Die Netzgemeinschaft ist laut und meinungsstark. Facebook erlaubt ihr fast alles. Und das ist ein Problem. Denn statt Auseinandersetzung mit Anstand grassiert Aggression ohne strafrechtliche Grenzen. Auch die Kommentarspalten unter Cicero-Artikeln werden für geschmacklose Entgleisungen missbraucht
Justizminister Heiko Maas hat sich ermannt. Er stemmt sich gegen die Flut des Unflats im Netz und verlangt von Facebook, der großen digitalen Müllschleuder, dass sie garantiert, was von der Leserbriefseite jeder Zeitung und Zeitschrift zu Recht erwartet wird: alles, was da steht, muss vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt und darf nicht strafrechtlich relevant sein.
Es ist ein asymmetrischer Krieg, den der Minister da aufnimmt. Weil die schiere Masse des Mülls im Netz es fast aussichtslos erscheinen lässt, mit den zuständigen Strafverfolgungsbehörden den Verfehlungen und Entgleisungen jenseits des guten Geschmacks nachzugehen. Während einer der Kommentatoren verfolgt wird, lassen tausende andere schon wieder ihrer Aggressionen freien Lauf, die so nicht stehen bleiben können.
Facebook hat nun auf den Brief des Ministers reagiert und Fehler eingeräumt, sich aber zugleich dahinter verschanzt, dass die Leserkommentare im Ausland geprüft würden und dass da deshalb manches durchrutschen würde. Was für eine erbärmliche Antwort, mit der der Fall nicht abgeschlossen ist, sondern eigentlich erst richtig beginnt.
Die NDR-Kollegin Anja Reschke hat sich vor kurzem harsch zu den Kloaken-Kommentaren geäußert. Und auch wir hier bei Cicero haben damit ein großes Problem. Wir sind ein Debattenmagazin und freuen uns deshalb grundsätzlich über unsere Community, die zum überwiegenden Teil fundiert, im gegenseitigen Respekt und mit guten Argumenten Gedankenanstöße und Analysen aus der Redaktion weiterdiskutiert. Das freut uns sehr.
mehr:
- Das ist die letzte Warnung (Christoph Schwennicke, Cicero, 28.08.2015)
mein Kommentar:
Ich war noch nie von Facebook begeistert, nach dem Überfliegen der Kommentare auf Til Schweigers Seite werd’ ich mich mit so einem Niveau nicht nochmal konfrontieren. Wieso die Aufregung? Keiner muß da hin.
Die Psychologie betreffenden Posts habe ich in »Roths Psychoblog« eingestellt. Eine Liste der Musikvideos findet sich unter »Tornado’s Music Favourites« (siehe unter »Links«). Das Posten eines Videos schließt das Hinzufügen des Infotextes mit ein. (Ich bemühe mich, offensichtliche Werbung wegzulassen) Dieser gibt also nicht notwendigerweise meine Meinung wieder! Das verwendete Bild stammt aus Bob Dylan’s Video »Jokerman«. Ich speichere keine Daten!
Freitag, 28. August 2015
Unverhofftes Wiedersehen – Fredmans Episteln
Der Prachtband »Fredmans Episteln ...« von Carl Michael Bellman in einer Reclam-Ausgabe von 1983; einer der Übersetzer war Peter Hacks
Alles findet sich wieder; man muss nur warten können und nicht auf die Tube drücken. An einem schönen, nicht zu heißen Julinachmittag des Jahres 2015 kam mein alter Nachbar und westfälischer Freund Roland auf die Terasse von Stéphane Collard geschlürt, einen Ort, an dem es sich bei bretonischem Apfelsaft, Pampelmusenlimonade, Crémant – auch aus dem Keller des großen Gérard Dépardieu –, Wein, Champagner, Brot, gesalzener Butter, Würsten, Schinken und Käse wohl sein lässt, solo oder in Gesellschaft, die ein Buch sein kann oder ein Mensch, und das sogar im Plural. Plätze, an denen ein munterer Austausch von Gedanken genauso möglich ist wie behagliches Schweigen, sind rar; man muss sie sich und den Seinen erhalten.
Roland hatte ein Buch dabei, und das nicht einfach so: Er schenkte es mir. Es war ein Prachtband, »Fredmans Episteln an diese und jene, aber hauptsächlich an Ulla Winblad« von Carl Michael Bellman, in einer Ausgabe des Verlags Philipp Reclam jun. Leipzig von 1983. Roland hatte es bei einem Trödler um die Ecke gefunden, einem, der durch Mieterhöhung hinfortgentrifiziert wird, wie das in Berlin-Kreuzberg die Regel ist, wo sich ein weltanschaulich desinteressiertes Publikum brei- und breitgemacht hat, vor dem auszuspeien verfehlt wäre, weil es nicht einmal diese überdeutliche Geste begriffe.
Alles findet sich wieder; man muss nur warten können und nicht auf die Tube drücken. An einem schönen, nicht zu heißen Julinachmittag des Jahres 2015 kam mein alter Nachbar und westfälischer Freund Roland auf die Terasse von Stéphane Collard geschlürt, einen Ort, an dem es sich bei bretonischem Apfelsaft, Pampelmusenlimonade, Crémant – auch aus dem Keller des großen Gérard Dépardieu –, Wein, Champagner, Brot, gesalzener Butter, Würsten, Schinken und Käse wohl sein lässt, solo oder in Gesellschaft, die ein Buch sein kann oder ein Mensch, und das sogar im Plural. Plätze, an denen ein munterer Austausch von Gedanken genauso möglich ist wie behagliches Schweigen, sind rar; man muss sie sich und den Seinen erhalten.
Roland hatte ein Buch dabei, und das nicht einfach so: Er schenkte es mir. Es war ein Prachtband, »Fredmans Episteln an diese und jene, aber hauptsächlich an Ulla Winblad« von Carl Michael Bellman, in einer Ausgabe des Verlags Philipp Reclam jun. Leipzig von 1983. Roland hatte es bei einem Trödler um die Ecke gefunden, einem, der durch Mieterhöhung hinfortgentrifiziert wird, wie das in Berlin-Kreuzberg die Regel ist, wo sich ein weltanschaulich desinteressiertes Publikum brei- und breitgemacht hat, vor dem auszuspeien verfehlt wäre, weil es nicht einmal diese überdeutliche Geste begriffe.
mehr:
- Unverhofftes Wiedersehen (Wiglaf Droste, junge Welt, 28.08.2015)
Allerlei Polohemdenträger defilierten vorbei, die Sorte Mann, die sich von Mausi einkleiden lässt, weil sie selbst sogar noch weniger Geschmack hat als diese und sich so gern wie bequem mit einem »Das kannst du doch gut tragen, Schatz!« aus der Welt der Erwachsenen ausschließen lässt. Nicht aber so Freund Roland: Tadellos gekleidet stand er da, ein Mann des tätigen Werks mit den Händen und ein Liebhaber der Dichtung.
Das Buch, das er mir schenkte, enthielt eine handschriftliche Widmung, die mich rührte: »Andreas«, der einmal die nach Carl Michael Bellman benannte »Bellman Bar« geführt hatte, in der ich mit ihm und wunderbaren anderen viele Nächte verbracht hatte, schrieb am dreizehnten Mai Zweitausendzwei hymnische Worte an einen »Karsten«, der damals das »Café Kreuzberg« besaß. Beide sind, aus unterschiedlichen Gründen, von ihrer Barinhaberschaft zurückgetreten, und beide Bars betrat ich seitdem nur noch ein einziges Mal und dann nie wieder. Perdü ist perdü; demjenigen aber, der sich nicht erinnern kann oder will, wird immer etwas Lebenswichtiges fehlen.
Rolands Geschenk an mich erwies sich als eine poetische Goldmine. Ohne unhöflich sein zu wollen, musste ich sogleich hinein – und wurde fündig. »Fredmans Epistel über einen unvorbereiteten Abschied, verkündet bei Ulla Winblads Frühstück an einem Sommermorgen im Grünen« wurde, wie manches andere im prallen Buch, nachgedichtet von dem mir überhaupt nicht unvertrauten Dichter Peter Hacks.
Frank Deppe, Konturen einer materialistischen Staatskritik
Der Staatsapparat hat vielfältige Funktionen. Linke streiten über das richtige Verhältnis zu ihm. Konturen einer materialistischen Staatskritik
In diesen Tagen erscheint im Kölner Papyrossa-Verlag in der Reihe »Basiswissen« aus der Feder von Frank Deppe der Band »Der Staat«. jW veröffentlicht daraus vorab das letzte Kapitel »Materialistische Staatskritik«.
(Frank Deppe ist Professor emeritus an der Universität Marburg und lehrte dort Politikwissenschaften)
Materialistische Staatsanalyse unterscheidet sich von der normativistischen (idealistischen) Staatsphilosophie (»guter Staat«), dem rechtswissenschaftlichen Positivismus sowie vom politikwissenschaftlichen Institutionalismus dadurch, dass sie den Staat als »Wirkungsform der Gesellschaft« (der Staatsrechtslehrer Hermann Heller; 1891–1933) betrachtet, d. h. den Zusammenhang von Eigentums- und Produktionsverhältnissen, der darauf beruhenden Struktur sozialer Ungleichheit und den politischen Formen wie den Funktionen des Staates thematisiert. Als »politisch« gelten ihr »dabei nicht nur Staat und öffentliche Gewalt und das auf sie unmittelbar bezogene Verhalten, sondern jede gesellschaftliche Aktivität (…), die die Struktur der Gesellschaft (also die Machtverteilung der sozialen Gruppen in der Gesellschaft) sei es verändern, sei es durch Machtgebrauch stabilisieren will. Staat und öffentliche Gewalt sind Institutionen der Gesellschaft; politisches Verhalten ist eine spezifische Form sozialen Verhaltens«.¹
Materialistische Staatsanalyse ist zugleich darin kritisch, dass sie – vor der Parteinahme für die subalternen Klassen selbst – die ungleiche Verteilung von Eigentum und Macht als Voraussetzung für gesellschaftliche und politische Konflikte anerkennt, die immer auch auf die Machtverteilung im Staat und auf dessen Funktion für die gesellschaftliche Ordnung zielen. Der Widerspruch zwischen sozialer Ungleichheit und den darauf beruhenden Machtasymmetrien in Gesellschaft und Politik auf der einen und der Überhöhung des Staates als quasi von Gott legitimierte Instanz bzw. als das Reich der politischen Gleichheit und der universalen Menschenrechte ist in die Konstitution des feudalabsolutistischen bzw. des bürgerlichen Staates eingeschrieben. Seit den Anfängen des Staates wird dieser Widerspruch von demokratischen Volksbewegungen »von unten« – in unterschiedlichen historischen Kontexten – artikuliert. Materialistische Staatsanalyse ist immer auch Staatskritik! Die Leitidee materialistischer Staatskritik hat die Utopie von »Herrschaftsfreiheit« zum Fluchtpunkt, die letztlich mit der Aufhebung der Klassengesellschaft verbunden ist.
Moderner Integrationsstaat
In Klassengesellschaften ist der Staat mit der doppelten Aufgabe konfrontiert, a) allgemeine Organisationsleistungen für die Gesellschaft zu erbringen, und b) den Klassengegensatz im Zaume zu halten, damit er nicht die alte Ordnung und deren Klassenprivilegien sprengt. Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen kommt dem bürgerlichen Staat wesentlich die Aufgabe zu, diese Verhältnisse a) durch die Rechtsordnung, b) durch seine Sanktionsgewalt, aber c) auch durch seine vermittelnden Funktionen zwischen den Klassen und Klassenfraktionen abzusichern.
Dieser »moderne Staat« (der zugleich ideologische Integrationsfunktionen übernimmt) – auf der Basis der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte, der Koalitionsfreiheit, des allgemeinen Wahlrechtes, der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung, der parlamentarischer Regierungsform und sozialer Grundsicherungen – ist immer schon Resultat von Kompromissen zwischen Fraktionen der herrschenden Klassen und zwischen der Bourgeoisie und den subalternen Klassen, also Resultat von Klassenkämpfen, Ausdruck von Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen, die sich auch in der Verfassung und im Staat selbst abbilden. Die Legitimation dieser Funktionen von Staatlichkeit wird noch dadurch unterstrichen, dass jeder Staat – als Nationalstaat – in Beziehungen der Konkurrenz (im Extremfall des Krieges), der Kooperation oder der Abhängigkeit zu anderen Staaten steht. Gerade weil er im System der internationalen Politik (auch in Bündnissen) die Interessen der herrschenden Klasse des eigenen Staates vertritt, muss er über die Mittel und die dafür notwendigen Organe (vor allem das Militär) verfügen.
Der »demokratische Kapitalismus«² der Golden-Age-Periode nach dem Zweiten Weltkrieg bekannte sich zum Prinzip des »Wohlfahrtsstaates« und der Vollbeschäftigung (bzw. zur keynesianischen Wirtschaftspolitik). Der Klassenkompromiss bestand darin, dass die Sozialdemokratie auf die Infragestellung des Privateigentums verzichtete und sich in die Front des Antikommunismus einreihte, während die bürgerlichen Kräfte Wohlfahrt und Vollbeschäftigung als Staatsziele anerkannten. Der Staat baute allerdings auch seine Gewaltapparate und seine ideologischen Staatsapparate (im Kampf gegen den Sozialismus/Kommunismus) aus und übernahm vielfältige Funktionen a) der Sicherung der Kapitalverwertung, b) des Ausbaus der Infrastruktur, c) der sozialen Reproduktion, d) der Kultur usw. Gerade in diesen Bereichen wurde der Doppelcharakter staatlicher Intervention evident: Auf der einen Seite wirkt im Zusammenhang der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften eine Vergesellschaftungstendenz, in der die von Friedrich Engels – im Zusammenhang seiner These vom »Absterben« des Staates – vertretene Auffassung zur Geltung kommt, dass es bei der Wahrnehmung solcher Funktionen eher um die »Verwaltung von Sachen« als um die »Herrschaft von Menschen über Menschen« geht. Stabilität von Gesellschaft erfordert Interventionen von seiten des Staates, die auf die Bewahrung bzw. Herstellung von Ordnung, sozialer Kohäsion und auch Sicherheit gerichtet sind. Soziale Beziehungen und individuelle Lebensperspektiven sind durch Recht und Gesetz nachgerade allumfassend reguliert. Auf der anderen Seite unterliegen auch staatliche Interventionen dieser Art dem Primat der Sicherung der kapitalistischen Grundordnung. Sie sind aber stets umkämpft, weil der Staat solche Aufgaben durch Abzüge (über Steuern und andere Abgaben) vom gesamtgesellschaftlichen Wertprodukt, also durch Abzüge von Profiten und Löhnen finanzieren muss. Dazu steigen die Kosten des Staates selbst (Anwachsen der Bürokratie). Dennoch: Die Kompromissbereitschaft der Bourgeoisie im »demokratischen Kapitalismus« war nicht nur der wirtschaftlichen Prosperitätskonstellation bis Anfang der 1970er Jahre geschuldet. Sie reagierte auch auf a) ihre geschichtliche Verantwortung für Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Krieg, b) die Stärke der (überwiegend) sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im eigenen Lande und c) die globalen Kräfteverhältnisse zwischen Kapitalismus und Sozialismus (Systemkonkurrenz).
mehr:
In diesen Tagen erscheint im Kölner Papyrossa-Verlag in der Reihe »Basiswissen« aus der Feder von Frank Deppe der Band »Der Staat«. jW veröffentlicht daraus vorab das letzte Kapitel »Materialistische Staatskritik«.
(Frank Deppe ist Professor emeritus an der Universität Marburg und lehrte dort Politikwissenschaften)
Materialistische Staatsanalyse unterscheidet sich von der normativistischen (idealistischen) Staatsphilosophie (»guter Staat«), dem rechtswissenschaftlichen Positivismus sowie vom politikwissenschaftlichen Institutionalismus dadurch, dass sie den Staat als »Wirkungsform der Gesellschaft« (der Staatsrechtslehrer Hermann Heller; 1891–1933) betrachtet, d. h. den Zusammenhang von Eigentums- und Produktionsverhältnissen, der darauf beruhenden Struktur sozialer Ungleichheit und den politischen Formen wie den Funktionen des Staates thematisiert. Als »politisch« gelten ihr »dabei nicht nur Staat und öffentliche Gewalt und das auf sie unmittelbar bezogene Verhalten, sondern jede gesellschaftliche Aktivität (…), die die Struktur der Gesellschaft (also die Machtverteilung der sozialen Gruppen in der Gesellschaft) sei es verändern, sei es durch Machtgebrauch stabilisieren will. Staat und öffentliche Gewalt sind Institutionen der Gesellschaft; politisches Verhalten ist eine spezifische Form sozialen Verhaltens«.¹
Materialistische Staatsanalyse ist zugleich darin kritisch, dass sie – vor der Parteinahme für die subalternen Klassen selbst – die ungleiche Verteilung von Eigentum und Macht als Voraussetzung für gesellschaftliche und politische Konflikte anerkennt, die immer auch auf die Machtverteilung im Staat und auf dessen Funktion für die gesellschaftliche Ordnung zielen. Der Widerspruch zwischen sozialer Ungleichheit und den darauf beruhenden Machtasymmetrien in Gesellschaft und Politik auf der einen und der Überhöhung des Staates als quasi von Gott legitimierte Instanz bzw. als das Reich der politischen Gleichheit und der universalen Menschenrechte ist in die Konstitution des feudalabsolutistischen bzw. des bürgerlichen Staates eingeschrieben. Seit den Anfängen des Staates wird dieser Widerspruch von demokratischen Volksbewegungen »von unten« – in unterschiedlichen historischen Kontexten – artikuliert. Materialistische Staatsanalyse ist immer auch Staatskritik! Die Leitidee materialistischer Staatskritik hat die Utopie von »Herrschaftsfreiheit« zum Fluchtpunkt, die letztlich mit der Aufhebung der Klassengesellschaft verbunden ist.
Moderner Integrationsstaat
In Klassengesellschaften ist der Staat mit der doppelten Aufgabe konfrontiert, a) allgemeine Organisationsleistungen für die Gesellschaft zu erbringen, und b) den Klassengegensatz im Zaume zu halten, damit er nicht die alte Ordnung und deren Klassenprivilegien sprengt. Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen kommt dem bürgerlichen Staat wesentlich die Aufgabe zu, diese Verhältnisse a) durch die Rechtsordnung, b) durch seine Sanktionsgewalt, aber c) auch durch seine vermittelnden Funktionen zwischen den Klassen und Klassenfraktionen abzusichern.
Dieser »moderne Staat« (der zugleich ideologische Integrationsfunktionen übernimmt) – auf der Basis der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte, der Koalitionsfreiheit, des allgemeinen Wahlrechtes, der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung, der parlamentarischer Regierungsform und sozialer Grundsicherungen – ist immer schon Resultat von Kompromissen zwischen Fraktionen der herrschenden Klassen und zwischen der Bourgeoisie und den subalternen Klassen, also Resultat von Klassenkämpfen, Ausdruck von Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen, die sich auch in der Verfassung und im Staat selbst abbilden. Die Legitimation dieser Funktionen von Staatlichkeit wird noch dadurch unterstrichen, dass jeder Staat – als Nationalstaat – in Beziehungen der Konkurrenz (im Extremfall des Krieges), der Kooperation oder der Abhängigkeit zu anderen Staaten steht. Gerade weil er im System der internationalen Politik (auch in Bündnissen) die Interessen der herrschenden Klasse des eigenen Staates vertritt, muss er über die Mittel und die dafür notwendigen Organe (vor allem das Militär) verfügen.
Der »demokratische Kapitalismus«² der Golden-Age-Periode nach dem Zweiten Weltkrieg bekannte sich zum Prinzip des »Wohlfahrtsstaates« und der Vollbeschäftigung (bzw. zur keynesianischen Wirtschaftspolitik). Der Klassenkompromiss bestand darin, dass die Sozialdemokratie auf die Infragestellung des Privateigentums verzichtete und sich in die Front des Antikommunismus einreihte, während die bürgerlichen Kräfte Wohlfahrt und Vollbeschäftigung als Staatsziele anerkannten. Der Staat baute allerdings auch seine Gewaltapparate und seine ideologischen Staatsapparate (im Kampf gegen den Sozialismus/Kommunismus) aus und übernahm vielfältige Funktionen a) der Sicherung der Kapitalverwertung, b) des Ausbaus der Infrastruktur, c) der sozialen Reproduktion, d) der Kultur usw. Gerade in diesen Bereichen wurde der Doppelcharakter staatlicher Intervention evident: Auf der einen Seite wirkt im Zusammenhang der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften eine Vergesellschaftungstendenz, in der die von Friedrich Engels – im Zusammenhang seiner These vom »Absterben« des Staates – vertretene Auffassung zur Geltung kommt, dass es bei der Wahrnehmung solcher Funktionen eher um die »Verwaltung von Sachen« als um die »Herrschaft von Menschen über Menschen« geht. Stabilität von Gesellschaft erfordert Interventionen von seiten des Staates, die auf die Bewahrung bzw. Herstellung von Ordnung, sozialer Kohäsion und auch Sicherheit gerichtet sind. Soziale Beziehungen und individuelle Lebensperspektiven sind durch Recht und Gesetz nachgerade allumfassend reguliert. Auf der anderen Seite unterliegen auch staatliche Interventionen dieser Art dem Primat der Sicherung der kapitalistischen Grundordnung. Sie sind aber stets umkämpft, weil der Staat solche Aufgaben durch Abzüge (über Steuern und andere Abgaben) vom gesamtgesellschaftlichen Wertprodukt, also durch Abzüge von Profiten und Löhnen finanzieren muss. Dazu steigen die Kosten des Staates selbst (Anwachsen der Bürokratie). Dennoch: Die Kompromissbereitschaft der Bourgeoisie im »demokratischen Kapitalismus« war nicht nur der wirtschaftlichen Prosperitätskonstellation bis Anfang der 1970er Jahre geschuldet. Sie reagierte auch auf a) ihre geschichtliche Verantwortung für Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Krieg, b) die Stärke der (überwiegend) sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im eigenen Lande und c) die globalen Kräfteverhältnisse zwischen Kapitalismus und Sozialismus (Systemkonkurrenz).
mehr:
- Organisierte Gewalt (junge Welt, 28.08.2015)
Der Kampf um die Neue Weltordnung & die "Deutsche Macht in der Mitte Europas" - Prof.Frank Deppe [1:38:54]
siehe auch:
- Vergesst die Parlamente! (Manfred Sohn, Streifzüge, 26.08.2015)
Seit dem Einknicken von Syriza vor dem Brüsseler Diktat ist die gesamte Linke gefordert, die Möglichkeiten und Grenzen linker Parteien zur Entwicklung antikapitalistischer Bewegungen gründlich zu überdenken
Euphorisch feierte der damals fast 70jährige Friedrich Engels die deutschen Wahlen vom 20. Februar 1890, in denen die Sozialistische Arbeiterpartei, also die spätere SPD, einen »überwältigenden Erfolg« errungen hatte¹. […] Der alte, erfahrene Engels irrte. Und niemandem ist ein Vorwurf zu machen, der wie er seine Erwartungen in die bürgerliche Parlamentswahlen setzt, um dem kapitalistischen Zwangssystem zu entkommen. 125 Jahre später aber ist es an der Zeit, nüchtern zu konstatieren, dass der von Engels gefeierte Ausgang der Reichstagswahlen nur am Beginn einer Reihe von Enttäuschungen stand. Von den zerstobenen Hoffnungen dieses Februars 1890 über den Irrglauben, mit der Wahl zum deutschen Reichstag nach 1919 oder in Chile 1973 auf parlamentarischem Weg zum Sozialismus zu gelangen, reicht diese Serie nunmehr bis zu den jüngsten griechischen Ereignissen, die in zweierlei Hinsicht einen Höhepunkt markieren.
Zum einen sind selten so deutlich ein siegreiches Wahlprogramm und eine Volksabstimmung in ihr glattes Gegenteil verkehrt worden wie durch Alexis Tsipras und seine Getreuen, die von der hiesigen Partei Die Linke (PdL) so euphorisch gefeiert wurden. Aus versprochenen Rentenerhöhungen werden Rentenkürzungen, aus der Wiedereinstellung von entlassenen Staatsbediensteten weitere Entlassungen, aus dem Versprechen höherer Steuern für die Reichen wird eine Erhöhung der Massensteuern.
Zum anderen hat sich die Geschwindigkeit der Verwandlung von einer systemüberwindenden zu einer systemerhaltenden Partei rasant beschleunigt. Die SPD und einzelne ihrer Mitglieder, die in frühen Reden die alten »Prinzipien und Forderungen« beschworen – Gerhard Schröder forderte noch als Juso-Vorsitzender den Sozialismus, um rund 20 Jahre später freimütig zu bekennen, seine Aufgabe sei es nun, ihn zu verhindern – brauchten dafür Jahrzehnte. Alexis Tsipras hat diese klassische sozialdemokratische Diagonalkarriere von links unten nach rechts oben nun in weniger als sechs Monaten absolviert.
Der Kampf um die Neue Weltordnung & die "Deutsche Macht in der Mitte Europas" - Prof.Frank Deppe [1:38:54]
Veröffentlicht am 27.08.2015
Der Kampf um die Neue Weltordnung & die "Deutsche Macht in der Mitte Europas" - Prof.Frank Deppe & Prof. Dr. Rainer Rilling (KOMPLETTES Video)
"Der Name der Zeit: Wohin geht die Weltordnung?" - Prof. Dr. Frank Deppe & Prof. Dr. Rainer Rilling - attac-Sommerakademie in Marburg (2015).
"Der Name der Zeit: Wohin geht die Weltordnung?" - Prof. Dr. Frank Deppe & Prof. Dr. Rainer Rilling - attac-Sommerakademie in Marburg (2015).
siehe auch:
- Vergesst die Parlamente! (Manfred Sohn, Streifzüge, 26.08.2015)
Seit dem Einknicken von Syriza vor dem Brüsseler Diktat ist die gesamte Linke gefordert, die Möglichkeiten und Grenzen linker Parteien zur Entwicklung antikapitalistischer Bewegungen gründlich zu überdenken
Euphorisch feierte der damals fast 70jährige Friedrich Engels die deutschen Wahlen vom 20. Februar 1890, in denen die Sozialistische Arbeiterpartei, also die spätere SPD, einen »überwältigenden Erfolg« errungen hatte¹. […] Der alte, erfahrene Engels irrte. Und niemandem ist ein Vorwurf zu machen, der wie er seine Erwartungen in die bürgerliche Parlamentswahlen setzt, um dem kapitalistischen Zwangssystem zu entkommen. 125 Jahre später aber ist es an der Zeit, nüchtern zu konstatieren, dass der von Engels gefeierte Ausgang der Reichstagswahlen nur am Beginn einer Reihe von Enttäuschungen stand. Von den zerstobenen Hoffnungen dieses Februars 1890 über den Irrglauben, mit der Wahl zum deutschen Reichstag nach 1919 oder in Chile 1973 auf parlamentarischem Weg zum Sozialismus zu gelangen, reicht diese Serie nunmehr bis zu den jüngsten griechischen Ereignissen, die in zweierlei Hinsicht einen Höhepunkt markieren.
Zum einen sind selten so deutlich ein siegreiches Wahlprogramm und eine Volksabstimmung in ihr glattes Gegenteil verkehrt worden wie durch Alexis Tsipras und seine Getreuen, die von der hiesigen Partei Die Linke (PdL) so euphorisch gefeiert wurden. Aus versprochenen Rentenerhöhungen werden Rentenkürzungen, aus der Wiedereinstellung von entlassenen Staatsbediensteten weitere Entlassungen, aus dem Versprechen höherer Steuern für die Reichen wird eine Erhöhung der Massensteuern.
Zum anderen hat sich die Geschwindigkeit der Verwandlung von einer systemüberwindenden zu einer systemerhaltenden Partei rasant beschleunigt. Die SPD und einzelne ihrer Mitglieder, die in frühen Reden die alten »Prinzipien und Forderungen« beschworen – Gerhard Schröder forderte noch als Juso-Vorsitzender den Sozialismus, um rund 20 Jahre später freimütig zu bekennen, seine Aufgabe sei es nun, ihn zu verhindern – brauchten dafür Jahrzehnte. Alexis Tsipras hat diese klassische sozialdemokratische Diagonalkarriere von links unten nach rechts oben nun in weniger als sechs Monaten absolviert.
Verteilungskampf der Etablierten
Ein Kommentar zum Querfront-Gutachten
Alternative Öffentlichkeit ist das Thema der Studie Querfront – Karriere eines politisch-publizistischen Netzwerks, die Wolfgang Storz für die "Otto-Brenner-Stiftung" erstellt hat. Es geht darin hauptsächlich um die Zeitschrift "Compact", den Kopp Verlag und Ken Jebsen alias KenFM sowie die "Montagsmahnwachen".
Der Tenor der Studie ist erwartbar, die aufgezählten Themen aus dem Spektrum der genannten Organe und Personen kennt man, wenn man sie selbst liest. Storzʼ Arbeit ist insofern eine Handreichung für diejenigen, die Jürgen Elsässers Compact, KenFMs YouTube-Videos oder die Kopp-Bücher und -Texte bisher nicht lasen und nach Gründen für den Vertrauensverlust in etablierte Medien suchen.
Die Studie ist, der Form entsprechend, weitgehend auf Sachinformationen beschränkt. Am Rande kommt es dann zu Schlussfolgerungen wie:
Hmm. Sollte Storz es im Kern entgangen sein, dass KenFM meist ein- bis zweistündige Interviews kostenlos ins Netz stellt, die hochinteressante Informationen enthalten, die in öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Massenmedien bisher allenfalls am Rande oder gar nicht vorkamen – und dort, wo sie noch vorkommen, von der Trivialisierung und Dudelfunkisierung effektiv bedroht sind?
Sollte es ihm schon aufgefallen sein, dass man die etablierten TV-Talkshows mit etwas mehr Bewusstsein und Hintergrundwissen kaum noch ertragen kann (auch wenn sie sicherlich noch ein Motor politischer Information überhaupt sind)? Dass die dort gepflegten Kommunikationsformen aber in jedem Fall an der Grenze des Erträglichen sind, was Roboterhaftigkeit des Sprechens, Standardisierung der Argumente, zeitliche Komprimierung auf undifferenzierte Nullaussagen und Unterbrechungen von Gedankenketten betrifft? Dass für ein Millionenpublikum eine Überprüfung von Aussagen leider auch im "Faktencheck" von "Hart aber fair" immer wieder zweifelhaft ausfällt?
Die Aufzählung von Themen von Compact, Kopp und KenFM, die Storz unter ein solches "Agitationsmodell" fasst, wirken einigermaßen hilflos. Man schaut sie durch und fragt als Unbefangener: Ja … und? Es sind doch zu 90 % wichtige Themen, berechtigte Fragen, die oft im Mainstream unterrepräsentiert sind (oder, wie gesagt, früher öfter vorkamen, heute aber seltener). Dies ist begleitet von der Erfahrung, dass erst Jahre, nachdem die Alternativen über laufende und kommende Probleme der Migrationspolitik oder des Überwachungsstaates informierten, die Etablierten plötzlich überfüllte Flüchtlingsheime und die ‚Enthüllungen‘ eines Julian Assange oder Edward Snowden als Novität und akutes Problem verkaufen.
mehr:
- Verteilungskampf der Etablierten (Daniel Hermsdorf, Telepolis, 26.08.2015)
Alternative Öffentlichkeit ist das Thema der Studie Querfront – Karriere eines politisch-publizistischen Netzwerks, die Wolfgang Storz für die "Otto-Brenner-Stiftung" erstellt hat. Es geht darin hauptsächlich um die Zeitschrift "Compact", den Kopp Verlag und Ken Jebsen alias KenFM sowie die "Montagsmahnwachen".
Der Tenor der Studie ist erwartbar, die aufgezählten Themen aus dem Spektrum der genannten Organe und Personen kennt man, wenn man sie selbst liest. Storzʼ Arbeit ist insofern eine Handreichung für diejenigen, die Jürgen Elsässers Compact, KenFMs YouTube-Videos oder die Kopp-Bücher und -Texte bisher nicht lasen und nach Gründen für den Vertrauensverlust in etablierte Medien suchen.
Die Studie ist, der Form entsprechend, weitgehend auf Sachinformationen beschränkt. Am Rande kommt es dann zu Schlussfolgerungen wie:
►Unter kommunikativen Aspekten folgen alle Akteure ausgesprochen selten dem Diskurs-, sondern zumeist dem Verlautbarungs- und Agitationsmodell.◀︎
Hmm. Sollte Storz es im Kern entgangen sein, dass KenFM meist ein- bis zweistündige Interviews kostenlos ins Netz stellt, die hochinteressante Informationen enthalten, die in öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Massenmedien bisher allenfalls am Rande oder gar nicht vorkamen – und dort, wo sie noch vorkommen, von der Trivialisierung und Dudelfunkisierung effektiv bedroht sind?
Sollte es ihm schon aufgefallen sein, dass man die etablierten TV-Talkshows mit etwas mehr Bewusstsein und Hintergrundwissen kaum noch ertragen kann (auch wenn sie sicherlich noch ein Motor politischer Information überhaupt sind)? Dass die dort gepflegten Kommunikationsformen aber in jedem Fall an der Grenze des Erträglichen sind, was Roboterhaftigkeit des Sprechens, Standardisierung der Argumente, zeitliche Komprimierung auf undifferenzierte Nullaussagen und Unterbrechungen von Gedankenketten betrifft? Dass für ein Millionenpublikum eine Überprüfung von Aussagen leider auch im "Faktencheck" von "Hart aber fair" immer wieder zweifelhaft ausfällt?
Die Aufzählung von Themen von Compact, Kopp und KenFM, die Storz unter ein solches "Agitationsmodell" fasst, wirken einigermaßen hilflos. Man schaut sie durch und fragt als Unbefangener: Ja … und? Es sind doch zu 90 % wichtige Themen, berechtigte Fragen, die oft im Mainstream unterrepräsentiert sind (oder, wie gesagt, früher öfter vorkamen, heute aber seltener). Dies ist begleitet von der Erfahrung, dass erst Jahre, nachdem die Alternativen über laufende und kommende Probleme der Migrationspolitik oder des Überwachungsstaates informierten, die Etablierten plötzlich überfüllte Flüchtlingsheime und die ‚Enthüllungen‘ eines Julian Assange oder Edward Snowden als Novität und akutes Problem verkaufen.
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- Verteilungskampf der Etablierten (Daniel Hermsdorf, Telepolis, 26.08.2015)
»Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein. Es ist das modernisierte unglückliche Bewußtsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Es hat seine Aufklärung gelernt, aber nicht vollzogen und wohl nicht vollziehen können. Gutsituiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewußtsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen, da seine Falschheit bereits reflexiv gefedert ist.« (Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Verlagstext)