Die ukrainische Politik hat im September erneut eine überraschende Wende genommen. Noch vor Kurzem sprach der ukrainische Verteidigungsminister von einem großen Krieg, wie ihn Europa seit 1945 nicht gesehen habe. Und US-Politiker beschrieben die Ukraine als Schauplatz eines Krieges Russlands gegen Europa, der sich jederzeit noch ausweiten könne.
Doch dann folgte Mitte September eine Vereinbarung, die auf einen Kurswechsel hinausläuft, der den Konflikt um die Zukunft der Ukraine entschärfen könnte: Zwar soll der wirtschaftliche Teil des EU-Assoziierungsabkommen am 1. November 2014 in Kraft treten, doch seine volle Implementierung ist auf Ende 2015 verschoben. Ebenso wichtig: Den umkämpften Territorien im Osten wird für drei Jahre eine weitgehende Autonomie gewährt. Das wäre in der Tat ein Ausweg aus der größten innenpolitischen Katastrophe des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg, die bereits mehr als 3 500 Tote gefordert und eine Million Ostukrainer aus zerstörten Städten und Dörfern vertrieben hat.
Doch in Kiew kritisieren oppositionelle Stimmen, allen voran Julia Timoschenko, die relative Waffenruhe im Osten des Landes als Kniefall vor Moskau und kündigen eine Verfassungsbeschwerde an. Aktivisten der Maidan-Bewegung sehen die Werte verraten, für die sie protestiert haben; ihre militantesten Vertreter fragen sich, wofür sie fünf Monate lang gekämpft und Opfer gebracht haben. Dmytro Jarosch, der Führer des "Rechten Sektors", warnt Präsident Poroschenko, es könnte ihm ähnlich ergehen wie seinem Vorgänger Janukowitsch. Und unter den rechten Milizen im Osten wächst die Idee eines Marschs auf Kiew.
Kaum jemand stellte die näherliegende Frage, warum man nicht schon früher zu einem Kompromiss bereit war, etwa in Form des Fahrplans zu einer Verfassungsreform und Neuwahlen, den die Außenminister Frankreichs, Deutschlands und Polens im Februar unter Beteiligung der ukrainischen Opposition ausgehandelt hatten.
mehr:
- Die Clans der Ukraine – Machtverhältnisse in einer Demokratie, die nie existiert hat (Klaus Müller, Le Monde diplomatique, 10.10.2014)
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