Donnerstag, 13. Dezember 2012

Das eigene Leben als Kunstwerk verstehen

Selbstbildnis mit sieben Fingern, 1913/14

Wer ein Selbstbildnis von sich schafft, gibt damit auch zu verstehen, dass er das eigene Leben wie ein Kunstwerk betrachtet und wertschätzt. Nicht anders ist es mit Chagalls Selbstbildnis mit sieben Fingern aus den Jahren 1913 und 1914. Wiederum malt Chagall mehr als den Augenschein. Er versucht, das Wesentliche zu zeigen — das, was man nicht sofort sieht, jedenfalls nicht auf den ersten Blick: den inneren Reichtum, der in seiner Geschichte und seiner Seele verborgen liegt. Ein Künstler erfindet nicht, soll Chagalls großer Zeitgenosse und Pariser Kollege Pabio Picasso gesagt haben. Er findet. So verstanden ist auch das Selbstbildnis mit sieben Fingern ein erneuter Versuch Chagalls, sich selbst zu finden und zu verstehen. Er sitzt in seinem Pariser Atelier am Montrnartre. Auf seiner Staffelei steht das Bild einer in messianischer Erwartung tanzend schwebenden Lichtfrau, die im Begriff ist, eine Kuh zu melken. Unter ihr liegt – wie als fernes Echo zu dem im offenen Fenster zu sehenden Eiffelturm – die Kathedrale von Marcs Heimat Witebsk. An diesem Bild ruht die Hand des Malers mit den sieben Fingern. Hier liegt der Ursprung seiner künstlerischen Kraft. Hier hat alles seinen Anfang genommen. Dabei erlangt die Zahl Sieben für Chagall eine mystische, ja beinahe magische Bedeutung. Er selbst wurde am siebten Tag des siebten Monats 1887 in Witebsk geboren – unter dem Siegel der Vollkommenheit und Glück symbolisierenden dreifachen Sieben. Es war ihm ja wirklich nicht an der Wiege gesungen, ein Künstler zu werden. Aber er hatte diesen Traum beharrlich verfolgt. Dass er in Erfüllung ging, empfand Chagall zeitlebens als großes Glück. Ganz wie es seiner Art entspricht (ist „art“ zufällig das englische Wort für „Kunst?), trägt er diese unsichtbare Wahrheit über das Geheimnis seines Lebens, bewusst unbewusst in sein Selbstbildnis ein. Das Bild erschließt mir aber nicht nur Chagalls Selbstverständnis. Es lädt auch dazu ein, die Tür zum Atelier des eigenen Lebens weit zu öffnen, mich selbst zu suchen, zu finden und das eigene Leben als Kunstwerk zu verstehen. über mich selbst zu staunen und das eigene Leben und die Welt zu bewundern, auch dazu ermuntert mich Chagall in diesem Advent. Darauf vertrauen zu können, dass auch mein Leben mir als etwas ganz Besonderes und Einzigartiges geschenkt ist, das ich maßgeblich gestalten und mitschaffen kann, ist ein Lebenskunststück, das mich ein kleiner Junge lehrt, der vom Ende der Welt kam, tief aus der russischen Provinz, und ein weltberühmter Maler wurde.





Ich wundere mich über mich selbst 




Gott, du erforschest mich, und 
du kennst mich. 
Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es, 
du verstehst meine Gedanken von ferne. 

Ich gehe oder liege, so bist du um mich 
und siehst alle meine Wege. 
Ja, es ist kein Wort auf meiner Zunge, 
das du, Gott, nicht wüsstest. 

Von allen Seiten umgibst du mich 
und hältst deine Hand über mir. 
Das ist zu wunderbar, zu unbegreiflich, 
zu hoch für meine Gedanken. 

Wohin soll ich gehen vor deinem Geist? 
Wohin fliehen vor deinem Angesicht? 
Steig ich zum Himmel, so bist du da, 
verbarg ich mich im Tode, 
so bist du auch dort. 

Nehme ich Flügel der Morgenröte 
und bleibe am äußersten Meer, 
so wird deine Hand mit finden 
und deine Rechte mich fassen. 

Spreche ich: Dunkel möge mich decken 
und Nacht statt Licht um mich sein! 
So ist auch Finsternis nicht finster 
für dich, 
und die Nacht leuchtet wie der Tag. 

Denn du hast mich bereitet, 
meinen Leih und meine Seele, 
du hast mich so fein gewoben 
im Leib meiner Mutter.






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