Mittwoch, 26. Februar 2020

Wachsende Ungleichheit und Rechtsruck

Viele Jahre hat das politische Establishment das Problem sozialer Ungleichheit mehr oder weniger ignoriert und sich nicht darum gekümmert. Aber zunehmend fliegt der politischen Klasse ihre Politik in Form von massiven Krisen (siehe Thüringen) und zunehmendem Rechtsradikalismus bis hin zu Terrorattentaten um die Ohren. Nicht wenige machen sich Sorgen, dass die stark zugenommene soziale Ungleichheit unsere Demokratie gefährdet. Der Politologe Christoph Butterwegge hat zum Thema „Ungleichheit“ nun ein Grundlagenwerk mit dem Titel „Die zerrissene Republik“ vorgelegt. Udo Brandes hat es für die NachDenkSeiten gelesen.

„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“


Eine Rezension von Udo Brandes


Um mal von hinten anzufangen: Was ist das Fazit von Christoph Butterwegge? Letztlich die Umkehrung der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte. Dazu gleich mehr. Vorab ein Detail, das mich überraschte: Ich habe immer gedacht, dass die neoliberale Politikära mit dem Koalitionsbruch der FDP (Stichwort Lambsdorff-Papier) und der Inthronisierung von Helmut Kohl durch das Misstrauensvotum von 1982 einsetzte. Butterwegge, und das hat mich überrascht, setzt den Beginn der Umverteilungspolitik von unten nach oben jedoch weitaus früher an, nämlich noch zu Zeiten der sozialliberalen Koalition 1974/75 (S. 402). Vielleicht habe ich es überlesen, aber ich habe im Buch nirgendwo eine nähere Erläuterung dieser Datierung des Beginns der Umverteilungspolitik von unten nach oben gefunden. Da ich Butterwegge nicht unterstelle, dass er sich diese Datierung aus den Fingern gesaugt hat, gehe ich also zukünftig davon aus, dass die Neoliberalisierung der SPD nicht erst unter Gerhard Schröder begann, sondern schon zu Zeiten Helmut Schmidts.

mehr:
- Die zerrissene Republik – Rezension (Udo Brandes, NachDenkSeiten, 25.02.2020)

==========
Butterwegge warnt davor, das Thema „relative Armut“ als „Jammern auf hohem Niveau“ zu bagatellisieren. Die 2,4 Millionen Menschen zwischen 16 und 24 Jahren, die in relativer Armut leben müssen, erführen soziale Ausgrenzung, die sich auf die Psyche auswirke und schlimmer sein könne, „als mit leerem Magen schlafen zu gehen“.[33] Vor diesem Hintergrund kritisiert Butterwegge auch die gerichtlich erzwungenen Nachbesserungen der CDU/CSU-FDP-Koalition am SGB II als „lebensfremd“.[34] Die derzeitige „prekäre Arbeitsmarktsituation“ erzeuge zudem relative Armut, die in den Augen Butterwegges ursächlich für rassistische Gewalt ist. Er kritisiert weiterhin, dass diese immer noch verharmlost werde. Dabei bleibe die mediale Berichterstattung über rassistische Gewalt oft ereignis- und täterorientiert.[35] Damit liefere sie ein „Zerrbild“ der Realität und untermauere „Klischees, Vorurteile und rassistische Stereotype von Ereignissen“. Dass „Verarmung, Verelendung in Slums und berufliche Perspektivlosigkeit“ auch Migranten betreffe, infolgedessen es zu kriminellen Handlungen kommen könne, sei ein Problem, das die Mehrheitsgesellschaft verschulde. „Integration, die man zu Recht von den Migranten erwartet, ist keine Einbahnstraße, sondern kann nur gelingen, wenn wir die Voraussetzungen dafür schaffen und Minderheiten gleiche Rechte und soziale Chancengleichheit einräumen“.[36] In dem „Fußballpatriotismus“, der zur Fußballweltmeisterschaft 2006 herrschte, sieht Butterwegge ein Anzeichen für einen schleichenden Wiederanstieg von Nationalismus und Rassismus.[37]
[Christoph Butterwegge, Positionen, Wikpedia, abgerufen am 26.02.2020]
==========
siehe auch:
Die korrupten Eliten (Post, 16.01.2020)
1,2 Billionen Dollar für die reichsten 0,001 Prozent (Post, 31.12.2019)
- Ungleichheit bei Einkommen auf Rekordniveau – Wie bleibt die Bevölkerung ruhig? (Post, 07.10.2019)

Hanau: Wer dem Täter nicht gerecht wird, wird der Tat nicht gerecht

Der 10-fache Mord von Hanau ist erschütternd, schürt Angst und verlangt nach einer Erklärung für die schreckliche Bluttat. Der erste Gedanke ist naheliegend: Die Opfer sind fast ausschließlich Ausländer, der Täter veröffentlichte Videos und Schriften, in denen er davon spricht, dass bestimmte Länder ausgelöscht werden sollen und er Nicht-Weiße hasst – es muss also ein rechtsradikaler Terrorakt gewesen sein. Oder auch nicht. Seine kuriosen Verschwörungstheorien scheinen für mich kein Deckmantel zu sein, um seinen rassistischen Hass zu rechtfertigen, sie sind ein Symptom einer Krankheit.

In seinem „Bekenner-Video“ beschreibt Tobias R. Geheimverschwörungen, von denen das amerikanische Volk nichts ahnt – von unsichtbaren, geheimen Gesellschaften. Er spricht von unterirdischen militärischen Anlagen, über die der Satan selbst herrscht und in denen Kinder gefoltert und ermordet werden. Wer sich das Video ansieht, erschauert an der Härte seines Gesichts, seinem starren Blick und vor allem der absoluten Ruhe, mit der er diese völlig verrückten Theorien von sich gibt. Dieser Mann, der anscheinend wirklich davon überzeugt ist, dem amerikanischen Volk die Augen zu öffnen und zum gerechten Kampf aufruft, ist kein Hassprediger oder Terrorist. Er ist in seinem Wahn gefangen.

mehr:
- Hanau – eine Antithese (Pauline Schwarz, AchGut, 20.02.2020)
Zitat:
Psychotische Menschen haben ein enormes Bedrohungspotenzial. Eines, das dem politisch motivierten kaum noch nachsteht und trotzdem in vielen Fällen einfach ignoriert wird. So, wie wohl auch in diesem Fall. Man sucht lieber nach einem Hassverbrechen, das sich für politische Zwecke nutzen lässt.
mein Kommentar:
Chapeau, sowohl für den Inhalt als auch für den Mut!
siehe auch:
Hanau: Zweierlei Psychosen (Martin Lichtmesz, Sezession, 21.02.2020)
- Liam Neeson und die medial angestachelte politisch korrekte (und gedankenlose) Empörung (Post, 05.02.2019)
Göttinger Mescalero (Wikipedia)
Die Schönheit des Abgrunds (Post, 04.06.2018)
- Die Schattenseite des Ruhms (Post, 04.06.2018)
x