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Ein Vater spricht über das Leben, den Tod und das Abschiednehmen
Tiziano Terzani hat als langjähriger Korrespondent des SPIEGEL unser Bild von Asien mit geprägt. Das damals noch unzugängliche China kannte er wie kaum ein anderer westlicher Journalist, im asiatischen Denken war er seit langem zu Hause. Als nach längerer Krebserkrankung sein Tod naht, lädt der 65-jährige Terzani seinen Sohn Folco zu sich ein, um Abschied zu nehmen. In einem langen Zwiegespräch erzählt der Vater dem Sohn von seinem bewegten Leben zwischen Europa und Asien und von der Auseinandersetzung mit Krankheit und dem Sterben. Es entspinnt sich ein berührender Dialog über das Leben und die Begegnung mit dem Tod, über Abschied, Trauer und Verlust, aber auch über Hoffnung und Wiederkehr.
Die sehr persönlichen Erinnerungen des bekannten SPIEGEL-Journalisten und Asienkenners.
Ich habe das erste Lenin-Denkmal Zentralasiens unter dem Ruf Allahu Akbar, Allahu Akbar! – Allah ist groß – fallen sehen. Und heute haben wir es mit al-Qaida dazu tun. Siehst du die Verbindung? Nur wer dumm und kurzsichtig ist, verkennt den Zusammenhang zwischen dem Ende des Kommunismus als Ideologie der Unterdrückten, wie ich es dir im Zusammenhang mit Mao und Ho-Chi-Minh erläutert habe, und dem islamischen Fundamentalismus von heute.
Wenn man das nicht kapiert, kapiert man nichts.
[…] Er [der islamische Fundamentalismus] hat die Stelle des Marxismus-Leninismus angenommen. Wer früher für eine andere, bessere Welt kämpfen wollte, gegen den westlichen Kapitalismus, verschrieb sich dem Marxismus-Leninismus, der war die Waffe der Zeit. Das ist die beim Krieg: Heute benutzt man ganz andere Waffen als vor hundert Jahren, als es noch keine Repetiergewehre gab und man nach jedem Schuss nachladen musste. Für viele nationalistischen Unabhängigkeitsbewegungen Asiens war der Marxismus-Leninismus eine ideologische Waffe, die eine gewisse Disziplin garantierte, eine Struktur, an die man sich anlehnen konnte.
Und als dieser Waffe überholt war, ist eine neue entstanden.
Wenn du das nicht begreifst, begreifst du nichts, vor allem nicht al-Qaida.
[…] Da entdeckte ich vieles, was ich nicht geahnt hatte. Dir ist das vielleicht nicht so bewusst, weil du zu jung bist, aber wir waren in der Vorstellung aufgewachsen, hier ist Westeuropa, da ist die Mauer und hic sunt Leones, die Sowjetunion. Die Sowjetunion, in der alle gleich sind. Und dann fällt die Mauer und du fragst dich: wo ist denn bitte dieses Sowjetunion?! Hier sind die Mongolen, dort die Uiguren, dort die Kasachen, dort die Muslime, und alle sind untereinander verfeindet… Meine Güte, was kam da nicht alles an den Tag!
[…] Es gibt solche besonderen Momente, die du hinterher klar umreißen kannst. Ich weiß genau, was du in diesen Momenten spürst, im Angesicht dieses Großen, Unermeßlichen, das dich anweht. […] Im Grunde waren es ein paar besondere Begegnungen mit Menschen. Ein paar Mal die Liebe. Und der tibetische Lama, bei dem ich minutenlang mein normales Bewußtsein verloren hatte. Und Mutter Teresa und ihr Hospitz in Kalkutta. Das waren die Momente des Unermeßlichen in meinem Leben, wo ich dieses Etwas gespürt habe, das mich tief berührte, wo ich mich verloren habe und mich doch plötzlich ganz lebendig fühlte.
[S. 139ff.]
[…] Wenn ich daran denke, wie die Dinge in Vietnam und vor allem in Saigon heute liegen – vor ein paar Jahren war ich noch einmal dort –, geht mir manchmal ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf, der übrigens auch für das heutige China gilt: Vielleicht wäre es besser gewesen, die anderen hätten gewonnen! Denn sie verstehen es einfach besser, diese Art von Gesellschaft aufzubauen. Wenn es darum geht, mit kommunistischem Autoritarismus den Kapitalismus durchzusetzen, dann ist es sinnvoller, wenn man lässt gleich die Kapitalisten ran.
Der Traum von einer gerechteren, menschlicheren Gesellschaft, wie sie die Revolution, an die ich glaubte, hätte hervorbringen sollen, hat sich nicht erfüllt. Dann hätten doch besser gleich die anderen gewonnen, oder?
[…] Damals habe ich begriffen, was sich jetzt auch im Irak wieder zeigt: Kriege zu gewinnen, ist relativ einfach; Frieden zu schaffen, der das Land wieder aufblühen lässt, ist viel schwerer. Und dabei hätte ein bisschen mehr Großmut genügt. Man hätte die Leute überzeugen können. Überlässt man die Gesellschaft den Geheimdiensten, lässt man zu, dass überall Spitzel hocken und jemand, der »verdammte Kommunisten!« sagt, in der Nacht darauf verschwindet, dann funktioniert nichts mehr, dann hat man schon verloren.
[S. 146f.]
[…] Es war ein Jahrhundert schreckliche Enttäuschungen. Auch deshalb herrscht heute diese völlig Orientierungslosigkeit. Es gibt nichts mehr woran man sich festhalten konnte.
[S. 156]
[…] Stundenlang haben wir uns von unseren chinesischen Freunden ihre Erlebnisse aus dem Jahre erzählen lassen, in denen China vom Rest der Welt abgeschottet gewesen war. Wir wollten verstehen wie es zu Kulturrevolution gekommen war, wie es möglich war, dass ein Volk mit einer so großen Tradition und Kultur sich in dieser perversen Spirale von Gewalt, die Millionen von Opfern gefordert hatte, dermaßen erniedrigt hatte.
Was unsere Freunde uns erzählten, hatte mit Maos Rotem Buch oder der propagandistischen Literatur des neuen Chinas absolut nichts gemein. Schon bald erkannte ich, dass mein Traum, der Traum eines jungen Studenten, der sich an der Columbia University mit China beschäftigt hatte, für die Chinesen einen Albtraum gewesen war.
Das war meine erste große Enttäuschung.
[…] Weißt du, der revolutionäre Aufbruch reißt die Menschen mit, weil es da etwas Neues gibt, für das er sich begeistern und einsetzen kann. Mit der Revolution ist es wie mit einem Kind: am Anfang ist es klein und hübsch, doch Jahre später wird es womöglich zu einem hässlichen, gemeinen Kerl. Jede Revolution hat in ihrer Geburtsstunde etwas Faszinierendes, denn sie verspricht etwas Neues.
[…] Tatsächlich ist China nicht mehr China, seit Mao, diese Kriminelle, die Wurzeln jener alten Kultur ausgerissen hat. Statt einen chinesischen Kommunismus zu entwickeln, hat er versucht, alles, was chinesisch war, zu vernichten und eine vollkommen neue Gesellschaft aufzubauen. Der reinste Horror! Damit hat Mao China zerstört, denn welche Weltanschauung dort heute herrscht, siehst du ja.
Was uns bei unserer Ankunft interessiert hatte, war also vor allem die maoistische Politik gewesen, doch schon sehr bald änderte sich das. Maos China interessierte mich nicht mehr.
[…] Als Lösung für die Probleme der Menschheit war diese Formel endgültig gescheitert.
In China begann meine große Krise. Ich begriff, daß ich in eine Falle geraten war. In Vietnam hatte ich das schon geahnt, doch das war mitten in der Revolution gewesen, weißt du in diesem riesigen Durcheinander…
Es war der Anfang vom Ende. Seitdem hab ich keinen wirklich politischen Artikel mitgeschrieben. Die Politik interessiert mich nicht mehr. Ich hatte begriffen, dass Politik keine Lösung sein kann.
[…] Vor allem hat mich die Politik selbst enttäuscht. Als Instrument zur Veränderung taugt sie einfach nichts. Der Versuch, auf die »Materie«, also auf die Gesellschaft eines Landes einzuwirken, bringt die Menschen keinen einzigen Schritt voran. Im Gegenteil, er wirft sie zurück in Elend und Zerstörung, Schmerz und Tod.
Da hieß es nun nachdenken. War ich vom Maoismus enttäuscht, oder muss ich nicht viel mehr zur Kenntnis nehmen, dass es unmöglich war, einen neuen Menschen zu schaffen? Dass diese Idee selbst eigentlich ein Frevel ist?
Die Wahrheit ist, dass man gegen die menschliche Natur herzlich wenig tun kann. Der Mensch ist Individualist, Egoist. Er ist nicht bereit, eine Begrenzung seiner Rechte zu akzeptieren, er will tun, was ihm passt, das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Und wenn du allen die gleiche eiserne Reisschale und die gleiche Jacke gibst und selbst wenn viele an dein Projekt glauben und mitmachen – immer wird es welche geben, die zwei Jacken und zwei Reisschalen haben wollen und zudem die Freiheit beanspruchen zu tun, was ihnen gefällt. Doch das passt in den Kommunismus nicht hinein, und dieser Widerspruch und führt zu Gewalt, denn die Anhänger des Systems unterdrücken die, die es unterlaufen, und so endet das ganze Projekt schließlich im Blut. Das ist der Grund für die Massaker Pol Pots, für die sowjetischen Gulags und chinesischen Arbeitslager.
[…] Der Wunsch aller Revolutionäre, einen neuen Menschen zu schaffen, ist an sich frevelhaft. Lenin, Stalin, Trotzki, Mao – alle haben diesen Traum gehabt. Aber der Mensch ist, wer ist, ist das Ergebnis einer Evolution, und genau wie das Wasser in einem Fluss kannst du auch die Evolution nicht aufhalten.
[…] Als Deng sagte: »Reichtum ist Ruhm«, musstest du doch denken: Was? 50 Jahre Geschichte und Tote für nichts und wieder nichts? Reichtum soll ruhmvoll sein? 50 Jahre lang habt ihr dem chinesischen Volk eingehämmert, es soll mit einer Schale Reis auskommen und ein paar Hosen und einem Paar Schuhe, habt ihm, statt Überstunden zu bezahlen, moralischen Ansporn und rote Schärpen gegeben, und dann kommt plötzlich einer und sagt: »Alle müssen sich bereichern«?!
Siehst du, was ich ihm geworden ist? Banditen!
Sie versuchen, China zu einem zweiten Taiwan zu machen, zu einer scheußlichen Imitation von Hongkong, wo sich alles nur ums Geld dreht, wie überall sonst. Und wo ist die neue, alternative Gesellschaft geblieben? Sollen Sie sich doch zum Teufel scheren!
Hier steckt das Dilemma deines Vaters, das, was ihn schließlich in den Himalaya getrieben hat. Überleg mal, was die große kommunistische Revolution in China seit 1921 gekostet hat, der Krieg gegen die japanische Besatzung, der Krieg gegen die von den Amerikanern unterstützten Nationalisten. Überleg mal, wie vielleicht das bedeutet hat, wie viele Tote! Millionen!
Und wozu das alles?
Wozu all diese Revolutionen? Dieser unglaublichen Opfer, die viele aus ehrlicher Überzeugung gebracht haben? Hätte die Gegenseite gewonnen, hätte China viel weniger Leid erlebt – und wäre trotzdem so geworden wie heute, nur vielleicht etwas eher.
Dasselbe gilt für Vietnam, wenn statt der Kommunisten Thieu gewonnen hätte. Sieh dir doch an, wie das Leben unter den vietnamesischen Kommunisten heute aussieht! Saigon ist eine Stadt mit allen negativen Aspekten des Westens: den Bordellen, dem Egoismus, dem Unterschied zwischen Arm und Reich, der Ausbeutung. Und dafür haben wir die Revolution gemacht? Dafür sind all diese Menschen gestorben, die sich den Gürtel zweimal um die Taille schlangen, weil sie nicht mehr zu essen hatten als eine Handvoll Reis pro Tag? Und wenn die bolschewistischen Revolution gescheitert wäre, durch ein Eingreifen Europas oder weil die Truppen des Zaren den Revolutionären standgehalten hätten, dann hätte sich Rußland sich unter dem Einfluss Europas langsam modernisiert hat, nicht? Dann hätte die Gegenseite gewonnen, und wahrscheinlich ginge es dem Land heute besser.
Von mir aus kannst du auch noch den Che dazuzählen, mit seinem Widerstand gegen Castro… All diese Revolutionen haben Unmengen von Menschenleben gefordert, haben Unmengen von Leid und Folter mit sich gebracht. Und was ist das Ergebnis? Es ist überall dasselbe.
[…] Denk doch an die bolschewistischen Revolution, diese radikale Umwälzung der Gesellschaft, in deren Verlauf alle, die oben gestanden hatten, hingerichtet und ganze Familien ausgerottet wurden – vielleicht auch zu Recht, wenn man sich überlegt, wie sie sich aufgeführt hatten –, während die Proletarier die Macht übernahmen. Eigentlich schön, oder? Wer bisher nichts wert gewesen war, durfte auf einmal kommandieren. Und was haben Sie aus dieser Situation gemacht? Das Schlimmste, was man sich vorstellen kann! Ihr Verhalten der alten Herrschaft gegenüber war feige, grausam, ja geradezu bestialisch.
[…] Deshalb bin ich zur einzigen Revolution übergegangen, die etwas bringt, nämlich die, die in einem selbst stattfindet. Wozu die anderen führen, siehst du ja. Alles wiederholt sich, immer wieder, denn Ausschlag gebend ist letztendlich die menschliche Natur. Und wenn der Mensch sich nicht ändert, wenn der Mensch keinen Qualitätssprung schafft, wenn er nicht auf Gewalt verzichtet, auf die Herrschaft über die Materie, auf den Profit, auf seinen Eigennutz, dann wiederholt sich alles bis in alle Ewigkeit.
[…] Meine Reaktion, die sich in China allmählich herauskristallisiert, war folgende: Statt den neuen Menschen zu suchen, wurde mir klar, dass es in China auch einen alten Menschen gab, einen wunderbaren Menschen mit einer großartigen Kultur von überwältigender Tiefe und Reichtum.
Und so begann ich, diesem alten nachzuspüren, dem Wunder des alten China und dem, was davon übrig war.
[S. 202ff.]
[…] Meine größte Leistung und mein längster Artikel über China war eine Recherche über die Zerstörung Pekings durch die Kommunisten. Sie erschien im SPIEGEL in drei Folgen zu je zehn, zwölf Seiten.
Hier die Links: Jeder Parteisekretär ist ein Kaiser
1. Artikel
2. Artikel
3. Artikel (nicht gefunden, vielleicht gibt’s ja nur zwei)
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[S. 221]
[…] Die Modernität war dabei, alles zu zerstören. Auch in Florenz, meiner Heimatstadt, wird nichts Neues geschaffen, was schön wäre. Aber zumindest hat die Stadt es verstanden, die Schönheit der alten Zeit zu erhalten. Sollte jemand eines Tages ein Maß für Schönheit und Harmonie suchen, kann er sich darauf beziehen. Als wir in Japan waren, sahen wir die Bulldozer jeden Tag ganze Straßenzüge niederwalzen. Das alte Tokio mit den kleinen Häusern, die ihm Leben verliehen hatten, wurde gnadenlos abgerissen, um Bürotürme zu bauen, und die Bewohner wurden in trostlose Vorstädte vertrieben. Überleg mal, was das heißt, in einer Stadt aufzuwachsen, in der es keine Anhaltspunkte mehr gibt!
[…] Weißt du, wenn die Gegenwart mich nicht interessiert, suche ich meine Zuflucht in der Geschichte. Eine der Gründe meines Interesses für Asien war es ja herauszufinden, ob es dort gesellschaftliche und wirtschaftliche Alternativen zu westlichen Modell gab. Denn nur in der Vielfalt ist die Welt lebendig und sind die Menschen frei, davon bin ich fest überzeugt; eine Verflachung auf vorgefertigte Modelle hingegen treibt bestimmte Situation auf die Spitze und merzt viele schönen Alternativen aus.
Es ist immer dasselbe Lied. Stets ist es der Westen, der bei den anderen anklopft, natürlich unter dem Vorwand, ihnen seine hehren Prinzipien zu bringen: heute die Demokratie und die Freiheit, im 19. Jahrhundert die freie Marktwirtschaft, früher das Christentum. Im Jahre 1853 erschienen die Amerikaner mit vier Kanonenbooten, den berüchtigten »schwarzen Schiffen« von Admiral Matthew Perry vor der japanischen Küste, um die Japaner zur Öffnung ihrer Grenzen zu zwingen und ihnen dann ihre Waren zu verkaufen – ein altes Schema, schließlich waren auch die Portugiesen aus demselben Grund nach Macao gekommen: Sie wollten China ihre Glitzerspiegel verkaufen und sich dafür die Gewürze und alles andere unter den Nagel reißen. Perrys Kriegsschiffe öffneten also Japans Märkte unter dem Vorwand, der freie Markt würde allen nützen. Und dasselbe geschah ich China…
[…] Japan war bis ins Mark getroffen von seiner Ohnmacht gegenüber den amerikanischen Kriegsschiffen. Es hatte sich für eine große Kultur mit einer großen Tradition gehalten: die Samurai mit ihren Schwertern, ihre Ehre und so weiter. Doch gegen die anderen mit ihren Kanonenkugeln konnten Sie damit wenig ausrichten. Also hatten Sie einen schlauen Einfall: da ihre Traditionen nicht dazu taugten, dem Westen standzuhalten beschlossen sie, auf den Westen zu zugehen und durch Verwestlichung zu überleben.
Für uns ist es heute unfassbar, aber wenn man die alten Texte liest, ist es faszinierend: unter Kaiser Meiji verfolgte das Land binnen weniger Jahren mit einer Hartnäckigkeit, zu der nur die Japaner fähig sind, das Projekt, aus Japan ein westliches Land zu machen. Es hieß, Eisenbahnen zu bauen, also kopierten sie die Bahnhöfe. Sie kopierten sie einfach: der Bahnhof von Tokio war eine detailgetreue Kopie des Bahnhofs von Amsterdam! Sie kopierten die Uniformen des preußischen Heeres. Sie ließen hunderte von Ausländern, die yatoi, ins Land kommen, um von ihnen zu lernen, wie man die Dinge auf westliche Art anpackt. Die gutbürgerlichen Familien der Meiji-Dynastie kleideten sich westlich und lernte Walzer tanzen. Die westlichen Zivil- und Strafgesetzbücher wurden kopiert, ein Heer nach westlichen Vorbild geschaffen und die Kriegsschiffe der Engländer nachgebaut. Mit durchschlagendem Erfolg: schon nach wenigen Jahrzehnten, also Anfang des 20. Jahrhunderts, forderte dieses modernisierte Japan die großen asiatischen Mächte heraus und besiegtes sie: erst das chinesische Kaiserreich der Mandschu, und dann in zwei oder drei Seeschlachten das russische Zarenreich, das damals in Asien die dominierende westliche Macht war.
So wurde Japan zu einer großen wirtschaftlichen militärischen Potenz. Interessant, oder? Es rüstete auf, und unter dem Vorwand, die anderen Länder vom Joch der weißen Kolonialherren zu befreien, betrieb es eine Politik der eigenen Vorherrschaft. Daraus folgte der zweite Weltkrieg, und immer so weiter.
Für mich jedoch, den die Frage interessierte, ob die alten Kulturen eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Alternative für unsere westliche Welt darstellen konnten, war Japan genau das Gegenteil von dem, was ich suchte, denn es war die getreuste und erfolgreichste Kopie des westlichen Systems. Eine Kopie, die sich nach dem zweiten Weltkrieg sogar noch selbst übertraf, als das Land nach der Niederlage anfing, seine Fabriken nach dem Modell des amerikanischen Taylorismus – in zugespitzter Form – wieder aufzubauen.
[…] Inzwischen ist das westliche Modell allseits anerkannt. Es ist nach China, Südostasien, Singapur, ganz Indochina vorgedrungen, nur Laos hat in gewisser Weise überlebt. In Fliegen ohne Flügel komme ich auf dieses Thema immer wieder zurück: auf Asiens sorglosen Selbstmord zugunsten eines westlichen Modells von Fortschritt, dem zuliebe diese Länder auf einen eigenen Weg verzichtet haben.
[…] Weil sie das westlichem Modell mit dem Fortschritt an sich identifizieren. Es ist uns gelungen, Ihnen das Christentum zu verkaufen, den Kolonialismus und zum Schluss auch die Idee, das es die Moderne nur in unserer Form gibt. Über Massenmedien wie das Fernsehen hat sich diese Idee über ganz Asien verbreitet.
[S. 235ff.]
[…] Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass ich mich schon bald nicht nur zu Mama hingezogen fühlte, sondern auch zu ihrer ganzen Welt. […] diese Familie strahlte etwas aus, was mich in ihren Bann schlug und was ich mein Leben lang bewundert habe: die Würde der Armut. Diese Leute besaßen Würde, weil sie wussten, wer sie waren.
[…] Alles war verschlissen und abgenutzt; den ganzen Spießerkram der Wohnungen, in denen alles spiegeln und glänzen muss, gab es nicht. Mamas Familie war genau so, wie ich mir zu sein wünschte. Sie hatten kein Geld, und es war innen auch egal, aber sie waren stolz auf etwas, was man mit Geld nicht kaufen kann: ihre Kultur.
[…] Auch mit deiner Großmutter Renate verstand ich mich wunderbar. Ich mochte ihre Zähigkeit. Sie war unerschütterlich, geradlinig, stark, unnachgiebig. Eine andere Generation. Stell dir vor, bei einem Spaziergang rutschte sie einmal aus und alle sagten: »Du musst das sofort desinfizieren, Renate!« Aber sie meinte nur: »Ist nicht so schlimm. Als wir nachhause kamen, stellten wir fest, dass sie sich das ganze Bein aufgerissen hatte, ohne einen Ton zu sagen. Wo findet man so etwas heute noch?
[…] Sie hatten etwas, was ich suchte. Schon lange. Was ich an deiner Mutter liebte, hatte auch etwas mit ihrer ganzen Umgebung zu tun. Sie war in etwas eingebettet, was heute noch in ihrem Charakter sichtbar wird, nicht? Dieses Durchhaltevermögen, dieser Fleiß…
[S. 276ff.]
[…] Einen echten Freund, einen Vertrauten, der mir eine wirkliche Zufluchtsstätte sein können, habe ich im Grunde nie gehabt. Ich hatte gute Weggefährten. Doch nun hat sich die Lage geändert, und auf dieser letzten Reise bin ich allein. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich dieses Bedürfnis nach einem wahren Freund nie gehabt. Gewiss, meine Männerfreundschaften waren etwas Schönes, aber in Wirklichkeit kam ich auch ohne aus.
[…] Sie war alles für mich. Sie war die Gewissheit, um die alles kreiste, die Gewissheit, frei und gleichzeitig geborgen zu sein. Sie war das, was der große bengalische Dichter, den ich so gerne zitiere, mit einem außerordentlich treffenden Bild beschrieben hat: der Pflock, an dem der Elefant sich mit einem seidenen Faden binden lässt. Mit einer winzigen Bewegung könnte ihn zerreißen und weglaufen, doch er tut es nicht. Er hat sich dafür entschieden, mit dem seidenen Faden an dem Pflock gebunden zu sein. Und auch ich habe mich mit 18 Jahren als blutjunger Mann dazu entschieden. Und diese Wahl war der ganz große Fixpunkt meines Lebens.
Nie sind mit Zweifel daran gekommen, denk nur, nie! Klar, wenn du einen knackigen Hintern vorbeikommen siehst, schaust du hinterher und verschwendest einen Haufen Zeit mit diesem ganzen Quatsch. Meine Güte, was ist die Lust für eine Bürde! Wie viel Zeit ich damit verschwendet habe, dieses wilde Tier im Zaum zu halten! Und die Schuldgefühle! Bis ich irgendwann gesagt habe: Schluss, aus! Aber sie war des Pariser Urmeter. Und wenn du von so etwas ausgehen kannst, weißt du … Das ist ein unermesslicher Schatz!
[…] Es war herrlich – nie haben wir in Eile gelebt. Klar, es gab auch Tage, an denen ich mein Artikel zu Ende bringen musste, aber für unseren Tagesplan haben uns immer Zeit genommen. Zeit für die Zeit.
[S. 280ff.]
[…] Nein, die Mächtigen interessieren mich nicht. Wer mich interessierte, waren die Jesuiten. […] Wo auch immer ich hinging, habe ich sie aufgesucht, um das Land zu begreifen, denn die Jesuiten kennen die Seele der Kultur in der sie leben. Sie scheuen keine Mühe, graben und forschen, arbeiten sich tief in das Land ein und lernen die Sprache wie kein anderer. Sie sind Persönlichkeiten, große Intellektuelle.
[…] Als Journalist hab ich jede Menge Schwätzer kennengelernt. Leute, die ihre Rolle spielten und mir, gerade weil ich Journalist war, fertig verpackte Nachrichten unterjubelten und mir jede Menge Unfug erzählten. […] Eine richtig große Persönlichkeit hab ich nie getroffen, nie.
[…] Na ja, wenn ich wirklich ehrlich bin, muss ich sagen, dass mich Mutter Theresa sehr beeindruckt hat und sicherlich auch der Dalai Lama. Und dann gab es eine Reihe von Unbekannten, wie jener mongolische Mönch, der auf meine Frage, ob er Angst vor dem Tode hätte, ausrief: »Angst? Ich kann kaum erwarten! Dieses Leben ödet mich an. Mich interessiert viel mehr, was im nächsten geschieht!« Ein paar solcher Leute habe ich schon getroffen, besondere Menschen, Einzelgänger.
[…] Ich bin unzähligen Menschen begegnet, doch dann, ganz allmählich, hab ich mich davongemacht. Und auf dem Weg hab ich gemerkt, welche von meinen Vorbildern echt und welche falsch gewesen sind. Am Ende, ganz oben im Himalaya, hat mir dann ein Alter wie durch Zauberhand geholfen, für einen Augenblick zu schauen, was ich nie gesehen hatte. Und hast du das einmal geschaut, kannst du nicht mehr leben wie zuvor.
[S. 286ff.]
Eine Idee, diese Stadt – der Wind, Sonne, Himmel, alles von einer Klarheit, wie es sie sonst nirgends gibt, denn Umweltverschmutzung ist dort ein Fremdwort. Und doch – auf der Straße fiel mir auf, dass viele der Kinder an einem Trachom litten, einer Augenentzündung, die blind machen kann. Da stellst du dir dann folgende Frage: Ist es besser, sie behalten ihr Trachom und bleiben im »Tal aller Wünsche«? Oder soll man das Trachom behandeln und dafür die Folgen in Kauf nehmen, die das notwendigerweise nach sich ziehen würde? Du hast die nötige Medikamente nicht dabei, könntest aber problemlos ein paar Ärzte dorthin schicken, um die Kinder zu behandeln. Und das könnte leicht der erste Schritt in die Modernisierung sein, die binnen weniger Jahre das Trachom besiegen, der Stadt aber garantiert auch ihren ersten Industriellen aus Hongkong bescheren würde. Dieser würde gleich vier oder fünf Nähmaschinen in einem der Häuser aufstellen und die fröhlichen Frauen, die jetzt auf den Feldern arbeiten oder am Fluß Wäsche waschen, verdingen, acht Stunden am Tag für ihn Turnschuhe und T-Shirts zu nähen.
[…] jemand, der so weißt wie ich, kann nicht umhin, sich diesem Problem zu stellen, denn schon bald, ja eigentlich sofort wird dir klar, dass auch du den Prozess der Modernisierung mit anschieben hilfst. […] Sie bestaunen deine Uhr, weil sie noch nie eine gesehen haben, und deine Schuhe, die so anders aussehen als ihre handgenähten aus Filz. Du trägst einen Anorak gegen die Kälte und eine Sonnenbrille gegen das UV-Licht auf der Hochebene. Wenn einer die Hand ausstreckt und etwas davon haben möchte, was machst du dann? Gibst du es ihn oder nicht?
[…] Ich ging also durch die Gassen und bemerkte auf einmal eine Traube Jugendlicher, die sich vor einem dunklen, offenen Eingang drängten. Ich trat hinzu und was sah ich? Einen winzigen, mit einer Autobatterie betriebenen Fernseher. Irgendjemand hatte den fünf-, sechstägigen Ritt über den Jomosom-Pass und den Annapurna auf sich genommen, um den Fernseher und die Batterie aus Nepal mitzubringen. Was machst du so einem Fall? Gehst Du hinein und zertrümmerst den Apparat mit dem Hammer? Natürlich nicht. Und doch weißt du, dass es im nächsten Jahr schon zwei Fernseher sein werden, und dann wird ein noch größerer kommen und dann ein Farbfernseher. Das ist unvermeidlich. Unvermeidlich. Oder nimm Birma. Ich weiß, dass ich mit meinen Gedanken da etwas aus der Reihe tanze, und ich will das mörderische Militärregime dieses Landes auch wirklich nicht verteidigen; trotzdem sehe ich einen gewissen Sinn seiner Barbarei. Denn außer Mustang ist Birma eine der letzten Oasen in Asien, die sich ihren eigenen Charakter bewahrt haben. Die Birmanen rauchen keine Marlboro – der Import von Zigaretten ist verboten – sondern rollen sich ihre cheroot mit dem eigenen Tabak. Und sie tragen auch keine Jeans, sollen ihre longyi.
[…] Und statt Nivea Creme benutzen Sie Sandelholzpaste. In den Straßen Rangoons kannst du abends die Frauen beobachten, wie sie das feine Pulver mit etwas Wasser anrühren und ihren Kindern diese Paste aufs Gesicht streichen, um sie vor den Fliegen zu schützen. Und ihre Haut ist kerngesund! Sie lieben ein langsames, ruhiges Leben. Birma wird von einem schrecklichen Militärregime regiert, dass auch vor schlimmster Folter nicht zurückschlägt und das ich immer verdammt habe. Die Geschichte der Kranken, zur Zwangsarbeit vorenthalten jungen Männer habe ich dir erzählt. Seit zwanzig, dreißig Jahren versucht die internationale Gemeinschaft – die EU, die Vereinten Nationen, die Amerikaner – dort etwas mehr Demokratie zu erwirken. An der Spitze der demokratischen Bewegung steht zudem eine außergewöhnliche Frau, Aung San Suu Kyi, der man mit den üblichen politisch-opportunistischen Manövern sogar den Friedensnobelpreis zugeschanzt hat. Eine unglaublich mutige Frau, Tochter eines Helden aus dem birmanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Japan, eine Lichtgestalt mit einem ermordeten Vater, wie so oft. Und nun muss man sich entscheiden: will man die mörderischen Militärs unterstützen oder diese Elfe, die seit Jahren unter Hausarrest steht? So sieht es auf den ersten Blick aus. Doch was steckt dahinter? Die großen Erdölfirmen können die Öffnung Birmas kaum abwarten, denn durch das Land fließen große Mengen an Rohstoffen. Und die japanischen Milliarden für die Entwicklung des Tourismus – Fünf-Sterne-Hotels, Straßen, Schiffe, die über den Inle-See düsen, ein größerer Flughafen – liegen auch schon bereit. Sollte das aktuelle Regime eines Tages durch westlichen Druck gestürzt werden, was vorauszusehen ist, und sollte Aung San Suu Kyi an die Macht kommen, wird Birma werden wie Thailand: Nutten, Bordelle, Profit, Marlboro, Coca-Cola, Blue Jeans. Die Frage, die man sich stellt, wenn man so alt ist wie ich und keiner Ideologie anhängt, ist nun folgende: Wo liegt die Lösung? Was wünschst du dir? Dass die Militärs die Gewalt über das Land behalten? Nein, wie könntest du! Dass Aung San Suu Kyi sich durchsetzt, dann ist Birma binnen weniger Monate am Ende, dann kommen der Beton und die Wolkenkratzer…
[…] auf der Seite der Militärs zu stehen, ist unmöglich. Aber irgendwie müsste man die Leute vor den Gefahren warnen, die mit der Liberalisierung Birmas einhergehen werden. Also frage ich mich: ist es möglich, beides unter einen Hut zu kriegen? Und die Schönheit der Welt, die ja in ihrer Vielfalt besteht, zu bewahren?
[…] Die Chinesen schreiben anders, essen anders, schlafen anders als wir. Ist es dann nicht merkwürdig, dass auch sie auf einmal alle Krawatten tragen? Die Chinesen, die entdeckt haben, dass man sich nichts um den Bauch binden soll, was den Energiefluss das Chi unterbinden könnte, tragen plötzlich Gürtel von Pierre Cardin! […] Was mir dabei solche Kopfschmerzen bereitet, ist das Ende der biologischen Vielfalt! Dass es keine Bauernäpfel mehr gibt. Dass wir alle die gleichen Äpfel essen, gleich groß, gleich rund, gleich glänzend, und damit die Vielfalt beseitigen, die doch die Grundlage unseres Lebens ist! Denn ich bin fest davon überzeugt dass der Reichtum der Menschheit in der Verschiedenheit liegt. Warum müssen die Tuareg unbedingt Unterhosen tragen? Lasst sie doch Tuareg bleiben!
[…] Was ist besser, dass dem Kind bei Sonnenuntergang Sandelholzpaste aufs Gesicht gestrichen wird oder Niveacreme?
[…] Wo ist also der Mittelweg? Wenn man etwas gegen das Trachom tun will, ist es dann wirklich unumgänglich, einen wunderschönen Ort wie Mustang in einen Haufen Baracken zu verwandeln, in denen die Frauen, die ihr Feuer heute noch mit dem gesammelten Kuhmist anzünden, von morgens bis abends an ihren Nähmaschinen sitzen und – tatatatata – Turnschuhe fertigen müssen, um sich einen Fernseher zu kaufen, mit dem sie dann Big Brother sehen können?
[S. 294ff.]
s
Linksammlung zu den von und über Tiziano Terzani beim SPIEGEL erschienenen Artikeln, unter anderem auch zu einem Photoband (mit 22 Bildern und einem Interview mit seinem Sohn Falco; die in den Text eingefügten Bilder stammen nicht aus Tizianos Buch sondern aus dem SPIEGEL-Artikel zum Photoband.)
Tiziano Terzani bei Wikipedia
Zum gleichnamigen Film bei Wikipedia
Guru mit Stil, ein Nachruf auf culturmag.de
Die wundersame Wandlung des Tiziano Terzani, ein Nachruf von Jörg Andrees Elten in der Osho-Times
Reisen noch einmal, eine Rezension über sein letztes Buch »Noch eine Runde auf dem Karussell«, bei ZEIT-Online
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einige Zitate von Tiziano Terzani auf aquarioasis.com
Guru mit Stil, ein Nachruf auf culturmag.de
Die wundersame Wandlung des Tiziano Terzani, ein Nachruf von Jörg Andrees Elten in der Osho-Times
Reisen noch einmal, eine Rezension über sein letztes Buch »Noch eine Runde auf dem Karussell«, bei ZEIT-Online
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Im Alter von 59 Jahren erkrankt Tiziano Terzani an Krebs. Sein Weg durch den Dschungel von westlichen und fernöstlichen Heilmethoden führt ihn schließlich in eine einfache Hütte im Himalaya – zu sich selbst. Westliche High-Tech-Medizin oder fernöstliche Naturheilverfahren? Angesichts einer fortgeschrittenen Krebserkrankung eine Frage auf Leben und Tod. Der Spiegel-Korrespondent und Asien-Experte Tiziano Terzani erzählt von seiner letzten großen Reise auf der Suche nach Heilung. Ihn interessiert das große Ganze: die Frage, was ihn krank gemacht hat, der Zusammenhang zwischen Körper und Geist. Neben der klassischen westlichen Medizin sucht er Hilfe in der mannigfaltigen Welt der alternativen Heilmethoden und der Spiritualität. Als er den Tod näher rücken fühlt, zieht er sich in eine Hütte im Himalaya zurück – und beginnt, dieses Buch zu schreiben.
einige Zitate von Tiziano Terzani auf aquarioasis.com