Satyananda (Jörg Andrees Elten) hat mal wieder einen seiner entlarvenden Blicke auf die Welt losgelassen.
Da der Link nicht mehr funktioniert, habe ich den Text eingescannt und hier eingestellt:
der tod eines freundes
Er starb, wie er gelebt hatte
unbeugsam, würdevoll und kein bißchen weise
von Satyananda
• Der Anruf kam gegen Mitternacht. Oliver war am Apparat. „Papi ist vor einer Stunde gestorben!“, sagte er. Oliver ist der Sohn eines meiner besten Freunde 35 Jahre alt, Jungmanager, BMW Sportwagenfahrer, unverheiratet ein flotter Typ. Aber .jetzt hatte er Mühe zu sprechen. „Wir sind alle hei ihm gewesen, haben seine Hände gehalten und ihn umarmt als es so weit war.“ „Ein schöner Tod“, dachte ich und ahnte, daß Fred seinen Abgang genau so sorgfähig organisiert hatte, wie seine zahllosen Reportagen, die er für den stern gemacht hatte.
AUF DEN GOLANHÖHEN
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war Fred einer der ganz großen internationalen Pressefotografen gewesen. Wir waren auf vielen Reportagereisen rund um den Globus als Team unterwegs. Haben viele Hunderttausende von Meilen im Flugzeug nebeneinander gesessen und uns unsere intimsten Geheimnisse anvertraut. Haben zusammen Triumphe gefeiert und Niederlagen durchgestanden. Haben Blut, Schweiß und Tränen vergossen und unglaublich viel Spaß miteinander gehabt.
Ich erinnere mich gerade, wie wir während des israelisch-arabischen Krieges 1973 auf den Golanhöhen in einen syrischen Tieffliegerangriff gerieten. Mit einem Satz landeten wir in einem Erdloch und zogen die Köpft ein. Fred drückte mit beiden Händen einen Stahlhelm über seine Ohren, den er kurz zuvor einem toten Soldaten abgenommen hatte. Ich hatte keinen Helm, fühlte mich nackt und war auch sonst nicht gut drauf, weil ich kurz zuvor mit Fred Streß gehabt hatte. Jetzt grinste er, während die syrischen Bomber mit heulenden Motoren über uns hinwegfegten und brüllte: „Wenn du vorhin ein bißchen netter zu mir gewesen wärst, würde ich dich jetzt mit unter meinen Stahlhelm lassen!“
Typisch Fred. In jeder Lebenslage hatte er einen unglaublich spontanen Witz. Manchmal, wenn ich stundenlang aus dem Lachen nicht mehr herausgekommen war, flehte ich ihn um Gnade an: „Hör auf, Fred, ich kann nicht mehr!“
Ein paar Tage vor seinem Tod schickte er mir ein Fax. Darin heißt es: „In kritischer gegenseitiger Bewunderung haben wir uns oft liebevoll die Meinung gesagt. Dabei haben wir Schmeicheleien vermieden und trotzdem herzlich gelacht ... Die Traumreisen, die wir damals für den stern unternommen haben, müssen heutigen stern-Mitarbeitern völlig unwirklich erscheinen - wie Fabeln von einem anderen Planeten. Was ist aus dem Magazin ohne unser oft anmaßendes Auftreten geworden? Wenn ich heute in das Verlagshaus komme und am Empfangstresen meinen Namen buchstabieren muß, begreife ich, daß unser Wirken keine bleibenden Schäden hinterlassen hat …“
DIE ZEIT LÄUFT SCHNELLER
Keine bleibenden Schäden hirnerlassen? Eine kryptische Bemerkung. Er wollte damit wohl sagen, daß der stern - dank der Verdienste derjenigen, die dieses Magazin groß gemacht haben - immer noch blüht und gedeiht. Und daß die heutigen Redakteure und Reporter davon profitieren, daß wir damals unsere Sache gut gemacht und „keine bleibenden Schäden“ angerichtet haben. Dankbarkeit darf man freilich unter dem Druck der Geschälte nicht erwarten. Fred - eben noch ein Star und eine Säule des Hauses - ist schon so gut wie vergessen. Nicht nur die Herren am Empfangstresen wissen nicht, wer er ist. Auch die jungen Leute, die das Magazin heute machen. können oder wollen sieh nicht an ihn erinnern. Keine Zeit. Kein Interesse. Die Zeit - so scheint es - läuft in kulturellen Spätzeiten schneller. Wir alle spüren, daß das Tempo ständig zunimmt. Um uns herum krachen alte Strukturen zusammen. Familie, Kirche, Gewerkschaften, traditionelle Firmenkulturen, sogar die parlamentarische Demokratie lösen sich auf. Viele Menschen haben keine Kraft und keine Zeit mehr, sich um Dinge zu kümmern, die nicht ihr unmittelbares Wohlergehen betreffen. Alle halten ihr Geld zusammen und viele gehen schon gar keine festen Bindungen mehr ein, weil sie Angst davor haben, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen.
WIR FLOGEN ERSTER KLASSE
Der Tod meines Freundes hat mich daran erinnert, wie fundamental sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Zeitraum von nur einer Generation verändert haben. Als wir in den 50er Jahren als Journalisten anfingen, gab es überhaupt keine Verträge, keine Arbeitszeitregelungen und keine Rentenansprüche. Wir haben einfach angeheuert und losgelegt. In den 60er Jahren profitierten wir vom Wirtschaftswunder und jubelten unsere Gehälter hoch. Dafür wurde beim stern, wenn es notwendig war, Tag und Nacht durchgearbeitet. Feste Bürozeiten hätten wir als Zumutung empfunden. Wir arbeiteten bis zum Umfallen, aber wenn die Arbeit getan war, stürzten wir uns ins Vergnügen und relaxten.
Geld spielte keine Rolle, jedenfalls nicht, wenn es darum ging, eine gute Story ins Blatt zu bringen. Wir flogen 1. Klasse, wohnten in den teuersten Hotels, heuerten vor Ort Dolmetscher und Mitarbeiter an, bewirteten Minister und Magnaten und mieteten Hubschrauber ohne Rückfrage in der Zentrale. Bei aktuellen Ereignissen mußten wir manchmal unter Konkurrenzdruck Schnellschüsse abliefern. Aber im Übrigen konnten wir uns für jede Story die Zeit nehmen, die für eine sorgfältige Arbeit notwendig war. 1977 z.B. drei Wochen für die erste Geschichte über den Ashram von Poona. Heutzutage haben Reporter für so eine Story nur noch ein paar Tage Zeit. Statt in der 1. Klasse müssen sie, wenn es irgendwie geht, in billigen Charterfliegern reisen. Keiner wagt es aufzumucken. Mehr als 8.000 Journalisten sind in Deutschland arbeitslos - darunter Hunderte von hoch qualifizierten Leuten. In den Redaktionsstuben herrscht Duckmäuserei und Anpassung. Immer mehr Journalisten verinnerlichen die Meinung der Chefredaktion so total, daß sie sie für ihre eigene halten. Dabei haben doch auch die meisten Chefredakteure schon keine eigene Meinung mehr. Sie tun, denken und sagen, was die Eigner ihrer Zeitung, ihres Magazins oder ihres Senders von ihnen erwarten. Das fällt ihnen überhaupt nicht schwer, denn inzwischen gehören sie selbst zum Establishment. Wohnen in den gleichen Villenvororten wie die Macher aus Politik und Wirtschaft. Schicken ihre Kinder auf teure Schulen, speisen in den Schlemmerlokalen der Reichen und Mächtigen.
Redaktionelle Unabhängigkeit ist nur noch eine schöne Erinnerung. Beim stern war das damals anders. Ich erinnere mich an eine Redaktionskonferenz, als plötzlich die Tür zaghaft geöffnet wurde und Dr. Bucerius, der Besitzer des stern, seine Nase durch den Spalt schob. Unser Chefredakteur, Herrn Nannen, wedelte abwehrend mit der Hand und sagte: „Buci, wir können Sie jetzt nicht gebrauchen. Lassen Sie uns mal in Ruhe Geld für Sie verdienen!“ Und der Inhaber des stern zog sich glücklich lächelnd zurück. Heute gehört der „Stern“ dem drittgrößten Medienkonzern der Welt, der Chefredakteure auswechselt, als wären sie Leiter einer Aldi-Filiale.
DER DRUCK WÄCHST
Wie in der gesamten Industrie geht es nun auch in den Medien nur noch um die Rendite. Überall fliegen Leute raus, und oft wird die Arbeit, die sie bisher gemacht haben, denjenigen aufgehalst, die noch nicht rausgeflogen sind. Der Druck wächst ständig, und langsam driftet die Gesellschaft auf den kollektiven Wahnsinn zu. Am 14. April dieses Jahres schrieb DIE ZEIT: „Rund acht Millionen Deutsche leiden an Depressionen und Ängsten, die oft psychosomatische Erkrankungen zur Folge haben. Vier von zehn Krankheitsaufhalten haben psychische Ursachen. Damit hat sich der Anteil der psychischen Erkrankungen seit 1990 mehr als verdoppelt. Die wahren Zahlen dürften noch höher liegen ... Deutsche Hausärzte schätzen, daß jeder dritte Patient in ihren Wartezimmern wegen seelischer Störungen sitzt. Am alarmierendsten sind die Zahlen bei jungen Frauen zwischen 20 und 24 Jahren. Bei ihnen stiegen die psychischen Erkrankungen laut der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) von 1997 bis 2002 um 90 Prozent!“
Zwei Tage vor seinem Tod hatte mich Fred zum letzten Mal angerufen. Die Sonne schien. Ich saß im Garten und las, als das Telefon klingelte. Fred sprach leise, fast tonlos. „Das Leben macht keinen Spaß mehr“, sagte er. „Was ist los?“, fragte ich. Und er sagte: „Mein Gedächtnis - Mittags weiß ich nicht mehr, was ich am Vormittag gemacht habe. Das ist keine Lebensqualität mehr. Verstehst du?“
„Hör mal“, sagte ich, „es ist doch gar nicht wichtig, ob du dich erinnerst. Du warst dein ganzes Leben lang unglaublich aktiv und erfolgreich. Jetzt darfst du dich einfach mit einer Decke um den Bauch in den Garten setzen und in die Sonne blinzeln. Wer sich nicht erinnert, der lebt im Hier und Jetzt. Das ist doch schon die halbe Erleuchtung!“
KEIN BIßCHEN WEISE
Aber er war nicht der Typ, der die Dinge an sich herankommen ließ. Er war ein Kämpfer. Er wollte die Kontrolle behalten - bis zum Schluß. Hingabe an das Unvermeidliche war nicht seine Sache. So konnte er nicht sehen, daß die Zeit der zunehmenden Altersgebrechlichkeit auch eine große Chance birgt. Sanft kann der alle Mensch seine Identifikation mit dem Körper auflösen und sich mit dem Bewußtsein, seinem eigentlichen Sein verbinden. Das ist der Weg vom gewöhnlichen Sterblichen zum Weisen.
Mein Freund Fred starb so, wie er gelebt hatte: unbeugsam, würdevoll - und kein
bißchen weise.
www.hierjetzt.de
Die Frage ist ja immer: Hat sich was verändert oder ist in Wirklichkeit alles gleich geblieben. Vielleicht komme ich ja allmählich in das Alter, in welchem einem die Vergangenheit in etwas verklärtem Licht goldiger erscheint als sie in Wirklichkeit war. Aber ich glaube, es hat sich wirklich was verändert. Das Hinsehen ist schwieriger geworden. Unter anderem, weil unsere Möglichkeiten, irgendwo anders hinzugehen, größer geworden sind. Die Zunahme der Möglichkeiten bezieht sich sowohl auf das Außen als auch auf das Innen. Außen können wir leichter weg, und durch das riesige Medienangebot ist es viel leichter, mit der Taschenlampe unserer Aufmerksamkeit irgendwo anders hinzugehen.
Sloterdijk nennt die Medien Erregungsindustrie. Sie erfüllt die Bedürfnisse des zahlenden Publikums. Was mich noch als Student den Kopf hat schütteln lassen: Warum lesen die alle die Bild-Zeitung? wandelt sich in die ernüchternde Erkenntnis, daß nur Bedürfnisse befriedigt werden können, die da sind. Die Bedürfnisbefriedigung ist einfacher geworden, auch die Ersatzbedürfnisbefriedigung ist einfacher geworden. Die Pizza kann ich mir mal grad um die Ecke holen, und wenn’s mit der Phantasie mal nicht so läuft, die Wichsvorlagen kann ich mir auch mal grad besorgen. Alles mögliche gibt’s, wozu anstrengen?
Und weil das Verhältnis von Anstrengung und Befriedigung sich verschoben hat, stehen wir einer zunehmenden Entwertung gegenüber. Wert ist, was wert ist, daß ich mich drum kümmere, daß es wird. Und Wollen ist das Maß an Energie, die ich reinstecke, daß etwas wird. Und so wird Jim Morrisons Wunsch »We don’t want just one bread, we want the whole bakery, and that now!« zum Fanal der heutigen Zeit.
Alles soll light, Du darfst, easy und instant sein: Zeichen einer zunehmenden Infantilisierung, in der Rückschläge und Durststrecken zunehmend inakzeptabel werden. Einerseits sehen sich die Medien zunehmend unter Druck, die Realität mit nicht mehr als drei Sätzen zu beschreiben, andererseits verdienen sie an der uns vermittelten Illusion, dies sei möglich. Und wir sind diejenigen, die unserem Trance-Bedürfnis nachgeben: Sei es Barbara Salesch, Deutschland sucht den Superstar (Dieter Bohlen soll angeblich der Meinung sein, in der Musikindustrie tummelten sich immer mehr Bekloppte) oder solche Leichenfledderer wie Stefan Raab, die zu nichts anderem imstande sind, als sich auf Geschaffenes draufzusetzen, es bis zum Gehtnichtmehr auszumelken und andere runterzumachen.
Unser Bedürfnis, gesehen zu werden, wird über das Ersatzbedürfnis, berührt zu werden, durch die Erregungsindustrie ersatzbefriedigt. Die Schaukel von Erregung und Befriedigung ist in vollem Gange. Berühren und Berührt-Werden ist angesagt. Wunderbare Ablenkung von unserer inneren Leere. Die voyeuristische Befriedigung am Drama des Anderen lenkt vom eigenen Drama der Katze, die um die heiße Leere herumtanzt, ab. Berührung statt Begegnung. Warum anstrengen, wenn’s auch einfach geht? Es sind immer unsere Bedürfnisse, die befriedigt werden. Und wir sind es immer, die die Zeche zahlen, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen.
Kindern in Kindermärchenfilmen einen Kanzler zu präsentieren, der von Eisendornen aufgespießt wird, und nachher Krokodilstränen weinen, weil irgendein chancenloser Schüler Amok läuft, sind die beiden Seiten unserer Zeitgeistmedaille. Die Technik des medialen Berührens wird immer ausgefeilter. Aus immer mehr Ecken werden wir von immer mehr und scheinbar immer größeren Sensationen angesprungen. Noch nicht mal eine Zapfpistole oder ein Supermarktwägelchen kann man heutzutage in die Hand nehmen, ohne sich mit einem Angebot konfontiert zu sehen. Kein Wunder, wenn wir in Kürze gezwungen werden, auch tagsüber mit eingeschaltetem Licht zu fahren, es paßt keiner mehr richtig auf, wie auch!
Die schleichende Infantilisierung läuft auf Hochtouren, und wir werden die Rechnung zu bezahlen haben, das wird sich nicht ändern. Die Techniken, mit denen uns weisgemacht wird, wir brauchten nicht oder weniger oder später zu bezahlen, werden sich verfeinern mit Hilfe noch subtilerer, noch grellerer oder lauterer oder intensiverer Sinnesbombardierung, aber an der grundsätzlichen Wahrheit wird sich nichts ändern. Diesem unseligen Trend können wir nur als Einzelner begegnen, indem wir uns immer wieder zurücknehmen, das wirklich Notwendige zu erkennen suchen. Wir müssen herausfinden, wo wir dem Einfachen huldigen sollten und wo wir auf das Angebot der Einfachheit hereinfallen, wo wir mit unserer Naivität hereinfallen und wo wir sie schätzen sollten. Wir sollten immer wieder herauszufinden versuchen, einen Überblick zu gewinnen und zu sehen, wo wir stehen anstatt uns das Unangenehme durch Ablenkung zu ersparen.
Da der Link nicht mehr funktioniert, habe ich den Text eingescannt und hier eingestellt:
der tod eines freundes
Er starb, wie er gelebt hatte
unbeugsam, würdevoll und kein bißchen weise
von Satyananda
• Der Anruf kam gegen Mitternacht. Oliver war am Apparat. „Papi ist vor einer Stunde gestorben!“, sagte er. Oliver ist der Sohn eines meiner besten Freunde 35 Jahre alt, Jungmanager, BMW Sportwagenfahrer, unverheiratet ein flotter Typ. Aber .jetzt hatte er Mühe zu sprechen. „Wir sind alle hei ihm gewesen, haben seine Hände gehalten und ihn umarmt als es so weit war.“ „Ein schöner Tod“, dachte ich und ahnte, daß Fred seinen Abgang genau so sorgfähig organisiert hatte, wie seine zahllosen Reportagen, die er für den stern gemacht hatte.
AUF DEN GOLANHÖHEN
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war Fred einer der ganz großen internationalen Pressefotografen gewesen. Wir waren auf vielen Reportagereisen rund um den Globus als Team unterwegs. Haben viele Hunderttausende von Meilen im Flugzeug nebeneinander gesessen und uns unsere intimsten Geheimnisse anvertraut. Haben zusammen Triumphe gefeiert und Niederlagen durchgestanden. Haben Blut, Schweiß und Tränen vergossen und unglaublich viel Spaß miteinander gehabt.
Ich erinnere mich gerade, wie wir während des israelisch-arabischen Krieges 1973 auf den Golanhöhen in einen syrischen Tieffliegerangriff gerieten. Mit einem Satz landeten wir in einem Erdloch und zogen die Köpft ein. Fred drückte mit beiden Händen einen Stahlhelm über seine Ohren, den er kurz zuvor einem toten Soldaten abgenommen hatte. Ich hatte keinen Helm, fühlte mich nackt und war auch sonst nicht gut drauf, weil ich kurz zuvor mit Fred Streß gehabt hatte. Jetzt grinste er, während die syrischen Bomber mit heulenden Motoren über uns hinwegfegten und brüllte: „Wenn du vorhin ein bißchen netter zu mir gewesen wärst, würde ich dich jetzt mit unter meinen Stahlhelm lassen!“
Typisch Fred. In jeder Lebenslage hatte er einen unglaublich spontanen Witz. Manchmal, wenn ich stundenlang aus dem Lachen nicht mehr herausgekommen war, flehte ich ihn um Gnade an: „Hör auf, Fred, ich kann nicht mehr!“
Ein paar Tage vor seinem Tod schickte er mir ein Fax. Darin heißt es: „In kritischer gegenseitiger Bewunderung haben wir uns oft liebevoll die Meinung gesagt. Dabei haben wir Schmeicheleien vermieden und trotzdem herzlich gelacht ... Die Traumreisen, die wir damals für den stern unternommen haben, müssen heutigen stern-Mitarbeitern völlig unwirklich erscheinen - wie Fabeln von einem anderen Planeten. Was ist aus dem Magazin ohne unser oft anmaßendes Auftreten geworden? Wenn ich heute in das Verlagshaus komme und am Empfangstresen meinen Namen buchstabieren muß, begreife ich, daß unser Wirken keine bleibenden Schäden hinterlassen hat …“
DIE ZEIT LÄUFT SCHNELLER
Keine bleibenden Schäden hirnerlassen? Eine kryptische Bemerkung. Er wollte damit wohl sagen, daß der stern - dank der Verdienste derjenigen, die dieses Magazin groß gemacht haben - immer noch blüht und gedeiht. Und daß die heutigen Redakteure und Reporter davon profitieren, daß wir damals unsere Sache gut gemacht und „keine bleibenden Schäden“ angerichtet haben. Dankbarkeit darf man freilich unter dem Druck der Geschälte nicht erwarten. Fred - eben noch ein Star und eine Säule des Hauses - ist schon so gut wie vergessen. Nicht nur die Herren am Empfangstresen wissen nicht, wer er ist. Auch die jungen Leute, die das Magazin heute machen. können oder wollen sieh nicht an ihn erinnern. Keine Zeit. Kein Interesse. Die Zeit - so scheint es - läuft in kulturellen Spätzeiten schneller. Wir alle spüren, daß das Tempo ständig zunimmt. Um uns herum krachen alte Strukturen zusammen. Familie, Kirche, Gewerkschaften, traditionelle Firmenkulturen, sogar die parlamentarische Demokratie lösen sich auf. Viele Menschen haben keine Kraft und keine Zeit mehr, sich um Dinge zu kümmern, die nicht ihr unmittelbares Wohlergehen betreffen. Alle halten ihr Geld zusammen und viele gehen schon gar keine festen Bindungen mehr ein, weil sie Angst davor haben, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen.
WIR FLOGEN ERSTER KLASSE
Der Tod meines Freundes hat mich daran erinnert, wie fundamental sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Zeitraum von nur einer Generation verändert haben. Als wir in den 50er Jahren als Journalisten anfingen, gab es überhaupt keine Verträge, keine Arbeitszeitregelungen und keine Rentenansprüche. Wir haben einfach angeheuert und losgelegt. In den 60er Jahren profitierten wir vom Wirtschaftswunder und jubelten unsere Gehälter hoch. Dafür wurde beim stern, wenn es notwendig war, Tag und Nacht durchgearbeitet. Feste Bürozeiten hätten wir als Zumutung empfunden. Wir arbeiteten bis zum Umfallen, aber wenn die Arbeit getan war, stürzten wir uns ins Vergnügen und relaxten.
Geld spielte keine Rolle, jedenfalls nicht, wenn es darum ging, eine gute Story ins Blatt zu bringen. Wir flogen 1. Klasse, wohnten in den teuersten Hotels, heuerten vor Ort Dolmetscher und Mitarbeiter an, bewirteten Minister und Magnaten und mieteten Hubschrauber ohne Rückfrage in der Zentrale. Bei aktuellen Ereignissen mußten wir manchmal unter Konkurrenzdruck Schnellschüsse abliefern. Aber im Übrigen konnten wir uns für jede Story die Zeit nehmen, die für eine sorgfältige Arbeit notwendig war. 1977 z.B. drei Wochen für die erste Geschichte über den Ashram von Poona. Heutzutage haben Reporter für so eine Story nur noch ein paar Tage Zeit. Statt in der 1. Klasse müssen sie, wenn es irgendwie geht, in billigen Charterfliegern reisen. Keiner wagt es aufzumucken. Mehr als 8.000 Journalisten sind in Deutschland arbeitslos - darunter Hunderte von hoch qualifizierten Leuten. In den Redaktionsstuben herrscht Duckmäuserei und Anpassung. Immer mehr Journalisten verinnerlichen die Meinung der Chefredaktion so total, daß sie sie für ihre eigene halten. Dabei haben doch auch die meisten Chefredakteure schon keine eigene Meinung mehr. Sie tun, denken und sagen, was die Eigner ihrer Zeitung, ihres Magazins oder ihres Senders von ihnen erwarten. Das fällt ihnen überhaupt nicht schwer, denn inzwischen gehören sie selbst zum Establishment. Wohnen in den gleichen Villenvororten wie die Macher aus Politik und Wirtschaft. Schicken ihre Kinder auf teure Schulen, speisen in den Schlemmerlokalen der Reichen und Mächtigen.
Redaktionelle Unabhängigkeit ist nur noch eine schöne Erinnerung. Beim stern war das damals anders. Ich erinnere mich an eine Redaktionskonferenz, als plötzlich die Tür zaghaft geöffnet wurde und Dr. Bucerius, der Besitzer des stern, seine Nase durch den Spalt schob. Unser Chefredakteur, Herrn Nannen, wedelte abwehrend mit der Hand und sagte: „Buci, wir können Sie jetzt nicht gebrauchen. Lassen Sie uns mal in Ruhe Geld für Sie verdienen!“ Und der Inhaber des stern zog sich glücklich lächelnd zurück. Heute gehört der „Stern“ dem drittgrößten Medienkonzern der Welt, der Chefredakteure auswechselt, als wären sie Leiter einer Aldi-Filiale.
DER DRUCK WÄCHST
Wie in der gesamten Industrie geht es nun auch in den Medien nur noch um die Rendite. Überall fliegen Leute raus, und oft wird die Arbeit, die sie bisher gemacht haben, denjenigen aufgehalst, die noch nicht rausgeflogen sind. Der Druck wächst ständig, und langsam driftet die Gesellschaft auf den kollektiven Wahnsinn zu. Am 14. April dieses Jahres schrieb DIE ZEIT: „Rund acht Millionen Deutsche leiden an Depressionen und Ängsten, die oft psychosomatische Erkrankungen zur Folge haben. Vier von zehn Krankheitsaufhalten haben psychische Ursachen. Damit hat sich der Anteil der psychischen Erkrankungen seit 1990 mehr als verdoppelt. Die wahren Zahlen dürften noch höher liegen ... Deutsche Hausärzte schätzen, daß jeder dritte Patient in ihren Wartezimmern wegen seelischer Störungen sitzt. Am alarmierendsten sind die Zahlen bei jungen Frauen zwischen 20 und 24 Jahren. Bei ihnen stiegen die psychischen Erkrankungen laut der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) von 1997 bis 2002 um 90 Prozent!“
Zwei Tage vor seinem Tod hatte mich Fred zum letzten Mal angerufen. Die Sonne schien. Ich saß im Garten und las, als das Telefon klingelte. Fred sprach leise, fast tonlos. „Das Leben macht keinen Spaß mehr“, sagte er. „Was ist los?“, fragte ich. Und er sagte: „Mein Gedächtnis - Mittags weiß ich nicht mehr, was ich am Vormittag gemacht habe. Das ist keine Lebensqualität mehr. Verstehst du?“
„Hör mal“, sagte ich, „es ist doch gar nicht wichtig, ob du dich erinnerst. Du warst dein ganzes Leben lang unglaublich aktiv und erfolgreich. Jetzt darfst du dich einfach mit einer Decke um den Bauch in den Garten setzen und in die Sonne blinzeln. Wer sich nicht erinnert, der lebt im Hier und Jetzt. Das ist doch schon die halbe Erleuchtung!“
KEIN BIßCHEN WEISE
Aber er war nicht der Typ, der die Dinge an sich herankommen ließ. Er war ein Kämpfer. Er wollte die Kontrolle behalten - bis zum Schluß. Hingabe an das Unvermeidliche war nicht seine Sache. So konnte er nicht sehen, daß die Zeit der zunehmenden Altersgebrechlichkeit auch eine große Chance birgt. Sanft kann der alle Mensch seine Identifikation mit dem Körper auflösen und sich mit dem Bewußtsein, seinem eigentlichen Sein verbinden. Das ist der Weg vom gewöhnlichen Sterblichen zum Weisen.
Mein Freund Fred starb so, wie er gelebt hatte: unbeugsam, würdevoll - und kein
bißchen weise.
www.hierjetzt.de
aus der Osho-Times, Mitte 2005
Die Frage ist ja immer: Hat sich was verändert oder ist in Wirklichkeit alles gleich geblieben. Vielleicht komme ich ja allmählich in das Alter, in welchem einem die Vergangenheit in etwas verklärtem Licht goldiger erscheint als sie in Wirklichkeit war. Aber ich glaube, es hat sich wirklich was verändert. Das Hinsehen ist schwieriger geworden. Unter anderem, weil unsere Möglichkeiten, irgendwo anders hinzugehen, größer geworden sind. Die Zunahme der Möglichkeiten bezieht sich sowohl auf das Außen als auch auf das Innen. Außen können wir leichter weg, und durch das riesige Medienangebot ist es viel leichter, mit der Taschenlampe unserer Aufmerksamkeit irgendwo anders hinzugehen.
Sloterdijk nennt die Medien Erregungsindustrie. Sie erfüllt die Bedürfnisse des zahlenden Publikums. Was mich noch als Student den Kopf hat schütteln lassen: Warum lesen die alle die Bild-Zeitung? wandelt sich in die ernüchternde Erkenntnis, daß nur Bedürfnisse befriedigt werden können, die da sind. Die Bedürfnisbefriedigung ist einfacher geworden, auch die Ersatzbedürfnisbefriedigung ist einfacher geworden. Die Pizza kann ich mir mal grad um die Ecke holen, und wenn’s mit der Phantasie mal nicht so läuft, die Wichsvorlagen kann ich mir auch mal grad besorgen. Alles mögliche gibt’s, wozu anstrengen?
Und weil das Verhältnis von Anstrengung und Befriedigung sich verschoben hat, stehen wir einer zunehmenden Entwertung gegenüber. Wert ist, was wert ist, daß ich mich drum kümmere, daß es wird. Und Wollen ist das Maß an Energie, die ich reinstecke, daß etwas wird. Und so wird Jim Morrisons Wunsch »We don’t want just one bread, we want the whole bakery, and that now!« zum Fanal der heutigen Zeit.
Alles soll light, Du darfst, easy und instant sein: Zeichen einer zunehmenden Infantilisierung, in der Rückschläge und Durststrecken zunehmend inakzeptabel werden. Einerseits sehen sich die Medien zunehmend unter Druck, die Realität mit nicht mehr als drei Sätzen zu beschreiben, andererseits verdienen sie an der uns vermittelten Illusion, dies sei möglich. Und wir sind diejenigen, die unserem Trance-Bedürfnis nachgeben: Sei es Barbara Salesch, Deutschland sucht den Superstar (Dieter Bohlen soll angeblich der Meinung sein, in der Musikindustrie tummelten sich immer mehr Bekloppte) oder solche Leichenfledderer wie Stefan Raab, die zu nichts anderem imstande sind, als sich auf Geschaffenes draufzusetzen, es bis zum Gehtnichtmehr auszumelken und andere runterzumachen.
Unser Bedürfnis, gesehen zu werden, wird über das Ersatzbedürfnis, berührt zu werden, durch die Erregungsindustrie ersatzbefriedigt. Die Schaukel von Erregung und Befriedigung ist in vollem Gange. Berühren und Berührt-Werden ist angesagt. Wunderbare Ablenkung von unserer inneren Leere. Die voyeuristische Befriedigung am Drama des Anderen lenkt vom eigenen Drama der Katze, die um die heiße Leere herumtanzt, ab. Berührung statt Begegnung. Warum anstrengen, wenn’s auch einfach geht? Es sind immer unsere Bedürfnisse, die befriedigt werden. Und wir sind es immer, die die Zeche zahlen, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen.
Kindern in Kindermärchenfilmen einen Kanzler zu präsentieren, der von Eisendornen aufgespießt wird, und nachher Krokodilstränen weinen, weil irgendein chancenloser Schüler Amok läuft, sind die beiden Seiten unserer Zeitgeistmedaille. Die Technik des medialen Berührens wird immer ausgefeilter. Aus immer mehr Ecken werden wir von immer mehr und scheinbar immer größeren Sensationen angesprungen. Noch nicht mal eine Zapfpistole oder ein Supermarktwägelchen kann man heutzutage in die Hand nehmen, ohne sich mit einem Angebot konfontiert zu sehen. Kein Wunder, wenn wir in Kürze gezwungen werden, auch tagsüber mit eingeschaltetem Licht zu fahren, es paßt keiner mehr richtig auf, wie auch!
Die schleichende Infantilisierung läuft auf Hochtouren, und wir werden die Rechnung zu bezahlen haben, das wird sich nicht ändern. Die Techniken, mit denen uns weisgemacht wird, wir brauchten nicht oder weniger oder später zu bezahlen, werden sich verfeinern mit Hilfe noch subtilerer, noch grellerer oder lauterer oder intensiverer Sinnesbombardierung, aber an der grundsätzlichen Wahrheit wird sich nichts ändern. Diesem unseligen Trend können wir nur als Einzelner begegnen, indem wir uns immer wieder zurücknehmen, das wirklich Notwendige zu erkennen suchen. Wir müssen herausfinden, wo wir dem Einfachen huldigen sollten und wo wir auf das Angebot der Einfachheit hereinfallen, wo wir mit unserer Naivität hereinfallen und wo wir sie schätzen sollten. Wir sollten immer wieder herauszufinden versuchen, einen Überblick zu gewinnen und zu sehen, wo wir stehen anstatt uns das Unangenehme durch Ablenkung zu ersparen.