Soziologischer Zwischenruf zur medialen Konstruktion von Wirklichkeit
Ausgehend von den USA macht seit etlichen Monaten nicht nur in den deutschen Leitmedien die Rede von den "postfaktischen Debatten" die Runde. Gestern wurde der Begriff zum Wort des Jahres 2016 erklärt. Postfaktisch - was soll das überhaupt bedeuten?
Erste Zweifel am Sinn des Begriffs kommen auf, wenn man ihn etymologisch seziert. "Post" kommt aus dem Lateinischen und bedeutet zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als "nach". Insbesondere in den Kulturwissenschaften ist dies seit Jahren eine Modevorsilbe, die weniger etwas erklärt, als sie belegt, dass man nicht so genau weiß, was nach dem kommen könnte, über das man mehr als genug zu wissen glaubt. Die Rede von der "Postmoderne" wie die vom "Posthuman" treffen sich in dieser Grenzlinie zwischen Wissen und Nichtwissen.
Interessanter ist da schon das Adjektiv "faktisch", dass sich von "Fakt" ableitet. Dies wiederum, die humanistisch Gebildeten wissen es noch, ist eine Eindeutschung des lateinischen Nomens "factum", das im engeren Sinne eine Tat-Sache, also die Folge einer konkreten Tat, ganz generell jedes Ergebnis menschlichen Handelns bezeichnet. Fakt wäre damit das, was von Menschen gemacht und in die Welt gesetzt wurde.
Mithin würde das Attribut "postfaktisch" alle jene Sachverhalte benennen, die nicht mehr auf das Wirken von Menschen zurückgehen, sondern gleichsam nach-menschlich in die Welt gekommen sind. In diesem Sinne wäre "postfaktisch" dann etwa die Rückeroberung der verlassenen Städte durch Pflanzen und Tiere, wenn die Menschheit eines Tages ausgestorben sein sollte (siehe dazu den fast prophetischen Band von Alan Weisman 2007).
Dies aber ist mit dem Begriff in seiner aktuellen Verwendung ganz offensichtlich nicht gemeint. "Postfaktisch" steht vielmehr als Verdichtungsmetapher für die gesellschafts- und medienpolitische These, dass heute - im Gegensatz zu früher! - viele öffentliche Debatten nicht mehr auf der Basis von Fakten geführt würden.
mehr:
- Wider die Rede vom "Postfaktischen" (Michael Schetsche, Telepolis, 10.12.2016)
siehe auch:
- Politik ohne Fakten: Das gefühlte Zeitalter (Margarete Stokowski, SPON, 13.12.16)
- Wort des Jahres 2016: »Postfaktisch« (Post, 09.12.2016)
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