Donnerstag, 16. Januar 2020

Anatomie des Wahns

Wilhelm Reichs Klassiker „Massenpsychologie des Faschismus“ provoziert Vergleiche zwischen 1933 und 2020.
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Im Januar 2020 erscheint Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ nach 87 Jahren erstmals im redigierten Originaltext. Es ist nicht nur eines der wichtigsten psychoanalytischen Bücher, die je veröffentlicht wurden. Innerhalb dessen, was heute Rechtsextremismusforschung genannt wird, war es die erste Publikation zu psychosozialen Hintergründen des Nazi-Staates. Eine Einordnung und Auszüge aus dem Text von 1933.
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Ein eigenständiges Werk
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Wilhelm Reich (1897 bis 1957), „linker“ Psychoanalytiker und kritischer Mitstreiter Sigmund Freuds, hatte 1933 das erklärte Ziel, Elemente aus Psychoanalyse und Marxismus zu etwas Neuem zu verschmelzen, das er „Sexualökonomie“ nannte. Da er seit 1930 in Berlin lebte, war er unmittelbar konfrontiert mit dem damaligen politischen „Rechtsruck“, als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und Sexualreformer zugleich in dessen Abwehr involviert. Was er dabei erfuhr und begriff, hielt er fest für die Massenpsychologie.

Dieses Buch ist also zugleich ein Zeitzeugenbericht: Ein marxistischer Psychoanalytiker jüdischer Herkunft erlebt, kommentiert und analysiert das Ende der Weimarer Republik und den Siegeszug des Nationalsozialismus. Darüber hinaus deckte Reich psychosoziale Grundzüge des internationalen Faschismus auf. Fertigstellen konnte er sein Werk erst, nachdem er im Mai 1933 in Dänemark, seinem ersten Exilland, angekommen war.

Noch im selben Jahr wurde er aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen, nicht zuletzt, weil er Letzteren in der Massenpsychologie zu psychoanalytisch argumentierte und Grundthesen von Marx in Zweifel zog. Nahezu zeitgleich wurde ihm die Mitgliedschaft in den psychoanalytischen Vereinigungen entzogen: vor allem weil sein offen antifaschistisches Auftreten deren Anpassungskurs an das NS-System behinderte.

1946 publizierte Reich dann eine sich in vielem gravierend vom Original unterscheidende (1) englischsprachige Ausgabe der Massenpsychologie. Diese 1971 auch auf Deutsch erschienene Schrift stellt zweifellos eine bemerkenswerte Weiterführung dar. Die Lektüre des Originals ersetzt sie jedoch nicht.

mehr:
- Anatomie des Wahns (Andreas Peglau, Rubikon, 16.01.2020)
siehe auch:
Reichstags-9/11: Vom Neocon-Putsch zur weltweiten Überwachung (Post, 10.08.2019)
COG nach 9/11 – Der Ausnahmezustand – und seine Vorbereitung – laden zum Mißbrauch ein (Post, 05.04.2019)
USA: Die verrückten Neocons (Post, 02.03.2019)
Der Fall Wilhelm Reich (Post, 15.09.2013 )
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Erschöpfung als Herrschaftsinstrument – Materialsammlung

Mit der folgenden Keynote eröffnete Jan Böttcher die Autor*innenwerkstatt »Gesellschaftliche Debatten und literarisches Schreiben«, die im Rahmen des 26. open mike im November 2018 stattfand.


Wir bemühen gerade in künstlerischen Zusammenhängen gern die Formel 1+1=2+x oder sogar 1+1=3; dass also die Summe mehr ist als die Einzelteile, so wie eine Band nicht aus vier Solist*innen besteht. Und nun darf man sich im (zumindest künstlerisch legitimen) Umkehrschluss fragen: Löst sich eine Band auf, bleiben dann vier Einsen zurück, oder erniedrigt sie die gemeinsame musikalisch-soziale Enttäuschung zu einem »weniger als 1«? Hält eine Gesellschaft aus 80 Millionen Menschen nicht mehr zusammen, wiegen ihre Einzelteile dann eventuell sogar weniger als 1?

Einigen wir uns darauf, dass es veränderte Druckverhältnisse gibt. Druck heißt natürlich in erster Linie: Wandel. Das Magazin DER SPIEGEL veröffentlicht ein 20seitiges Dossier, indem es die Me-Too-Debatte im eigenen Haus untersucht. Eine rühmliche Ausnahme, denn ansonsten werden die Filme der Emanzipation rückwärts abgerollt. Backlash oder: die von vielen Historikern vorhergesehene Re-Aktion auf den russischen Systemcrash und die 89er-Öffnungen, die nicht zuletzt auch Grenzöffnungen waren. Sprachwandel, dem Denkwandel nachkommt. In Ungarn wird das Universitätsfach Gender Studies verboten. Der türkische Präsident schimpft uns Deutsche alle Nazis. Eine Hirnforscherin will zeigen, dass Empathie erlernbar ist – aber ausgerechnet sie mobbt dabei ihre Mitarbeiter*innen. Eine Jagdhundkrawatte und ihr Vogelschiss. Der amerikanische Präsident wird in täglichen Lügen gemessen und gewogen.

Es ist viel Denkfaulheit in der Welt und Erschöpfung an der Zivilisation. Eine Frage ist: Was machen die (einfachen, dummen, faulen falschen, populistischen Sprachkörper und ihre oft ja durchaus smarten, aufschlussreichen Erwiderungen, die auch), was machen all diese Sprachkörper mit uns, die aus Debatten, in der digitalen Alltagssprache, zusammengestellt durch die Filter des/der Anderen auf uns wirken – schüchtern sie uns ein, werden wir sie noch los, wie lange hallen sie nach in den immer zu wenigen Stunden, in denen wir uns ausklinken und etwas GANZ EIGENES LITERARISCHES schaffen wollen? Nutzen wir unsere literarische Freiheit, oder ist diese Freiheit eine Utopie ohne Marktwert, schreiben wir schon nur noch an einem einzigen Text, der mal öffentlich ist und mal Manuskript sich nennt? Werden wir einsprachig, und wäre das hilfreich, weniger anstrengend? Wie weit ist der Weg von einsprachig zu einsilbig?

Nun hat sich ja die Literatur (seit und mit Knausgård) eine neue verspiegelte Trick- und Effektkiste gebaut, mit der sie jedes sogenannt »authentische Sprechen« zu »pseudo-authentischem Sprechen« machen kann. Zu Maria Stepanovas Nach dem Gedächtnis, einem Buch, das just bei Suhrkamp erscheint, heißt es von Verlagsseite: »Ein neues Genre ist erfunden: der ›Metaroman‹. Liebesgeschichten und Reiseberichte, Reflexionen über Fotografie, Erinnerung und Trauma verschmilzt die Stimme der Autorin zu einer spannungsvollen essayistischen Erzählung.« Klingt gut, nach Rachel Cusk, Annie Ernaux – nie war das Ich-Sprechen modischer, nie verlockender. Aber warum eigentlich immer die Stimme der Autorin? Gerade weil uns allen klar ist, dass Autorin und lyrisches Ich niemals zusammenfallen, dass es kein 1:1 zwischen Autor und Ich-Erzähler geben kann, müssen wir doch sehr aufpassen, dass dieses literarische ICH nicht noch weiter verabsolutiert wird. Denn so kunstvoll es gemacht sein kann, so kunstlos und verkürzt wird es oft rezipiert, und am Ende wird fast jede mitverdächtigt, ihr Ich so schutzlos ausliefern zu wollen wie Emmanuel Carrère. Die Literatur trägt den gleichen Schaden davon wie die Welt – weil gerade dieser Weg, der das Individuelle seit den 70er Jahren und dann vor allem nach 1989 fetischisiert, ein gesamtgesellschaftlicher Irrweg ist. Im Übrigen sind wir jetzt auch so weit, dass Literaturkritiker*innen und Leser*innen gar keinen Bock mehr auf das Individuum haben – und es mitunter gänzlich entleeren. Senthuran Varatharajah hat über diese Rezeption richtig und zugespitzt gesagt:

»Authentizität als literarisches Kriterium […] ist die Bestätigung dessen, was ich immer schon gewusst habe, über Menschen, von denen ich nichts weiß und nichts wissen möchte. Es ist ein Synonym für Ressentiment.« 

Das hab ich erst in einer essayistischen Bestandsaufnahme zur deutschsprachigen Literatur gelesen, die Selim Özdoğan verfasst hat. Er widmet sich darin (ein ganz anderer Punkt) auch der Normsprache als Herrschaftsinstrument, die alle anderen Sprachformen neben sich herabstuft.
»Wir bejammern die Verrohung der Sprache, die Anglizismen, die fehlenden Artikel, die Verkürzungen, die Auslassungen, die Vulgarität, die Unfähigkeit, einen geraden Satz zu bilden, der womöglich auch noch mehrere Nebensätze hat. Wir übersehen dabei, dass Texte über literarische Qualitäten verfügen können, auch wenn sie von Menschen geschrieben wurden, deren Sprache nicht Normdeutsch ist.«
Das Nicht-Normdeutsch lagert sich um das Normdeutsch. Auch monologische, lyrische oder comicaffine Prosa gehört dazu. Jede Differenz ist Erweiterung. Und sollte immer zuerst als Bereicherung begriffen werden. Und bitte nicht erst gefeiert werden, wenn alle feiern, wenn man schon ein dekorierter Autor ist wie bspw. Georg Klein.
mehr:
- Mehret die Sprachen, wehret der Glaubwürdigkeit (Jan Bötcher, Logbuch, Suhrkamp, undatiert)
siehe auch:
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Die korrupten Eliten

Die CDU agierte über Jahre wie eine kriminelle Vereinigung. Exklusivabdruck aus „Die Beichte meines Vaters über die Herkunft des Bimbes: Die schwarzen Kassen der CDU“. Teil 2/2.
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In seinem Buch „Die Beichte meines Vaters über die Herkunft des Bimbes“ beruft sich Karl-Heinz Ebert auf seinen Vater Karl-Anton Ebert, der als Buchhalter an entscheidender Stelle verwickelt war, und berichtet zudem von den Ergebnissen seiner eigenen Recherchen. Die lassen tief in ein weit verzweigtes System schwarzer Kassen bei Deutschlands größter Volkspartei blicken und enthüllen einen atemberaubenden Coup aus der Frühphase der Bundesrepublik Ende der 1950er-Jahre. Der folgende Text ist Teil 2 eines Auszugs aus diesem Buch.
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Birne, Bimbes und Flick
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Kommen wir zurück zu Helmut Kohl und zum ersten Parteispendenskandal, der die Bundesrepublik erschütterte: zur Flick-Affäre.

Helmut Kohl war ein Machtmensch, der die Welt stets in Gut und Böse, in „Wir“ und „Die” unterteilte. „Die Sozen” waren sein Leben lang ein Feindbild, an dem er geradezu archaisch festhielt. Entsprechend war seine Haltung zum Geld, das er gerne „Bimbes” nannte: Es war für Kohl — ebenso wie Beziehungen — ein Mittel des politischen Kampfes. Beim Verfolgen seiner Karriere und seiner politischen Ziele war ihm fast jedes Mittel recht. Das übergeordnete Ziel, die Macht zu erobern und zu sichern und den Gegner davon fernzuhalten, rechtfertigte — so muss man sein Verhalten interpretieren — in Helmut Kohls Augen auch illegales Verhalten.

Wie sein geistiger Ziehvater Konrad Adenauer glaubte zudem auch Kohl, dass die SPD nach 1945 und erneut nach 1990 wegen Wiedergutmachungszahlungen einen Vermögensvorteil gehabt habe und die CDU als damals neu gegründete Partei ohne Vermögen legitimiert sei, diesen Nachteil auf welchem Wege auch immer auszugleichen. Die Frage, ob das mit der Rechtslage vereinbar war, beschäftigte ihn dabei offenbar nicht besonders.

Entsprechend suchte Kohl schon sehr früh, zu seiner Zeit als Fraktionschef und Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, die Nähe zum Geld. Das Geschmäckle, das entstand, wenn er erhebliche Summen mächtiger Industrieller entgegennahm, ignorierte er offenbar konsequent. Ganz sicher hat Helmut Kohl die oft nach Korruption riechende Verquickung privatwirtschaftlicher Interessen mit seinen eigenen Ambitionen als Parteipolitiker und Amtsträger nicht selbst erfunden.

Er fand in der CDU vielmehr ein bereits etabliertes Netzwerk und die entsprechende Haltung vor, man stehe über dem Gesetz — und er nutzte beides entschlossener und skrupelloser als viele andere vor und nach ihm. Vor allem ging es Kohl stets darum, seine Partei im Griff zu haben und kampagnenfähig zu halten. Dabei half Geld, das er an den Büchern vorbei einzelnen Verbänden oder Parteifreunden zukommen lassen konnte, natürlich ungemein.

mehr:
- Die korrupten Eliten (Karl-Heinz Ebert, Rubikon, 15.01.2019)
siehe auch:
1,2 Billionen Dollar für die reichsten 0,001 Prozent (Post, 31.12.2019)
Tagesdosis 1.12.2018 – BlackRock und die EZB – Hand in Hand für die Finanzelite (Podcast) (Post, 01.12.2019)
Das Gebaren unserer politischen Elite: Beweismittel verschwinden (Post, 20.12.2019)
Der Staat, seine Eliten und das Geld (Post, 09.10.2019)
Aufmerksamkeitsmanagement: Immer neue Bedrohungsszenarien und immer wieder Aufrüstung – Wozu? (Post, 23.02.2019)
- Wider den Gehorsam! (Post, 23.11.2019)
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