und dafür den hohen Preis der Zerstörung der tibetischen Umwelt und Lebensweise in Kauf zu nehmen.
Was die tibetischen Flüchtlinge betrifft, so ist es uns, ungeachtet vieler anfänglicher Probleme wie großer klimatischer und sprachlicher Umstellungen und der Schwierigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, gelungen, uns im Exil neu zu etablieren. Dank des Großmutes unserer Gastländer, vor allem Indiens, konnten die Tibeter in Freiheit und ohne Angst leben. Wir konnten unseren Lebensunterhalt verdienen und unsere Religion und Kultur bewahren. Wir konnten unseren Kindern sowohl die traditionelle als auch eine moderne Erziehung bieten und uns dafür einsetzen, die Tibetfrage zu lösen. Es gab auch noch andere positive Ergebnisse. So hat sich ein besseres Verständnis des tibetischen Buddhismus mit seiner Betonung des Mitgefühls in vielen Teilen der Welt positiv ausgewirkt.
Sofort nach unserer Ankunft im Exil begann ich an der Förderung der Demokratie in der tibetischen Gemeinschaft zu arbeiten und richtete zu diesem Zweck 1960 das tibetische Parlament-im-Exil ein. Seitdem sind wir auf dem Weg zur Demokratie Schritt für Schritt vorangekommen, und heute hat sich unsere Exilverwaltung zu einer voll funktionierenden Demokratie mit einem eigenen geschriebenen Statut und einer Legislative entwickelt. Das ist wirklich etwas, worauf wir alle stolz sein können.
Seit 2001 haben wir ein System institutionalisiert, mit dem die politische Führung der Tibeter im Exil durch Verfahren, ähnlich denen anderer demokratischer Systeme, direkt gewählt wird. Gegenwärtig läuft die zweite Amtsperiode des direkt gewählten Kalon Tripa (Vorsitzender des Kabinetts). Dadurch haben sich meine täglichen administrativen Pflichten verringert, und ich befinde mich heute in einem Zustand des Halb-Ruhestands. Doch für die gerechte Sache Tibets zu arbeiten ist die Pflicht eines jeden Tibeters, und solange ich lebe, werde ich diese Pflicht erfüllen.
Als Mensch ist mein Hauptanliegen die Förderung menschlicher Werte; darin sehe ich den wesentlichen Faktor für ein glückliches Leben auf individueller, familiärer und gesellschaftlicher Ebene. Als ein religiöser Praktizierender ist mir als Zweites die Förderung interreligiöser Harmonie ein Anliegen. Und mein drittes Anliegen ist natürlich die Tibetfrage. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass ich ein Tibeter mit dem Namen „Dalai Lama“ bin; wichtiger aber ist, dass es mit dem Vertrauen zu tun hat, das die Tibeter innerhalb wie auch außerhalb Tibets in mich gesetzt haben. Dies sind die drei wichtigen Anliegen, derer ich stets gewärtig bin.
Außer der Aufgabe, sich um das Wohl der tibetischen Gemeinschaft im Exil zu kümmern – eine Aufgabe, die sie recht gut erfüllt hat – besteht die Hauptaufgabe der Zentralen Tibetischen Verwaltung darin, auf eine Lösung der Tibetfrage hinzuarbeiten. Nachdem wir 1974 unsere für beide Seiten vorteilhafte Politik des Mittleren Weges formuliert hatten, waren wir bereit, auf das Gesprächsangebot einzugehen, das Deng Xiaoping 1979 machte. Es wurden viele Gespräche geführt und Erkundungsdelegationen entsandt. Dies brachte jedoch keinerlei konkrete Ergebnisse, und die formellen Kontakte brachen schließlich 1993 ab.
Dann führten wir 1996–97 unter den Tibetern im Exil eine Meinungsumfrage durch und holten, wo immer das möglich war, auch Anregungen aus Tibet ein. Es ging dabei um Vorschläge zu einem Referendum, mit dem das tibetische Volk den künftigen Kurs unseres Freiheitskampfes zu seiner vollen Zufriedenheit bestimmen sollte. Aufgrund des Ergebnisses der Umfrage und der Anregungen aus Tibet beschlossen wir, die Politik des Mittleren Weges fortzusetzen.
Seit der Wiederaufnahme der Kontakte im Jahre 2002 haben wir die Strategie verfolgt, auf einer einzigen offiziellen Schiene und mit einer einzigen Agenda vorzugehen, und haben acht Gesprächsrunden mit der chinesischen Regierung geführt. Daraufhin legten wir ein Memorandum über echte Autonomie für das tibetische Volk vor, in dem wir dargelegten, wie die in der chinesischen Verfassung festgeschriebenen Bedingungen für regionale Autonomie durch volle Anwendung der Autonomiegesetze erfüllt werden können. Das chinesische Beharren darauf, dass wir akzeptieren sollen, dass Tibet seit jeher ein Teil Chinas gewesen sei, ist nicht nur wahrheitswidrig, sondern auch unvernünftig. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, ganz gleich, ob sie gut oder schlecht war. Verfälschung der Geschichte zu politischen Zwecken ist unzulässig.
Wir müssen in die Zukunft blicken und zu unserem beiderseitigen Wohle arbeiten. Wir Tibeter suchen nach einer gesetzlich verankerten und echten Autonomie, nach einer Regelung, die es den Tibetern möglich macht, im Rahmen der Volksrepublik China zu leben. Wenn China dem Wunsch des tibetischen Volkes nachkommt, wird es in der Lage sein, Stabilität und Einigkeit zu verwirklichen. Wir unsererseits stellen keine geschichtlich begründeten Forderungen. Rückblickend betrachtet, gibt es heute kein Land auf der Welt – China eingeschlossen – dessen territorialer Status über alle Zeiten unverändert geblieben ist und auch in Zukunft unveränderlich ist.
Unser Bestreben, dass alle Tibeter unter einer einzigen autonomen Verwaltung zusammengefasst werden, steht im Einklang mit dem eigentlichen Sinn des Prinzips nationaler regionaler Autonomie. Es befriedigt auch die Grundbedürfnisse des tibetischen und des chinesischen Volkes. Die chinesische Verfassung und andere einschlägige Gesetze und Regelungen stellen dem nichts in den Weg, und viele führende Vertreter der chinesischen Zentralregierung haben dieses aufrichtige Bestreben akzeptiert. Als er das 17-Punkte-Abkommen unterzeichnete, erkannte Premierminister Zhou Enlai dies zwar als berechtigte Forderung an, doch sei es nicht der richtige Zeitpunkt, sie umzusetzen. Als 1956 das Vorbereitende Komitee für die „Autonome Region Tibet“ gebildet wurde, deutete Vizepremier Chen Yi auf eine Landkarte und sagte, wenn man Lhasa zur Hauptstadt der Autonomen Region Tibet, die alle tibetischen Gebiete in den anderen Provinzen mit einschlösse, machen könnte, dann wäre das ein Beitrag zur Entwicklung Tibets und zur Freundschaft zwischen der tibetischen und der chinesischen Nationalität – eine Ansicht, die vom Panchen Rinpoche und vielen anderen tibetischen Führungskräften und Wissenschaftlern geteilt wurde. Wenn die chinesischen Führer irgendwelche Einwände gegen unsere Vorschläge haben, dann hätten sie die Gründe dafür nennen und uns Alternativen zur Erörterung vorschlagen können, aber das ist nicht geschehen. Ich bin enttäuscht darüber, dass die chinesische Regierung nicht in angemessener Weise auf unsere aufrichtigen Bemühungen eingegangen ist, das Prinzip einer authentischen nationalen und regionalen Autonomie für alle Tibeter entsprechend der Verfassung der Volksrepublik China durchzusetzen.
Ganz abgesehen davon, dass der gegenwärtige Verlauf des sino-tibetischen Dialogs keine konkreten Ergebnisse gebracht hat, sind die tibetischen Proteste, die ganz Tibet seit März letzten Jahres erschüttert haben, brutal niedergeschlagen worden. Deshalb wurde im November 2008 eine Sonderversammlung von Exil-Tibetern einberufen, auf dem die öffentliche Meinung über unser weiteres Vorgehen erkundet werden sollte. Man hat sich auch bemüht, nach Möglichkeit Vorschläge von Tibetern in Tibet einzuholen. Das Ergebnis dieses Prozesses war, dass eine Mehrheit der Tibeter die Fortsetzung der Politik des Mittleren Weges voll unterstützt. Daher betreiben wir diese politische Linie jetzt mit größerer Zuversicht und werden uns weiterhin um eine echte nationale regionale Autonomie für alle Tibeter bemühen.
Seit undenklichen Zeiten sind das tibetische und das chinesische Volk Nachbarn. Auch in Zukunft werden wir miteinander leben müssen. Deshalb ist es für uns äußerst wichtig, in Freundschaft miteinander zu koexistieren.
Seit der Besetzung Tibets haben die chinesischen Kommunisten ein verzerrtes Propagandabild von Tibet und seinem Volk verbreitet. Deshalb gibt es in der chinesischen Bevölkerung nur wenige Menschen, die ein wahres Verständnis von Tibet haben. Es ist für sie tatsächlich sehr schwer, die Wahrheit zu finden. Auch gibt es ultralinke chinesische Führer, die seit dem letzten März enorme propagandistische Anstrengungen unternommen haben mit dem Ziel, das tibetische und chinesische Volk auseinander zu bringen und Feindschaft zwischen ihnen zu säen. Das hat leider dazu geführt, dass bei einigen unserer chinesischen Brüder und Schwestern ein negativer Eindruck von den Tibetern entstanden ist. Deshalb möchte ich, wie ich es auch früher schon wiederholt getan habe, ein weiteres Mal an unsere chinesischen Brüder und Schwestern appellieren, sich von solcher Propaganda nicht beeinflussen zu lassen, sondern stattdessen unvoreingenommen zu versuchen, Tatsachen über Tibet herauszufinden, so dass es nicht zu Entzweiungen zwischen uns kommt. Die Tibeter sollten sich ebenfalls um Freundschaft mit dem chinesischen Volk bemühen.
Wenn wir auf 50 Jahre im Exil zurückblicken, so haben wir viele Höhen und Tiefen erlebt. Aber die Tatsache, dass die Tibetfrage lebendig ist und die internationale Gemeinschaft zunehmendes Interesse daran zeigt, ist wirklich ein Erfolg. So gesehen zweifle ich nicht daran, dass die Rechtmäßigkeit der Sache Tibets sich durchsetzen wird, wenn wir weiterhin dem Weg der Wahrheit und der Gewaltlosigkeit folgen.
Wenn wir jetzt 50 Jahre im Exil begehen, dann ist es dringend geboten, den Regierungen und den Völkern der verschiedenen Gastländer, in denen wir leben, unsere tiefe Dankbarkeit auszusprechen. Wir befolgen nicht nur die Gesetze dieser Gastländer, sondern wir verhalten uns auch so, dass wir zu einer Bereicherung dieser Länder werden. In gleicher Weise sollten wir in unserem Bemühen um die Sache Tibets und um den Erhalt seiner Religion und Kultur unsere Zukunftsvision und Strategie gestalten, indem wir aus unseren Erfahrungen der Vergangenheit lernen.
Ich sage immer, wir sollten das Beste hoffen und auf das Schlimmste vorbereitet sein. Ob wir es von globaler Warte aus betrachten oder im Kontext der Ereignisse in China, es besteht Grund für uns, auf eine baldige Lösung der Tibetfrage zu hoffen. Doch wir müssen uns aber auch für den Fall gut vorbereiten, dass der tibetische Kampf noch für lange Zeit andauert. Dazu müssen wir unser Augenmerk vor allem auf die Erziehung unserer Kinder und die Ausbildung von Fachkräften auf verschiedenen Gebieten richten. Wir müssen auch das Bewusstsein für Umwelt und Gesundheit schärfen und das Verständnis für gewaltfreie Methoden und ihre Anwendung in der tibetischen Bevölkerung verbessern.
Ich möchte diese Gelegenheit auch benutzen, um der Staatsführung und dem Volk von Indien sowie der Zentralregierung und den Regierungen der Bundesstaaten meinen tief empfundenen Dank auszusprechen. Sie haben den Tibetern im Exil über die letzten 50 Jahre ungeachtet aller Probleme und Hindernisse unschätzbare Unterstützung und Hilfe geleistet. Ihre Freundlichkeit und Großzügigkeit lässt sich nicht ermessen. Ich möchte auch den führenden Politikern, den Regierungen und Völkern der internationalen Gemeinschaft sowie den verschiedenen Tibet-Unterstützungsgruppen meinen Dank für ihre großmütige Unterstützung aussprechen.
Mögen alle fühlenden Wesen in Frieden und Glück leben.
Der Dalai Lama
10. März 2009
per Mail erhalten von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Sektion München