Finnland Ein Zeitalter geht zu Ende, das auf Gemeinschaft, Bildung und Kultur setzte. Die Gesellschaft durchzieht eine melancholische Grundmelodie
Es waren 13 Grad Celsius angesagt, auch die Wolken. Nur nicht der Regen, der über den See kommt. Weit hinten, von Süden her, zieht er auf, dicht wie eine Wand. Man kann das gut sehen von Pispala aus, seit 1937 ein Ortsteil von Tampere: Eine Grundmoräne hat sich hier zu Finnlands höchstem Landrücken aufgetürmt. Wie ein Wall steigt er aus der ebenen Landschaft, legt sich in die Landenge zwischen Näsi- und Pyhä-See, als wolle er die Gewässer voreinander schützen.
Pispala bietet ein Doppelbild finnischer Geschichte – an den Hängen stehen durcheinandergewürfelte Holzhäuser. Im späten 19. Jahrhundert waren es Arbeiterwohnungen und Armensiedlungen, jetzt haben sich hölzerne Neubauten dazwischengedrängt, Künstler und Manager wohnen jetzt hier, Pispala ist die teuerste Wohngegend der Stadt.
Ende September greift der Herbst längst ins Grün dieser Sehnsuchtslandschaft aus Wald und See. Von Süden kommt die graue Regenwand voran. Der Pyhä-See zieht seine Oberfläche glatt, als wolle er die Tropfen abwehren. Bald regnet es auf der Höhe des Städtchens Nokia, das eine der spektakulärsten Achterbahnfahrten der jüngeren Wirtschaftsgeschichte durchlebt hat: den Aufstieg einer Zellstoff-und- Gummi-Firma, die Kabel herstellte und Gummistiefel, jahrelang mit Computern tüftelte und schließlich mit Telefonen Weltmarktführer wurde. Zu Spitzenzeiten zeichnete Nokia für vier Prozent des finnischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) verantwortlich. Auch daran lässt sich denken, wenn man im Park zwischen bunten Holzhäusern sitzt, inmitten eines Stadtteil gewordenen Traums der oberen Mittelschicht. Ringsherum weiße Eckpfosten, Metalldächer, aufgeräumte Veranden, saubere Zäune. Es riecht nach Holzofen und Zimtschnecken. Und man sitzt genau in dem Bild, das Finnland von sich selbst hat, harmlos, bürgerlich und intakt. Zum wackligen Fundament dieses Selbstverständnisses hat einen Tag zuvor der Ökonom Pertti Haaparanta, Professor an der Alvar-Aalto-Unversität in Helsinki, geführt. Mit Nokia ging es steil bergab, vor anderthalb Jahren kaufte Microsoft die Mobilfunksparte. 30.000 Beschäftigte sollten hinüberwechseln. Sechs Monate später waren die ersten 18.000 entlassen, im Juli 2015 löste Microsoft Nokia ganz auf. Die letzten 7.800 Mitarbeiter bekamen ihre Papiere. Professor Haaparanta sagt mit einer gewissen Resignation in der Stimme: „Vielleicht war das Unternehmen zu groß für Finnland.“
mehr:
- Still ruht der See (Lennart Laberenz, der Freitag, 28.10.2015)
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