Die Frage, wann aus Sandkörnern ein Sandhaufen wird, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Vielleicht muss man sie auch gar nicht beantworten, denn “Sandhaufen” ist eine Zuschreibung, eine sprachliche Beschreibung für eine große Menge von Sandkörnern, eine Menge von Sandkörnern, die zu groß ist, als dass sie noch mit dem bloßen Auge erfasst werden könnte. Dennoch ist ein Sandhaufen nichts anderes als eine Menge Sandkörner, eine Menge individueller Sandkörner.
Sorites_paradox_Was für Sandkörner gilt, sollte auch für Menschen gelten – tut es aber nicht, denn wir leben in einer Zeit, in der die Gruppenzuschreibungen blühen und gedeihen.
Es gibt die Deutschen, die Türken und natürlich die Griechen, die Bayern und die Männer und die Katholiken und die Frauen und die Urlauber und die Chaoten und die Banker und die Bundeswehr und Journalisten und mit all diesen Begriffen verbindet sich für manche anscheinend die Vorstellung der Homogenität. Homogenität meint, dass die Unterschiede zwischen den Mitgliedern, die eine Gruppe umfasst, vernachlässigbar sind, während die Unterschiede, die eine Gruppe von einer anderen Gruppe trennen, von großer Bedeutung sind.
Besonders prominent ist derzeit die in den Hirnen mancher Protagonisten vorhandene Dichotomie zwischen Männern und Frauen. Beide, Männer wie Frauen, seien so distinkt von einander, dass die Gemeinsamkeiten dahinter zurücktreten würden. Die Unterschiede zwischen Männern, Unterschiede im Hinblick auf Größe, Augenfarbe, Schuhgröße, Beruf, Alter, Erfahrung, Fremdsprachenkenntnisse, Body-Building, Ausdauer, IQ, Vorlieben, Selbstbewusstsein, Anspruch an sich selbst, im Hinblick auf den Fussball-Club, den man unterstützt, all diese Unterschiede, sie versinken im Nichts, angesichts des eminenten und monströsen Unterschieds, der von einem einzigen Chromosom ausgeht und der dafür sorgt, dass man zwischen Männern und Frauen keine Gemeinsamkeiten, keine Eigenschaften zu finden im Stande ist, die eine Brücke über den Geschlechtsgraben zu schlagen im Stande sind, also keine Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Fremdsprachenkenntnisse, Erfahrungen, Augenfarbe, Anspruch an sich selbst, Selbstbewusstsein, Schulbildung uvm.
Und weil die Einbildung, die Unterschiede zwischen den vielen Individuen, die eine Gruppe, die Gruppe der Männer oder die Gruppe der Frauen ausmachen, seien kleiner (oder gar nicht vorhanden) als die Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen so verbreitet ist, deshalb lässt sie sich trefflich instrumentalisieren. Deshalb können sich Politiker und Opportunisten zu Vertretern einer Gruppe erklären und Rechte für diese Gruppe einfordern.
Mit dem einfachen kollektiven Trick, der darin besteht, zu behaupten, dass Frauen, Schwule, Schwarze, Migranten und wer sonst noch zur schützenswerten Gruppe erklärt wird, hätten homogene, gleichgerichtete Interessen und würden sich untereinander nicht unterscheiden, mit dieser Annahme, die man nicht anders als absurd und primitiv bezeichnen kann, gelingt es in Deutschland Politik zu machen und gesellschaftliche Brunnen zu vergiften, dadurch, dass man Männer gegen Frauen, Homosexuelle gegen Heterosexuelle, Migranten gegen Autochthone, Linke gegen Rechte, Dicke gegen Dünne, Juden gegen Reichsdeutsche ausspielt.
Und mit diesem einfachen Trick ist es möglich, Individualrechte zu beseitigen, denn nicht mehr das Individuum hat Anspruch auf gerechte Behandlung, diesen Anspruchhat nur noch ein Individuum in seiner Eigenschaft als weiblich oder schwarz oder homosexuell, also in seiner Eigenschaft als Gruppenzugehöriger.
mehr:
- Gruppen-Terror oder: Wann wird aus Sandkörnern ein Sandhaufen? (Kritische Wissenschaft, 20.03.2015)
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