Auch drei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben und dem Tsunami in Japan lassen sich die langfristigen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima noch nicht erahnen. Noch immer gibt es kaum Zugangsmöglichkeiten zur Reaktorruine und immer wieder gelangt kontaminiertes Wasser in den Pazifik. Dessen ungeachtet verkündete Japans Premierminister Abe Shinzo[1] im September 2013 während seiner Bewerbungsrede für die olympischen Sommerspiele 2020 vor dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) in Buenos Aires voller Überzeugung: „Lassen Sie mich Ihnen versichern: Wir haben die Situation komplett unter Kontrolle. Der Unfall hatte noch nie und wird nie Auswirkungen in Tokio haben.“[2]
Als die Entscheidung für Tokio gefallen war, verwies Abe auf einer IOC-Pressekonferenz zwar darauf, dass es noch das Problem mit dem kontaminierten Wasser gebe. Es sei aber ausgeschlossen, dass dies gesundheitliche Schäden anrichte. Schließlich würde sich die Kontamination auf den Bereich vor dem AKW Fukushima Daiichi begrenzen.[3] Dieser Auftritt steht beispielhaft dafür, wie die japanische Regierung die Lage seit der Atomkatastrophe 2011 verharmlost. Denn es kann nicht die Rede davon sein, dass die Regierung oder die Betreibergesellschaft Tepco die „Situation unter Kontrolle“ haben. Nach wie vor ist völlig unklar, wie die hochradioaktiv verseuchte Reaktorruine rückgebaut werden soll – die Radionuklide wie Plutonium 239 strahlen noch mehr als 20 000 Jahre. Auch ist noch immer unbekannt, in welcher Situation sich die geschmolzenen Brennelemente befinden. Doch solange diese dort bleiben, verhindert nur die permanente Kühlung der Reaktorkerne die erneute Kettenreaktion einer Kernspaltung, bei der Unmengen an Radioaktivität austreten würden.
Tag für Tag fällt deshalb radioaktiv verstrahltes Kühlwasser an, ohne dass es ein Konzept für die Entsorgung des verunreinigten Wassers gibt. Die kontaminierten Wassermassen von mittlerweile mehr als 360 000 Tonnen sind für Tepco zu einem unlösbaren Problem geworden, für das eine nachhaltige Lösung nicht in Sicht ist. Zugleich musste das Unternehmen einräumen, dass immer wieder kontaminiertes Wasser aus den Lagertanks austritt und in den Pazifik fließt – und dass dessen Radioaktivität bisweilen noch höher ist, als zuerst mitgeteilt wurde: Im August vergangenen Jahres entwichen rund 300 Tonnen hoch radioaktives Wasser aus den Lagertanks, nach ersten Angaben sollen 80 Mio. Bequerel (Bq) Betastrahler pro Liter[4] gemessen worden sein. Schon dieses Ereignis wurde nach der Internationalen Bewertungsskala für Nukleare Ereignisse (INES) als Ernster Störfall (Stufe 3) bewertet. Anfang Februar dieses Jahres ließ Tepco allerdings verlauten, dass die tatsächliche Strahlenbelastung sogar fast fünfmal höher gewesen sei. Schon im Dezember 2013 musste Tepco mitteilen, dass sich die Strahlenwerte des Grundwassers am AKW innerhalb eines Monats verdoppelt haben.
Um das kontaminierte Wasser zu reinigen, sollen die Radionuklide in zwei Stufen herausgefiltert werden. Doch bislang funktioniert die zweite Stufe, in der überwiegend Betastrahler abgetrennt werden, noch nicht erwartungsgemäß. Und selbst wenn dies gelingen sollte, enthielte das aufbereitete Wasser noch immer hoch radioaktives Tritium (ebenfalls ein Betastrahler). Dennoch soll dieses dann im Pazifik entsorgt werden – obwohl die ökologischen Folgen nicht vorhersehbar sind.
Zysten in der Schilddrüse
Auf dem Land gibt es hingegen schon Indizien für strahleninduzierte Erkrankungen. Anfang Februar veröffentlichte die Präfektur Fukushima die jüngsten Ergebnisse der Schilddrüsenuntersuchungen von Kindern, die im März 2011 jünger als 18 Jahre waren. Bei 75 von 254 000 Kindern wurden Schilddrüsenkrebserkrankungen (einschließlich Verdachtsfällen) festgestellt, von denen knapp die Hälfte bereits operiert wurde. Insgesamt mehr als 46 Prozent aller untersuchten Kinder im Zeitraum zwischen 2011 und 2013 hatten Zysten in der Schilddrüse: 2011 waren es 36 Prozent, 2012 knapp 45 und 2013 schon mehr als 55 Prozent.[5]
Normalerweise erkranken Kinder selten an Schilddrüsenkrebs. Deshalb erfasst beispielsweise das deutsche Kinderkrebsregister diese Erkrankung nicht. Da es in Japan weder Vergleichsdaten aus der Zeit vor der Katastrophe noch Daten für die von der radioaktiven Kontamination nicht betroffenen Regionen gibt, kann man nur schwer feststellen, ob die Schilddrüsenkrebserkrankungen bei den Kindern zugenommen haben oder nicht. Die Präfektur Fukushima betonte, dass die Schilddrüsenerkrankungen bei den Kindern nicht von der erhöhten Strahlenbelastung nach der Katastrophe verursacht wurden – eine plausible Erklärung für den Anstieg von Zysten seit 2011 lieferte sie jedoch nicht. In Weißrussland und der Ukraine stiegen rund fünf Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl die Zahlen von Schilddrüsenkrebserkrankungen bei kleinen Kindern drastisch an. Die Entwicklung in Fukushima muss deshalb sehr genau beobachtet werden.
Der frühere Forscher des Umweltinstituts München, Alfred Körblein, und der Forscher des Helmholtz-Zentrums München, Hagen Scherb, haben nach Tschernobyl die gesundheitlichen Auswirkungen auf Deutschland und insbesondere Bayern untersucht. Sie stellten unter anderem eine signifikante Zunahme der Frühsterblichkeit und der Totgeburten sowie einen deutlichen Rückgang der Lebendgeburten nach dem GAU fest.[6] Nach der Analyse der vom japanischen Ministerium für Gesundheit und Arbeit veröffentlichten Statistik über die Bevölkerungsentwicklung lassen sich Ähnlichkeiten zwischen Japan und Westdeutschland nach Tschernobyl feststellen: So gab es in der Präfektur Fukushima und in umliegenden Präfekturen 9 bis 19 Monate nach dem Reaktorunfall eine signifikante Zunahme der Säuglingssterblichkeit. In den 9 Monaten nach dem Unfall gingen die Lebendgeburten in Fukushima und der angrenzenden Präfektur Miyagi um mehr als das Dreifache zurück, in vier benachbarten Präfekturen um das Zweifache; zugleich gab es eine starke Zunahme von Totgeburten in den am höchsten belasteten Präfekturen.[7] Zudem ist seit dem Jahr 2013 auch eine Verschiebung im Geschlechterverhältnis zu verzeichnen.
Diese Indizien werden oft ignoriert, da die Zusammenhänge zwischen der Strahlenbelastung und diesen Fällen wissenschaftlich nur schwer nachweisbar sind. Der nach der Katastrophe von der Präfektur Fukushima einberufene Sicherheitsberater Yamashita Shunichi behauptet, dass eine effektive Strahlendosis unter 100 Millisievert (mSv) pro Jahr keine gesundheitlichen Auswirkungen hat. Die im Normalfall für die Öffentlichkeit gültige effektive Strahlendosis beträgt aber lediglich ein mSv pro Jahr.
mehr:
- Drei Jahre Fukushima – verdrängt und vergessen? (Fukumoto Masao, Berliner Republik 3/14)
[Doku] Fukushima - Chronik eines Disasters [Deutsch/HD] {47:15}
Veröffentlicht am 20.03.2013
Die Fukushima-Lüge, doku {29:07}
Veröffentlicht am 13.03.2013
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