Jakobs Traum, 1966 |
Chagall malte die Erscheinung des Engels mehrmals. In ihrer letzten Fassung verschwindet das Fensterkreuz hinter dem Engel, und sichtbar wird eine Leiter, die Jakobsleiter – das andere, bis in seine späten Jahre hinein bevorzugte Bildzeichen für die Verbindung von Himmel und Erde.
Seinen Ursprung hat das Motiv in Jakobs Traum, einer der großen Geschichten des Ersten Testaments. Chagall malt in seiner zwischen 1960 und 1966 entstandenen Fassung zwei Flächen von unterschiedlicher Größe und Farbigkeit. Rechts, beinahe quadratisch, die klare blaue Sphäre, in deren Zentrum ein Engel schwebt, der eine goldleuchtende Menora trägt, in der jüdischen Tradition Zeichen der Gegenwart Gottes im Jerusalemer Tempel. Der Engel hat vier Flügel, die biblische Zahl für Vollkommenheit, die jeweils leicht aus den Bilddiagonalen verschoben sind. Das bringt eine ruhige, aber kraftvolle Bewegung voll geradezu kosmischer Energie in die Bildhälfte. Weit unruhiger nimmt sich dem gegenüber die rechteckige linke Bildhälfte in violetter Tönung aus. In deren Diagonale steht eine Leiter, auf der und um die herum ein reges Kommen und Gehen, Fliegen und Liegen herrscht. An der Schwelle, der Grenze vom blauen zum violetten Raum, sitzt – gemalt in purpurnem Rot-Jakob, die Hände in den Schoß gelegt. Ihn umfängt die violette Welt des Traumes. Violett entsteht als gemischter Farbton, wenn Blau und Rot ineinander fließen. Ganz so wie im Traum Leben und Erfahrung mit einer ganz anderen unverfügbaren Wirklichkeit in Berührung kommen und sich vermischen zu überraschend neuen, aber mitunter nur schwer zu entziffernden Einsichten und Ansichten des eigenen Lebens. Die Figur Jakobs und die sich durchdringenden Farbwelten verbinden die beiden Bildhälfte ebenso wie die Blickrichtung des Engels der rechten Bildhälfte, der in Jakobs Gesicht sieht.
Die Bibel erzählt von Jakob nicht die Geschichte eines traumhaft leichten Lebens. Ganz im Gegenteil. Schon von Geburt belastet, will und will es ihm offenbar nicht gelingen, zu sich selbst und zur Bestimmung seines Lebens zu finden. Weder Mut noch List und Betrug führen zum Ziel. Vermeintliche Erfolge erweisen sich am Ende als nicht tragfähig. „Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott lsaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde … und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.“ (Gen 28,12-15)
Was Jakob erlebte, erfuhr auch Chagall: „Die Mondnacht macht ein Geschenk“, notierte er in einem seiner frühen Gedichte. „Tief im Herzen liegt der Ort, wo die Leiter steht. Sie führt zu Gott.“ Ist das Engelerlebnis der frühen Petersburger Zeit das Schlüsselerlebnis Chagalls dafür, dass Himmel und Erde in jedem Menschen eins werden wollen, so ist Jakobs Traum das Schlüsselbild für einen Menschen, der – auf seinen großen Lebenstraum vertrauend – durch alle Widrigkeiten, Widerstände und Verwicklungen hindurch am Ende zum Ziel und Sinn seines Lebens findet. Träumer sind eben doch die größeren Realisten. Und wenn man die Bibel an dieser Stelle einmal so weiterlesen darf: Durch sie erlangen alle Geschlechter Segen.
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