Zur Geschichte der britischen Piratensender
London, irgendwann im Frühjahr 2003. Ein kahler Raum auf dem Dach eines Hochhauses im Osten der Stadt. Ein paar afrobritische Teenager stehen herum, im Hintergrund scheppern Beats mit Videospielsounds. Ein Mikrofon wandert von einer Hand in die nächste. Ein Teenager mit Nike-T-Shirt und Clippers-Kappe, noch mit leicht brüchiger Stimme, rappt ein paar Verse ins Mikro. Nach 16 Takten gibt er das Mikrofon an seinen Nebenmann weiter, so will es die ungeschriebene Regel.
Dieser starrt unter seiner grauen Kappe hervor, spannt die Oberarme an und spuckt Reime in das Mikro - mit einer einem tiefen, hypermaskulinen Timbre und doppelt so schnell wie sein Vorgänger. Aber nach 16 Takten behält er das Mikro einfach ein. Ein Streit bricht aus - ein grosser Mann mit Cornrows trennt die beiden Kampfhähne, die Kamera folgt ihnen aufs Dach, im Hintergrund strahlen die Lichter von Ost-London.
Der MC mit der grauen Kappe ist Crazy Titch. Drei Jahre später wird er wegen Mordes zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sein Gegenpart ist Dizzee Rascal, damals 19 Jahre alt. Wenige Monate nach dieser Szene gewinnt er für sein Debütalbum "Boy in da corner" den Mercury Prize, neun Jahre später steht er wenige Kilometer entfernt bei der Eröffnung der Olympischen Spiele auf der Bühne. Und der Streitschlichter mit den Cornrows ist Wiley, der "Godfather" der Grime-Szene, der dafür im Frühjahr 2018 mit dem Member-of-the-British-Empire-Orden ausgezeichnet wurde.
Der kahle Raum auf dem Dach ist das Studio von Deja Vu FM, einem Piratensender in London. Zusammen mit seinem Nachbarn und Konkurrenten Rinse FM hat Deja die Pirateradio-Szene der späten Nullerjahre in Ost-London geprägt: den Wechsel vom slicken UK Garage hin zu den Lo-Fi Beats von Grime und der gespenstischen Düsternis von Dubstep, in dem die Geschichte der britisch-karibischen Soundsystem-Culture und ihrer Mutationen nachhallte.
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- Ins Zentrum gesendet (Christian Werthschulte, Telepolis, 16.12.2018)
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