Freitag, 28. Februar 2020

Das Geld der Zukunft und der Energieverbrauch

Kreditgeld bringt automatisch Boom-Bust Zyklen mit sich. Das bestehende System funktioniert nur durch immer wiederkehrende Entwertung. Einen Gegenentwurf hierzu stellen Kryptowährungen wie Bitcoin oder Libra dar. Diese bieten immense Chancen.
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Am 11. Februar 2009, fünf Monate nach der Pleite von Lehman Brothers und der dadurch ihren Höhepunkt erreichenden Finanzkrise, postete ein anonymer Informatiker, der sich Satoshi Nakamoto nannte, auf einer von Programmierern genutzten Website: "I've developed a new open source P2P e-cash system called Bitcoin. It's completely decentralized, with no central server or trusted parties, because everything is based on crypto proof instead of trust." ("Ich habe ein neues E-Cash-System namens Bitcoin entwickelt, das über einen öffentlichen Quellcode verfügt und mit dem Privatpersonen untereinander elektronisch Geld senden können. Es ist vollständig dezentralisiert, ohne zentralen Server oder vertrauenswürdige Parteien, weil alles auf Krypto-Belegen statt auf Vertrauen basiert".)

Die Probleme von Euro und anderen Währungen

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Anlass für Nakamotos Entwicklung war seine Enttäuschung über unser bestehendes Geldsystem. Insbesondere kritisierte er, dass Kreditgeld „Wellen von Kreditblasen“ erzeugt und staatliche Zentralbanken das Kreditgeld im Verlauf der Geschichte immer wieder entwertet haben. Da Geld von den Banken durch die Vergabe von Krediten geschaffen wird, ist es möglich, Investitionen mit neuem Geld zu finanzieren, ohne dass dafür Geldersparnisse gebildet werden müssen. Wird der Zins von der Zentralbank zur Steuerung der Wirtschaft manipuliert, entstehen Boom-Bust Zyklen. Und braucht der Staat frisches Geld, schaffen es ihm die Banken, indem sie seine Anleihen kaufen.

Entwicklung der Kryptowährungen

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Das mit diesem Post verbreitete Bitcoin Whitepaper legte die Grundlage für die Entwicklung privater Kryptowährungen als Alternative zu unserem Kreditgeld. Der ersten Generation der reinen „Zahlungstoken“, zu der Bitcoin gehört, folgten weitere Generationen von „Token“ bis zu den heute am weitesten entwickelten „Asset-Token“, die eine neue Perspektive für die Erzeugung von Geld eröffnen. Die Tabelle gibt eine Übersicht der heute wichtigsten existierenden und möglichen Geldformen
mehr:
- Dem Euro droht der ZerfallVor unseren Augen entsteht gerade das Geld der Zukunft (Thomas Meyer, Focus, 27.02.2020)
siehe auch:
Bitcoin gilt als „Gold des Internets“ – Vergleich von Bitcoin als digitales Gold mit dem realem Edelmetall Gold (Stefanie Herrnberger, blockchainwelt.de, 20.02.2020)
Blockchain (Peter Jost, Deutsche Energie-Agentur, 10.02.2020)
Werden alle Währungen wegen Bitcoin (BTC) überflüssig? (blockchain-hero.com, 03.02.2020)
Bitcoin Kurs Prognose: Die Coin ist eine ‚Super-Commodity‘ die 1-10 Millionen Dollar wert sein sollte, sagt Manager einer Kryptobörse (Peter Jost, kryptovergleich.org, 29.01.2020)
Wie viel Strom der Bitcoin aktuell verbraucht (Günter Kohlbecker, ZON, 24.11.2019)

#blockchainDay: Blockchains sind trustless. {01:54}

Fraunhofer InnoVisions
Am 31.10.2019 veröffentlicht 
Macht die Blockhain Vertrauen überflüssig? Michael Kubach vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO erklärt, weshalb auch Blockchain Anwendungen nicht ohne Vertrauen in die andere Mitglieder auskommen und wie wichtig darüber hinaus auch das Vertrauen in die Technologie selbst ist.
Weitere Berichte zum Thema Blockchain finden Sie auf InnoVisions:
https://www.fraunhofer-innovisions.de…

Ökonom Marc Friedrich: "Bitcoin lässt sich nicht verbieten" (Kevin Schwarzinger, biallo.de, 23.10.2019)
Verbraucht der Zahlungsverkehr mit Bitcoin so viel Energie wie ein ganzes Land? (Günter Kohlbecker, ZON, 31.07.2019)
Die schmutzige Seite des neuen Bitcoin-Booms (Benedikt Fuest, Welt.de, 02.07.2019)
Wie groß ist der CO2-Fußabdruck des Bitcoin? Studie enthüllt Stromverbrauch und CO2-Ausstoß der Kryptowährung (Nadja Podbregar, scinexx.de, 13.06.2019)
- Bitcoin Kritik! Energieverbrauch, Stromverbrauch, Umweltzerstörung, Klimawandel, Betrug, Verluste & Gier (Nadja Podbregar, scinexx.de, 13.06.2019)

Bitcoins - Was man wirklich wissen muss | Harald Lesch {8:55}

Terra X Lesch & Co
Am 24.01.2018 veröffentlicht 
An Kryptowährungen führt momentan kein Weg vorbei. Besonders gehyped: Bitcoins. Aber: Was steckt eigentlich genau dahinter? Harald Lesch im Gespräch mit dem Finanzexperten Rainer Voss.
Dieses Video ist eine Produktion des ZDF, in Zusammenarbeit mit objektiv media.
Hier erfahrt ihr, warum das Geldsystem überhaupt funktioniert -
https://www.youtube.com/watch?v=Le6w8…

Da steh' ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!
Heiße Magister, heiße Doktor gar,
Und ziehe schon an die zehen Jahr'
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum –
Und sehe, daß wir nichts wissen können!

[Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808. Szene: Nacht, Faust allein in seinem gotischen Zimmer]

Versuch eines Trostes:
Gegen Ende des 19. Jarhhunderts schrieb der schwedische König Oskar II. einen Mathematik-Preis aus, in dem es u.a. um das n-Körper-Problem ging. (Von der Lösung erhoffte man sich Einsichten in die Stabilität des Sonnensystems.)
Das Preiskommittee sprach dem französischen Mathematiker Poincaré den Preis zu, und Oskar II. verkündete am 21. Januar 1889 die Preisvergabe, und Poincaré wurde Ritter der französischen Ehrenlegion.
Aber:
Nach der Preisverleihung entstand hinter den Kulissen ein Streit über Poincarés Beweisführung. Zentraler Punkt war die Frage, ob bestimmte trigonometrische Reihen (unendliche Zahlenfolgen wie 1 + 2 + 3 + … ) konvergent oder divergent sind. Es heißt, sie konvergiert, wenn ihre Einträge eine endliche Summe ergeben. Zum Beispiel 1 + 1/2 +1/4 + 1/8 + ... = 2,0; folglich konvergiert die Reihe. Wenn die Summe gegen unendlich tendiert, da die Anzahl der Glieder zunimmt, heißt es, die Reihe divergiert.
Um es ein klein wenig komplizierter zu machen:
Aber Mathematiker hatten eine andere Vorstellung von Konvergenz als Astronomen. Letztere behaupteten, dass eine Zahlenfolge, deren Einträge schnell an Wert abnähmen, im Endeffekt eine endliche Summe habe. Für Mathematiker war das längst nicht genug. Die Glieder der sogenannten harmonischen Reihe beispielsweise, die als 1 + 1/2 + 1/3 + 1/4 + 1/5 + ... anfängt, werden sehr schnell kleiner. Trotzdem kann bewiesen werden, dass die Summe gegen unendlich tendiert. Und das sehr langsam: Nicht weniger als 178 Millionen Einträge müssen hinzugefügt werden, um die Summe von 20 zu erreichen, aber irgendwann wächst die Summe über alle Grenzen hinaus. Folglich divergiert die harmonische Reihe. Also muss, selbst wenn die Glieder der Reihe so schnell kleiner werden, dass eine Planetenumlaufbahn für sehr, sehr lange Zeiträume – wir sprechen hier von vielen Millionen und Milliarden Jahren – bis zu einer Genauigkeit von mehreren Stellen hinter dem Komma berechnet werden kann, die Konvergenz der Reihe mathematisch bewiesen werden, gerade wenn die Anzahl der Glieder der Reihe gegen unendlich tendiert.

Gyldén und Lindstedt hatten in ihrer Arbeit Zahlenreihen verwendet, um sich den Umlaufbahnen der Körper, die sich umeinander bewegen, anzunähern. Um die Stabilität eines Systems von drei oder mehr Körpern – beispielsweise unseres Sonnensystems – nachzuweisen, ist es entscheidend, herauszufinden, ob die Reihe konvergiert. Wenn sie divergiert, könnte das System explodieren. Gyldén räumte ein, dass die Reihe gelegentlich divergiere, behauptete aber, dass dies nur für eine unendlich kleine Menge an Parametern erfolge. Daher wäre es äußerst unwahrscheinlich, dass die Planeten jemals von ihren elliptischen Umlaufbahnen abkämen. Poincaré andererseits behauptete, dass die Menge an Parametern, die zu Explosionen führten, auch wenn sie klein sei, nicht vernachlässigt werden dürfe. Eine kleine Störung, vielleicht sogar ein Komet, der uns einen Besuch abstatte, könne alles kippen und die Erde aus ihrer regelmäßigen Umlaufbahn um die Sonne entweder in den Weltraum oder in ein schwarzes Loch irgendwo in den Weiten des Universums katapultieren.

[Aus George G. Szpiro: Das Poincaré-Abenteuer. Ein mathematisches Welträtsel wird gelöst. Aus dem Englischen von Thomas Bertram. Piper, München 2008, S 48-71, abgedruckt in Denkanstöße 2009, Ein Lesebuch aus Philosophie, Kultur und Wissenschaft, Piper, München 2008, S. 83-104]
Die prämierte Arbeit sollte in einer der kommenden Ausgaben der Acta mathematica veröffentlicht werden. Ein halbes Jahr nach Verleihung des Preises stieß ein Redakteur der Zeitschrift auf eine Berechnung Poincarés, die er nicht verstand. Bei dem drauffolgenden Briefwechsel wurde sich Poincaré entsetzt eines gravierenden Flüchtigkeitsfehlers bewußt:
Er hatte nachgewiesen, dass drei Körper in einem Gravitationssystem entweder zu einem Gleichgewicht, zu periodischen Umlaufbahnen oder zu quasiperiodischen Umlaufbahnen tendieren können. Aber eine weitere Möglichkeit hatte er übersehen: chaotische Umlaufbahnen. [ebda]  
Bei der Andeutung einer Geschichte, die immer komplizierter wird, will ich es belassen. Wen die ganze Geschichte interessiert:
- Das Poincaré-Abenteuer (Post, 06.01.2009)
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Für unsere Demokratie wichtige Dinge interessieren einfach nicht!

Aktuelles und wegweisendes Urteil des OLG Hamburg zur De-Anonymisierung von Autoren politischer Beiträge und Hetze im Internet wird in den Massenmedien komplett ignoriert.
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„Hass ist ein Gift in unserer Gesellschaft“ zitiert die Tagesschau am 20.02.2020 (1) Angela Merkel nach den Ereignissen in Hanau, bei denen 11 Menschen getötet wurden und das als rechtsextremistisch motiviertes „Massaker“ (2) bezeichnet wird. Während die massenmedialen Blätter in diesen Tagen über rechtsextremen Terror und Hetze in Hanau fabulieren und sich echauffieren, regt sich kein Hauch im Blätterwald in Bezug auf ein Urteil, das Prozess- und Mediengeschichte schreiben könnte.

Frau Merkel hat natürlich vollkommen Recht. Hetze im Internet geht gar nicht. Da sind wir uns alle einig. Sogar das Oberlandesgericht in Hamburg. Es hat in einem entscheidenden Urteil vom 18.2 2020 zugelassen, dass Autoren, die politisch motivierte Beiträge in der Enzyklopädie Wikipedia veröffentlichen de-anonymisiert werden dürfen. Das betrifft etwa 300 Autoren auf Wikipedia, denen es erlaubt ist, kontroverse Beiträge zu kontrollieren, und das unter einem Pseudonym. Den Journalisten Dirk Pohlmann und Markus Fiedler ist es gelungen, die Identität eines der Autoren offenzulegen, der unter dem Namen „Feliks“ Beiträge subjektiv redigiert hat. Das sah so aus, dass er Wikipedia-Einträge zu Biographien von Politikern der Linkspartei redigiert hat, obwohl er selbst Mitglied der Linken ist und sogar mal im Vorstand der bayerischen PDS war. Weiterhin hat er Beiträge gebrandmarkt und verächtlich gemacht, die nicht seiner politischen Haltung zum Nahost-Konflikt entsprachen. (3 kompa)

Nachdem „Feliks“ versucht hat per einstweiliger Verfügung zu erreichen, dass er anonym bleiben kann, hatte im Februar 2019 das Landgericht Hamburg bereits entschieden, dass die Offenlegung zulässig ist, und das Oberlandesgericht Hamburg hat dieses Urteil nun vor wenigen Tagen, am 18.02.2020 bestätigt. Wie der Anwalt der Journalisten schreibt, hat das Oberlandesgericht außerdem die Hürden zur De-Anonymisierung von Autoren, die nachweisbar Interessenkonflikte haben und die sich politisch äußern und abwertend kommentieren, herabgesenkt.

Eine solche Entscheidung hat es im Medienrecht noch nicht gegeben. Es hat jemand im Internet manipuliert und Hetze gegen Andersdenkende betrieben, im Verborgenen. Jetzt gibt es ein Urteil des Oberlandesgerichtes Hamburg, das es zulässt, dass derjenige dies nicht mehr im Verborgenen tun kann. „Ein medialer Heckenschütze wurde enttarnt.“, „Gericht stützt Investigativ-Journalisten“, oder „Keine Chance für heimliche Zensur“ wären mögliche Schlagzeilen in den Medien, doch es herrscht mediales Massenschweigen.

Warum passt diese Erzählung nicht in das mediale Narrativ? Was ist da los im Mediensystem?

mehr:
- Tagesdosis 22.2.2020 – Presse-Feigheit 2.0 (Kommentar von Christiane Borowy, KenFM, 22.02.2020)
siehe auch:
Tagesdosis 26.2.2019 – Wikipedia-Manipulationen (Post, 26.02.2019)

mein Kommentar:
neun von zehn Leuten sagt der Name »Assange« nichts.
Ich schätze, neun von zehn Leuten können sich überhaupt nicht vorstellen, daß Wikipedia teilweise und gezielt manipuliert wird.
Wozu dann also kostbare Sendezeit verschwenden?!
Weshalb unsere Demokratie den Bach runtergeht?
Weil sich neun von zehn Leuten unter »Aufklärung« – wenn überhaupt – nur Oswald Kolle vorstellen.
Unter die ersten 100 schafften es etwa "Deutschland-sucht-den-Superstar"-Dritter Daniel Küblböck (Platz 16), die ostdeutsche SPD-Politikerin Regine Hildebrandt (Platz 23), Plattenmillionär Dieter Bohlen (Platz 30) und Satire-Künstler Loriot (Platz 54). Weiter hinten als erwartet landeten unter anderem die Schauspieler Heinz Rühmann (Platz 40) und Marlene Dietrich (Platz 50) sowie die Dichter Friedrich Schiller (Platz 68), Thomas Mann (Platz 76) und Hermann Hesse (Platz 77).
[ZDF-Aktion "Unsere Besten" – Marx, Einstein und Adenauer in den Top Ten, SPON, 08.11.2003]
Es würde mich nicht wundern, wenn Franz Beckenbauer oder Boris Becker knapp vor Immanuel Kant landen würden…



[…] Die politische Handlung im emphatischen Sinne braucht aber eine Vision und einen hohen Einsatz. Sie muss auch verletzen können. Das tut aber die glatte Politik von heute nicht. Nicht nur Angela Merkel, sondern die Politiker von heute sind nicht fähig dazu. Sie sind nur noch gefällige Handlanger des Systems. Sie reparieren da, wo das System ausfällt, und zwar im schönen Schein der Alternativlosigkeit. Die Politik muss aber eine Alternative anbieten. Sonst unterscheidet sie sich nicht von der Diktatur. Heute leben wir in einer Diktatur des Neoliberalismus. Im Neoliberalismus ist jeder von uns Unternehmer seiner selbst. Kapitalismus zu Zeiten von Marx hatte eine ganz andere Arbeitsstruktur. Die Wirtschaft bestand aus Fabrikbesitzern und Fabrikarbeitern, und kein Fabrikarbeiter war der Unternehmer seiner selbst. Es fand eine Fremdausbeutung statt. Heute findet eine Selbstausbeutung statt – ich beute mich aus in der Illusion, dass ich mich verwirkliche.

"Freiheit ist eine Gegenfigur des Zwanges"
ZEIT Wissen: Der Begriff Neoliberalismus wird deshalb gern auch als Kampfbegriff der Linken bezeichnet.

Han: Das stimmt nicht. Neoliberalismus bezeichnet den Zustand der heutigen Gesellschaft sehr gut, denn es geht um die Ausbeutung der Freiheit. Das System will immer produktiver werden, und so schaltet es von der Fremdausbeutung auf die Selbstausbeutung, weil dies mehr Effizienz und mehr Produktivität generiert, alles unter dem Deckmantel der Freiheit.

ZEIT Wissen: Ihre Analyse klingt nicht besonders ermutigend. Wir beuten uns selbst aus, wir riskieren nichts, weder in der Liebe noch in der Politik, wir wollen nicht verletzt werden und nicht verletzen.

Han: Tut mir leid, aber das ist eine Tatsache.

ZEIT Wissen: Wie kann ein Einzelner in dieser Gesellschaft sein Glück finden – sollen wir uns mehr für unsere Ideale engagieren?

Han: Das System erschwert das. Wir wissen ja nicht einmal, was wir wollen. Die Bedürfnisse, die ich als meine Bedürfnisse wahrnehme, sind nicht meine Bedürfnisse. Nehmen Sie den Textildiscounter Primark. Menschen organisieren sich in Fahrgemeinschaften, weil es Primark nicht in jeder Stadt gibt. Dann kommen sie an und plündern fast den Laden. In einem Zeitungsartikel wurde neulich von einem Mädchen berichtet: Als es erfuhr, dass Primark auf dem Alexanderplatz neben C&A einzieht, schrie es vor Freude auf und sagte, wenn Primark hier entsteht, ist mein Leben perfekt. Ist dieses Leben wirklich ein perfektes Leben für sie, oder ist es eine Illusion, die diese Konsumkultur erzeugt hat? Schauen wir genau hin, was da passiert. Mädchen kaufen hundert Kleider, jedes Kleid kostet vielleicht fünf Euro – was schon für sich genommen ein Wahnsinn ist, weil für solche Klamotten Menschen in den Ländern wie Bangladesch sterben, wenn eine Kleiderfabrik einstürzt. Die Mädchen kaufen also hundert Kleider, aber sie ziehen sie kaum an. Wissen Sie, was die damit machen?

ZEIT Wissen: Sie präsentieren die Kleidung auf YouTube, in Haul-Videos.

Han: Genau, sie machen damit Werbung! Sie erstellen massenweise Videos, in denen sie die Kleider anpreisen, die sie gekauft haben, und Model spielen. Jedes YouTube-Video wird eine halbe Million Mal angeklickt. Konsumenten kaufen Kleider oder andere Dinge, aber sie gebrauchen sie nicht, sondern sie machen Werbung, und diese Werbung generiert neuen Konsum. Das heißt, es ist ein absoluter Konsum entstanden, der vom Gebrauch der Dinge abgekoppelt ist. Das Unternehmen hat die Werbung an die Konsumenten deligiert. Es macht selbst keine Werbung. Das ist ein perfektes System.

ZEIT Wissen: Sollte man dagegen protestieren?

Han: Warum sollte ich dagegen protestieren, wenn Primark kommt und mein Leben perfekt wird?

ZEIT Wissen: "Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein", schreiben Sie in Ihrem neuen Buch Psychopolitik. Warum?

Han: Freiheit ist eine Gegenfigur des Zwanges. Wenn man den Zwang, dem man unbewusst unterworfen ist, als Freiheit empfindet, ist das das Ende der Freiheit. Deshalb sind wir in einer Krise. Die Krise der Freiheit besteht darin, dass wir den Zwang als Freiheit wahrnehmen. Da ist kein Widerstand möglich. Wenn Sie mich zu etwas zwingen, kann ich mich gegen diesen äußeren Zwang wehren. Aber wenn kein Gegenüber mehr da ist, das mich zu etwas zwingt, dann ist kein Widerstand möglich. Deshalb lautet das Motto, das ich meinem Buch als Motto vorangestellt habe: "Protect me from what I want." Der berühmte Satz der Künstlerin Jenny Holzer.

ZEIT Wissen: Wir müssen uns also vor uns selbst beschützen?

Han: Wenn ein System die Freiheit angreift, muss ich mich wehren. Das Perfide ist aber, dass das System heute die Freiheit nicht angreift, sondern sie instrumentalisiert. Ein Beispiel: Als es in den achtziger Jahren die Volkszählung gab, sind alle auf die Barrikaden gegangen. In einer Behörde ist sogar eine Bombe hochgegangen. Die Menschen sind auf die Straßen gegangen, weil sie einen Feind hatten, nämlich den Staat, der ihnen gegen ihren Willen Informationen entreißen wollte. Heute geben wir mehr Daten über uns preis als jemals zuvor. Warum kommt es zu keinem Protest? Weil wir uns im Gegensatz zu damals frei fühlen. Die Menschen damals fühlten sich in ihrer Freiheit angegriffen, eingeschränkt. Und deshalb sind sie auf die Straße gegangen. Heute fühlen wir uns frei. Wir geben unsere Daten freiwillig heraus.

ZEIT Wissen: Vielleicht, weil das Smartphone uns dabei helfen kann, dahin zu kommen, wo wir hinwollen. Wir schätzen den Nutzen größer ein als den Schaden.

Han: Mag sein, aber von der Struktur unterscheidet sich diese Gesellschaft nicht vom Feudalismus des Mittelalters. Wir befinden uns in einer Leibeigenschaft. Die digitalen Feudalherren wie Facebook geben uns Land, sagen: Beackert es, ihr bekommt es kostenlos. Und wir beackern es wie verrückt, dieses Land. Am Ende kommen die Lehnsherren und holen die Ernte. Das ist eine Ausbeutung der Kommunikation. Wir kommunizieren miteinander, und wir fühlen uns dabei frei. Die Lehnsherren schlagen Kapital aus dieser Kommunikation. Und Geheimdienste überwachen sie. Dieses System ist extrem effizient. Es gibt keinen Protest dagegen, weil wir in einem System leben, das die Freiheit ausbeutet.

"Die heutige digitale Gesellschaft ist keine klassenlose Gesellschaft"
Wissen: Wie gehen Sie persönlich damit um?

Han: Ich werde wie jeder von uns unruhig, wenn ich nicht vernetzt bin, klar. Ich bin auch ein Opfer. Ohne diese ganze digitale Kommunikation kann ich meinen Beruf nicht ausüben, als Professor und als Publizist. Jeder ist eingebunden, eingespannt.

ZEIT Wissen: Welche Rolle spielen die Big-Data-Technologien?

Han: Eine wichtige, weil Big Data nicht nur für die Überwachung eingesetzt wird, sondern vor allem für die Steuerung des menschlichen Verhaltens. Und wenn das menschliche Verhalten gesteuert wird, wenn die Entscheidungen, die wir treffen, in dem Gefühl, frei zu sein, total manipuliert sind, ist unser freier Wille gefährdet. Das heißt, Big Data stellt unseren freien Willen infrage.

ZEIT Wissen: Sie schreiben, Big Data lasse eine neue Klassengesellschaft entstehen.

Han: Die heutige digitale Gesellschaft ist keine klassenlose Gesellschaft. Nehmen Sie die Datenfirma Acxiom: Sie unterteilt Menschen in Kategorien. Die letzte Kategorie heißt "waste" – Müll. Acxiom handelt mit den Daten von rund 300 Millionen US-Bürgern, also von beinahe allen. Die Firma weiß inzwischen mehr über die US-Bürger als das FBI, wahrscheinlich sogar mehr als die NSA. Bei Acxiom werden die Menschen in siebzig Kategorien eingeteilt, im Katalog werden sie wie Waren angeboten, und für jeden Bedarf gibt es etwas zu kaufen. Konsumenten mit hohem Marktwert finden sich in der Gruppe "Shooting Stars". Sie sind zwischen 26 und 45 Jahre alt, dynamisch, stehen zum Joggen früh auf, haben keine Kinder, sind aber vielleicht verheiratet und pflegen einen veganen Lebensstil, reisen gern, schauen die Fernsehserie Seinfeld. So lässt Big Data eine neue, digitale Klassengesellschaft entstehen.

ZEIT Wissen: Und wer gehört alles zur "Waste"-Klasse?

Han: Diejenigen mit schlechtem Score-Wert. Sie bekommen beispielsweise keine Kredite. Und so tritt neben das Panoptikum, das ideale Gefängnis Jeremy Benthams, ein "Bannoptikum", wie der Soziologe Zygmunt Bauman es genannt hat. Das Panoptikum überwacht die eingeschlossenen Insassen des Systems, das Bannoptikum ist dagegen ein Dispositiv, das die systemfernen oder systemfeindlichen Personen als unerwünscht identifiziert und ausschließt. Das klassische Panoptikum dient der Disziplinierung, das Bannoptikum dagegen sorgt für Sicherheit und Effizienz des Systems. Interessant ist, dass NSA und Acxiom zusammenarbeiten, also Geheimdienst und Markt.

ZEIT Wissen: Wäre es vorstellbar, dass die "Waste"-Klasse irgendwann eine gewisse kritische Größe erreicht, sodass sie für die Kontrollgesellschaft nicht mehr zu handhaben ist?

Han: Nein. Die verstecken sich, die schämen sich, das sind zum Beispiel "Hartzer". Sie werden ständig in Angst versetzt. Es ist Wahnsinn, in welcher Angst die Hartzer hier leben. Sie werden festgehalten in diesem Bannoptikum, auf dass sie nicht ausbrechen aus ihrer Angstzelle. Ich kenne viele Hartzer, sie werden wie Müll behandelt. In einem der reichsten Länder der Welt, in Deutschland, werden Menschen wie Abschaum behandelt. Ihnen wird die Würde genommen. Diese Menschen protestieren natürlich nicht, weil sie sich schämen. Sie beschuldigen sich selbst, anstatt die Gesellschaft verantwortlich zu machen, anzuklagen. Von dieser Klasse kann man keine politische Handlung erwarten.

ZEIT Wissen: Ganz schön deprimierend. Wo wird das alles enden?

Han: Es wird jedenfalls nicht so weitergehen, schon aufgrund der materiellen Ressourcen. Das Öl reicht vielleicht noch für 50 Jahre. Wir leben hier in Deutschland in einer Illusion. Wir haben die Produktion weitgehend verlagert. In China werden unsere Computer, unsere Kleidung, unsere Handys produziert. Aber die Wüste kommt Peking immer näher. Und man kann dort wegen des Smogs kaum noch atmen. Als ich in Korea war, habe ich erlebt, dass diese gelben Staubwolken bis nach Seoul kamen. Man musste eine Schutzmaske tragen, weil der Feinstaub die Lungen beschädigt. Es ist dramatisch, wie sich die Dinge da entwickeln. Selbst wenn es noch eine Weile gut läuft – was für ein Leben ist das? Oder schauen Sie sich die Menschen an, die ihren Körper mit allen möglichen Sensoren ausstatten und rund um die Uhr Blutdruck, Blutzuckerwert und Fettanteil messen und diese Daten ins Netz stellen! Man nennt das Self-Tracking. Diese Menschen sind bereits Zombies, sie sind Puppen, die von unbekannten Gewalten am Draht gezogen werden, wie Georg Büchner in Dantons Tod gesagt hat.
 

[
Byung-Chul Han: "Tut mir leid, aber das sind Tatsachen", ZON, 07.09.2017]
zu Byung-chul Han siehe auch:
- Byung-Chul Han: »Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein« (Post, 07.09.2017)
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Der mediale und juristische Umgang mit Assange

Die NZZ identifizierte sich mit verleumderischen und ehrverletzenden Aussagen gegen den UN-Sonderberichterstatter über Folter.
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Die NZZ-Redaktion erlaubte einer Gastautorin, dem Schweizer Rechtswissenschaftler und UN-Sonderbeauftragten über Folter, Nils Melzer, prominent auf einer ganzen Seite «absurde» Aussagen zur Isolationshaft Assanges zu unterschieben und ihn einer «Verschwörungstherorie» zu bezichtigen. Zudem habe ausgerechnet der UN-Sonderberichterstatter über Folter einen «lockeren Umgang» mit dem Begriff der Folter. «Beunruhigend» sei, dass seriöse Medien und prominente Personen des öffentlichen Lebens bereit seien, Nils Melzer Glauben zu schenken.

Diese und viele weitere happigen Vorwürfe verbreitete die NZZ-Redaktion, ohne dem massiv Angegriffenen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wie es der Schweizerische Presserat in solchen Fällen vorschreibt.

Noch bedenklicher: Die NZZ setzte den grossen Titel und den Lead über der ganzen Seite nicht in Anführungszeichen, um sie als Aussagen der Gastautorin zu kennzeichnen, sondern machte sie zu eigenen Aussagen der NZZ. Für viele Leserinnen und Leser, welche bei vielen Artikeln nur die Titel und Leads lesen, war klar, dass die NZZ zum Schluss gekommen ist, dass Assange «ein wenig glaubwürdiges Opfer» sei und die erhobenen Anschuldigungen bezüglich des Verfahrens gegen Assange «einer kritischen Überprüfung nicht standhalten». Die Professorin aus Berlin unterstellte dem UN-Sonderberichterstatter schwere Verletzungen seiner Sorgfalts- und Neutralitätspflichten sowie mangelnde Fachkompetenz bei der Auslegung von Folter.

Bei der Gastautorin der NZZ handelte es sich um Tatjana Hörnle, Direktorin der Abteilung für internationales Strafrecht am Max-Planck-Institut in Freiburg und Professorin an der Humboldt-Universität Berlin. In der NZZ schrieb sie, Assange sei weder in der Botschaft Ecuadors noch während der langen Isolierhaft in einem Londoner Gefängnis «psychologisch gefoltert» worden. Die Isolation in der Botschaft habe Assange «selbst gewählt». Hörnle kritisierte scharf den «lockeren Umgang» mit dem Begriff der Folter, den Melzer verwende. Dessen harte Kritik an der Strafuntersuchung in Schweden als «abgekartetes Spiel» bezeichnete Hörnle als reine Verschwörungstheorie.

In einem Interview mit dem Online-Magazin «Republik» fasste Melzer seine Untersuchungsergebnisse wie folgt zusammen: «Julian Assange hat Folter aufgedeckt, er wurde selber gefoltert und könnte in den USA zu Tode gefoltert werden.» Zuerst wollte sich Melzer mit dem Fall Assange gar nicht befassen. Assange sei als Vergewaltiger dargestellt worden, als ein Hacker, Spion und Narzisst. Dabei verblassten die von ihm enthüllten Missstände und Kriegs­verbrechen im Dunkeln. «So war es auch mir ergangen. Trotz meiner Berufs­erfahrung, die mich zur Vorsicht hätte mahnen sollen.» Aufgefallen sei ihm dann, dass sich ein Mensch neun Jahre lang in einer strafrechtlichen Voruntersuchung zu einer Vergewaltigung befindet, ohne dass es je zur Anklage kommt. «Ich habe noch nie einen vergleichbaren Fall gesehen.»

mehr:
- NZZ beschimpft Assange – und muss eine Replik publizieren (Urs P. Gasche, Info-Sperber, 26.02.2020)
siehe auch:
Entscheidung der Richterin: Assange bleibt von seinen Anwälten getrennt (Thomas Scripps, Laura Tiernan, World Socialist Website, 29.02.2020)
Julian Assange verurteilt Gericht: Keine Beratungen mit seinen Anwälten zugelassen (Thomas Scripps, Laura Tiernan, World Socialist Website, 28.02.2020)
Die Strafverfolgung von Julian Assange, die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit und der Aufstieg des nationalen Sicherheitsstaats (Richard Hoffman, World Socialist Website, 26.02.2020)

Yanis Varoufakis - Eine Botschaft an die deutsche Regierung im Fall Assange {6:41}

acTVism Munich
Am 28.02.2020 veröffentlicht 
✔ Pressefreiheit unterstützen: https://goo.gl/uc1Zxo
✔ acTVism abbonieren: https://goo.gl/aMkRjb
In diesem Interview sprechen wir mit dem ehemaligen griechischen Finanzminister, Politiker und Gründer von DiEM25, Yanis Varoufakis, über seinen Besuch bei Julian Asssange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh vom 23. Februar 2020. Außerdem geht es um die Haltung der deutschen Regierung in diesem Fall und über die Zukunft der Demokratie in Europa.
ENGLISH VERSION: https://youtu.be/DcEdyRwjrggy
Aufgrund begrenzter Kapazitäten kann für dieses Video leider kein Transkript zur Verfügung gestellt werden.
Weitere acTVism-Inhalte zu diesem Thema:
siehe YouTube

EP.847 Pink Floyd Co-Founder Roger Waters: Washington Have Decided They Want Julian Assange Killed! {27:53}

Going Underground on RT
Am 22.02.2020 veröffentlicht 
On this episode of Going Underground, Going Underground's Social Media Producer Farhaan Ahmed speaks to Richard Burgon MP who is standing to be Deputy Leader of the Labour Party. He discusses the importance of Wikileaks Founder Julian Assange's leaks, what his extradition could mean for press freedom in the UK and around the world and why his extradition should be halted. Next, legendary former Pink Floyd frontman Roger Waters speaks to Afshin Rattansi about the persecution of Julian Assange, ahead of Julian's upcoming extradition trial. He discusses why he believes Washington DC is seeking to imprison Julian Assange for 175 years, the importance of his leaks for billions around the world, the Washington-backed regime change attempt in Venezuela and coup in Bolivia and more! Finally, Farhaan Ahmed speaks to BAFTA Award-Winning actor Steve Coogan and BAFTA Award-Winning Director Michael Winterbottom about their new film 'Greed', a comedy highlighting billionaire excess and the gap between the super-rich and the super-poor.

- Ärzte: »Assange könnte sterben« (Post, 25.11.2019)
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