Montag, 30. April 2007

Bertelsmann macht Staat

Ein deutscher Konzern managt eine britische Grafschaft


Oft kritisieren Konzerne den Staat. Doch am liebsten würden sie den Staat gerne selbst organisieren - und der Medienkonzern Bertelsmann ist auf dem besten Wege dazu. Die Arvato AG, eine hundertprozentige Tochter des Bertelsmann-Konzerns, unterhält bereits einen acht Jahre laufenden Service-Vertrag mit der nordenglischen Grafschaft East Riding. Wie die Bertelsmann-Tochter auf ihrer Internet-Seite stolz verkündet, ist sie somit Herrin über ein Gebiet von 240.000 Hektar mit 324.000 Einwohnern, 3.000 Kilometern Straße, 159 Schulen und 7 Millionen Mülltonnen. »Nicht nur eine Vielzahl umfangreicher kommunaler Dienstleistungen wie die Auszahlung der Sozialhilfe oder die Betreuung des Bürgerbüros wird in East Riding von Arvato-Mitarbeitern erledigt – auch das, was bisher als Herzstück hoheitlicher Verwaltung galt: der Einzug von Steuern und die Auszahlung von Beihilfen an Bürger«, jubilieren die Staatsdienstleister. DerVertrag bringt dem Unternehmen pro Jahr rund 25 Millionen Euro ein. Etwa 500 Angestellte der Grafschaft sind für das Projekt zu Arvato gewechselt. Die ehemals öffentlich Bediensteten direkt zu beschäftigen erlaubt es dem Unternehmen, die bisher behördlichen Arbeitsabläufe zu verändern streng nach den Kriterien betriebswirtschaftlicher Effizienz, für die Bertelsmann steht.

Arvato will mit diesem Präzedenzfall in Sachen Staatsdienstleistungen Marktführer auf der Insel werden, wo Konzerne schon seit den 1980er Jahren Kommunen »managen« können. Aber damit nicht genug. »Unser Interesse endet nicht an den Küsten der Britischen Inseln«, sagt Arvato-Mann Rainer Majcen, »wir würden gerne einen ähnlichen Ansatz in Deutschland realisieren.«

Bei der Geschäftsanbahnung leistet die Bertelsmann- Stiftung hilfreiche – und natürlich ganz gemeinnützige – Dienste. Durch das Veröffentlichen von Studien und das Veranstalten von prominent besetzten Kongressen zum Thema sowie durch die Gründung von wissenschaftlichen Zentren für die Verwaltung von Städten demonstriert sie die kommunale Kompetenz der Bertelsmänner. So führt der Arvato-Chef Hartmut Ostrowski dann auch schon erfolgversprechende Gespräche mit interessierten bundesdeutschen Gemeinden. Bislang zieren sich jedoch noch viele Städte. Sie haben Angst, für ihre eigenen Dienstleistungen umsatzsteuerpflichtig zu werden, wenn es auch private Anbieter auf dem Staatsmarkt gibt. Ostrowski gibt sich dennoch zuversichtlich. Seit den letztjährigen großen Streiks im öffentlichen Dienst rechnet er mit einer größeren Aufgeschlossenheit der Stadtväter für die Pläne der Bertelsmänner.

aus Publik-Forum
siehe auch:
- Privatisierung der Kommunalen Verwaltung (BertelsmannKritik, Januar 2009)
- Arvato setzt auf Privatisierung staatlicher Dienstleistungen (Thomas Barth, Telepolis, 01.09.2008)
- Das Rathaus wird zum Profitcenter (Tarik Ahmia, 03.01.2007)




Was Gutes …




aus der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (Danke, Frau G)


und da ich schon mal bei der Selbstkritik bin:


Danke, Frau B

Wer ist hier verrückt?

„… Herr X hat sich zu fügen.“

Herr X. hat die meiste Zeit seines Lebens in Heimen, Psychiatrien, Gefängnissen zugebracht. Zu mir kam er 2001, schwer behindert und herzkrank. Psychotherapie war Bewährungsauflage. Wir kamen gut miteinander zurecht. Seine aggressiven Durchbrüche und Selbstverletzungen nahmen ab. Behördengänge machte er allein, im Wohnheim gab es ohnehin lange keinen Sozialdienst Natürlich kam es auch zu Rückfällen: Im Sommer rief mich em Mitbewohner an, Herr X drohe, sich umzubringen. Ich hörte ihn lautstark randalieren. Als er kurze Zeit später aus der Psychiatrie zurückkam, wollte man ihm verbieten, zu seinem langjährigen Hausarzt Dr. W. zu gehen. Zuständig sei der Heimarzt Dr. A. Ich schrieb an Schwester L., der Patient habe das Recht auf freie Arztwahl. Keine Antwort. Der Patient klagte, er würde „fertig gemacht“. Wenige Tage später nahm er Tabletten. Erneute Einweisung.

Die Psychiatrie in Offenburg gab ihm Wochenendurlaub. Als er vereinbarungsgemäß wieder zurück wollte, wurde ihm das von Dr. A. verboten. In der Klinik wußte man nicht, daß Dr. A. nicht der behandelnde Arzt war. Im Heim wurden die Suizidversuche als „Spielchen“ abgetan. Der Bewährungshelfer habe Hausarrest bis zum Ende der Bewährung angeordnet. Das war gelogen. Der eingesperrte Patient verweigerte eine Behandlung durch Dr. A.. „Dr. A. ist der Heimarzt. Herr X. hat sich den Anweisungen zu fügen“, sagte mir Sr. A.

Am 7.10.2005 schrieb mir Dr. A. und „ordnete an“ „ … die psychotherapeutischen Bemühungen bei Herrn X werden mit sofortiger Wirkung wegen immer schon fehlender Indikation … eingestellt.“ Dem war ein „aktueller ärztlicher Befundbericht“ an das Gericht mit dem Antrag auf Beendigung der Psychotherapie beigefügt. Das Schreiben datierte vom 31.8. (!): „Bei Herrn X liegt … eine Verhaltensabnormität vor, die auf Zerstörung und Schädigung … angelegt ist … Die intellektuelle Ansprechbarkeit ist auf dem Niveau eines nicht schulreifen Kindes … Bei solchen Voraussetzungen [sind] keine Pharmako- und erst recht keine Psychotherapie möglich … In Zeiten eines zunehmenden Heeres von Psychologen, Psychotherapieanbietern, Heilpraktikern und Esoterikern mit … narzißtischer Selbstüberschätzung [ist] eine medizinisch-psychiatrische Diagnose … eher ein Störfaktor … Die beauftragte Psychotherapeutin hat …, von keinerlei Sachkenntnis getrübt, Psychotherapie betrieben, obwohl es nichts zu therapieren gab. Sogar mit tiefenpsychologischen … Methoden wurde versucht, in dem nicht vorhandenen Unterbewußtsein des verständnislosen Herrn X Ordnung zu schaffen …“

Eine Kopie des Schreibens hatte der Heimarzt an die Ärztekammer geschickt, bestätigte deren Präsident und schrieb mir, es käme immer wieder zu unterschiedlichen Auffassungen über Indikationen. Dafür sei die Ärztekammer nicht zuständig, ebenso wenig für den „Ehrenschutz“. In der Berufsordnung lese ich anderes.

Der Druck auf den Patienten wurde unerträglich. Eine Woche lang war das Telefon gesperrt. Lediglich Sr. L. und Dr. A. konnten angerufen werden. Von der Klinik verordnete Medikamente wurden vorenthalten. Ich hämmerte dem Patienten ein: Maul halten. Er schaffte es und bot keine Angriffsfläche. Aber dann kam er völlig verzweifelt: Er müsse noch am selben Abend seine Zustimmung geben, vom Heimarzt behandelt zu werden. Ich rief den Hausarzt Dr. W. an: Ja, der Patient solle gleich kommen. „Er hat mir so leid getan, der zittert ja nur noch“, meinte er danach und wies ihn ins Krankenhaus ein. Der Dienst habende Arzt konnte es nicht fassen: „Das gibt es doch nicht!“

Richter Royen meinte, die Angelegenheit dürfe nicht auf dem Rücken des Patienten ausgetragen werden. Ich vertraute ihm. Das war falsch. Am 8.11. rief ich ihn an. Er werde die gerichtliche Weisung auf Psychotherapie aufheben. Dem Patienten sei unbenommen, als normaler Krankenversicherter eine Therapie zu machen und habe auch freie Arztwahl. „Aber wie soll er sein Recht durchsetzen?“ – „Das beweist, daß er einen Betreuer braucht“, war die Logik des Richters. Der gestellte Antrag auf Anhörung würde den Patienten überfordern. Er kennt den Patienten nicht. Sein Wille: es solle Ruhe einkehren. Ich erwiderte: „Es gibt auch die Friedhofsruhe.“ – „Ein Richter ist dazu da…“ Ich unterbrach: „Recht zu sprechen.“ – „Dazu bedarf ich von Ihnen keiner Belehrung“, war die Antwort.

Sr. L. und Dr. A. sind emotional verwickelt. Sie können – trotz allem – „mildernde Umstände“ beanspruchen. Aber Richter Royen? Weit entfernt von der Dynamik hätte er lediglich seinen Job anständig machen müssen. Ist das zu viel verlangt?

Zurück aus der Klinik wurden dem Patienten erneut Medikamente vorenthalten. Das Verordnungsblatt lag dem Hausarzt vor – aber der Patient durfte nicht hin. Ein Anwalt wurde eingeschaltet und teilte einer konsternierten Sr. L. mit, die Psychotherapie würde im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung fortgesetzt, ebenso habe der Patient freie Arztwahl. Ferner bestreite der Bewährungshelfer, je Hausarrest verordnet zu haben. Das war am 21.11.05.

Am 24.11. rief der Patient aus dem PLK Emmendingen an. Morgens habe Sr. L. gesagt: „Sachen packen“ und ab die Post. Er war wütend und durcheinander. Ich war eher erleichtert – alles schien mir besser als das Pflegeheim.

Es stellte sich heraus: Dr. A. hatte – ohne den Patienten gesehen zu haben – eine Zwangseinweisung veranlaßt. Das Einweisungsformular trägt das Datum des Vortags. Keine Rede von „Gefahr im Verzug“. Dumm auch, daß es den VK Ausdruck aufweist. Wie kam Dr. A. an die Versichertenkarte?

Der Aufnahmearzt in Emmendingen meinte, Dr. A. hätte „Schriftstücke“ mitgeschickt, „die für sich sprechen“. Dieser Arzt würde den Patienten nicht zurück schicken.

Ein Patient wie dieser hat schlechte Karten, wenn ein Herr Doktor und das Pflegepersonal was sagen. Ich selbst habe mich oft gefragt und wurde gefragt: Übertreibt er nicht? Er hat nicht übertrieben. Jetzt bleibt einiges zu tun, damit das Verrückte wieder zurechtgerückt wird. In diesem Einzelfall. Aber ist es ein Einzelfall?

Ursula Neumann in bvvp-magazin 2/2006

Liebe Standesvertreter und liebe Politiker,
Ihr könnt so viele Fortbildungs- und Qualitätsmanagement-Verpflichtungen losschicken, wie ihr wollt: Ein offenes Herz und ein wacher Verstand lassen sich nicht erzwingen.