Die Gier der russischen Elite zerfrisst das ganze Land. Das ist kein Fehler des Systems, sondern das System selbst
Die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen haben einen Tiefpunkt erreicht. Der niedrige Ölpreis und die Sanktionen, mit denen die USA und die EU auf die Krise in der Ukraine reagiert haben, verbreiten bereits düstere Stimmung in Russlands Wirtschaft. Seit Mitte 2014 ist der Wert des Rubels um gut ein Drittel gesunken. Und der Kreml hat mit seinen selbstzerstörerischen Entscheidungen alles noch schlimmer gemacht. Aber Wladimir Putin ist im Lande populärer denn je.
Eine erstaunliche Diskrepanz ist zwischen der inneren und der äußeren Reputation der russischen Regierung entstanden: zwischen der wachsenden neoimperialen Popularität zu Hause und dem Pariastatus auf internationaler Ebene. Während westliche Medien in die Rhetorik des Kalten Krieges zurückfallen, kommt eines der wenigen unabhängigen Meinungsforschungsinstitute in Russland zu dem Ergebnis, dass 85 Prozent der Bevölkerung die Annexion der Krim befürworten.(1)
Ob dieser Konsens stabil bleibt, wird sich in den kommenden Monaten zeigen, wenn sich Rezession und Inflation fortsetzen und der Handlungsspielraum des Regimes angesichts der internationalen Isolation weiter schrumpfen sollte. Zwar endet die Amtszeit des Präsidenten erst 2018, aber Putins Machtposition scheint heute nicht mehr so unerschütterlich zu sein wie noch vor einem Jahr. Niemand weiß, ob das System Putin durch den Druck von außen zusammenbrechen oder von innen heraus erodieren wird - oder ob keines von beidem passiert. Die Prognosen über die Zukunft des Putinismus hängen davon ab, wie man das gegenwärtige Regime einschätzt.
Seit Putins Amtsantritt vor 15 Jahren hat das System, das sich unter seiner Ägide herausgebildet hat, unterschiedliche Etiketten verpasst bekommen. Die Kremlideologen sprachen von "souveräner" oder "gelenkter" Demokratie.(2) Wissenschaftler und Journalisten operierten mit Begriffen wie "wettbewerbsorientierter Autoritarismus", "virtuelle" oder "Scheindemokratie", "Militokratie" oder "Mafiastaat".
Die Präsidentschaft von Medwedjew (2008 bis 2012) brachte den Begriff "Tandemokratie" hervor. Dieses Zwischenspiel schien kurzzeitig die Chance einer Liberalisierung zu eröffnen, aber kaum hatte Putin das Präsidentenamt wieder übernommen, traten als Reaktion auf die Massenproteste im Winter 2011/2012 die autoritären Züge des Systems noch deutlicher hervor.
In all diesen Bezeichnungen kommen unterschiedliche Aspekte des Regimes zum Ausdruck: seine autoritären Tendenzen (Unterdrückung von Dissidenten, immer mehr Geheimdienstleute im Staatsapparat); die Aushöhlung demokratischer Rituale wie Wahlen; die straffe Kontrolle der Medien; die endemische Korruption und die engen Verflechtungen zwischen staatlicher Bürokratie und organisierter Kriminalität. All das ist in den Augen der meisten westlichen Beobachter neu. Der gängigen Darstellung zufolge wurde in der Jelzin-Ära (1991-1999) eine turbulente und keinesfalls vollkommene Demokratie etabliert, während unter Putin eine antidemokratische Wende eingesetzt habe, in der einige sogar eine Rückkehr zum Staatssozialismus erkennen wollen.
mehr:
- Was ist Putin? (Tony Wood, Le Monde diplomatique, 10.04.2015)
siehe dazu auch:
- Wrestling im Manchester-Kapitalismus: Putin vs. russische Oligarchen (Post, 02.03.2015)
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