Wird die Linke konservativ und die Mehrheit unpolitisch? In der Absicht, vor allem ihr individuelles Wohlergehen zu sichern, treffen immer mehr Menschen Entscheidungen, die kollektive Nachteile zur Folge haben - und schaden sich so durch die Hintertür selbst
In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die vor dem Niedergang der westlichen Demokratie, dem Ende des Politischen und dem Rückzug ins Private warnen. Die Finanzkrise, der Abbau sozialer Schutzmechanismen und Arbeitnehmerrechte, die Ausweitung globaler Konflikte und ökologischer Problemlagen hätten inzwischen einen Punkt erreicht, der mittelfristig nicht nur die westlichen Demokratien, sondern den Kapitalismus als Ganzes, sein ökonomisches, soziales und ökologisches Über-leben infragestelle. Ein nachhaltiger Wille zum Widerstand oder gar zum Protest sei jedoch kaum auszumachen.
Vor allem die jüngere Generation habe sich aus dem Politischen zurückgezogen. Sie zeige eine Rückwendung hin zu Familien-, Gemeinschafts- und Traditionswerten und eine unhinterfragte Anpassungsbereitschaft an die Spielregeln der Marktgesellschaft. Dies manifestiere sich auch in der Abwesenheit politischer Gesellschaftsentwürfe. Die Jüngeren zögen aus gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und prekärer Beschäftigung keine politischen Konsequenzen, sondern suchten allein das Private: Sie wollten für sich wirtschaftliche Sicherheit, passten sich pragmatisch den herrschenden Leistungsnormen an und sehnten sich nach stabilen Ordnungen.
Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka glaubt, dass der Rückzug ins Private kein neues Phänomen ist. Es habe in der Geschichte immer wieder Zeiten des Rückzugs gegeben – als Zeichen kollektiver Verausgabung und Erschöpfung. Das sei in den fünfziger Jahren, nach der Katastrophe der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges wie auch nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 der Fall gewesen, also vor allem nach Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs, nach einer großen öffentlichen Anstrengung und Überspannung der politischen Idee. Bereits der Soziologe Albert Hirschman geht in seinem Essay Engagement und Enttäuschung aus dem Jahr 1984 von einem Zyklenmodell aus: Auf eine Phase des öffentlichen Engagements und der Ideologie folge fast zwangsläufig ein zunehmendes Interesse an Konsumgütern und privatem Fortkommen. Letzteres würde nach einiger Zeit aufgrund der unausweichlichen Beschränktheit der privaten Glückssuche wiederum durch den verstärkten Einsatz für öffentliche Belange abgelöst. Haben wir es also lediglich mit einem Zeitgeistphänomen zu tun, mit einer momentanen Sehnsucht nach Bürgerlichkeit und konservativen Werten?
Ein libertäres Zeitalter – aus Mangel an Alternativen
Im Gegensatz dazu betonen politische Ökonomen und Soziologen die Unwiderruflichkeit der gegenwärtigen Entwicklung. Im politischen Rückzug manifestiere sich eine grundsätzliche Schwächung der Institutionen demokratischer Willensbildung. Die zunehmende Macht multinationaler Konzerne und die Umgestaltung der Politik zur Mediendemokratie habe die Macht der Staaten und politischen Entscheidungsinstanzen ausgehöhlt; wir befänden uns bereits heute in einem Zustand der Postdemokratie.
Der Publizist und Historiker Mark Lilla verortet (in der Berliner Republik 6/2014) das Problem dagegen eher auf einer kulturellen Ebene der Ideologien und Glaubenssysteme. Den Linken seien die Ideen ausgegangen, die aus den Ideologien seit der Französischen Revolution geborenen Utopien seien mit dem Ende des Kalten Krieges erloschen. Das politische Denken im Westen sei niemals so oberflächlich und leidenschaftslos gewesen wie heute. Es sei bequem geworden und antworte auf jedes weltpolitische Problem mit ein und demselben Dogma: dem der individuellen Freiheit. Heraufgezogen sei unser libertäres Zeitalter schlicht aus Mangel an Alternativen. Die individuelle Freiheit habe Vorrang gegenüber sozialen Bindungen, der Markt gegenüber der öffentlichen Gewalt und das Gebot der Toleranz gegenüber der Gestaltung des Gemeinwesens. Doch solange es an bewegenden Bildern und großen Erzählungen fehle, würden die Menschen in westlichen Kulturen ihre aktuelle Selbstbezüglichkeit und ihr politisches Desinteresse nicht überwinden können.
Auch die in den Sozialwissenschaften weit verbreitete Kritik am Neoliberalismus führt das Ende des Politischen auf den gesteigerten Individualismus zurück. Er begann als Emanzipationsprojekt der Neuen Sozialen Bewegungen und tritt dem Einzelnen nun als Forderung nach freier Entscheidung, als Strategie einer aktivierenden Politik entgegen. Etliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die zuvor beim Staat lagen, werden nun auf private Akteure, zivilgesellschaftliche Gruppen und vor allem auf Einzelpersonen und Familien übertragen.
mehr:
- Der Rückzug der Mitte (Cornelia Koppetsch, Berliner Republik 2/2015)
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