Der
Klempner von Mumbai
In einem Land wie Indien ist jeder Tropfen Wasser kostbar. Deshalb ist Aabid Surti zur Stelle, wo immer in Mumbai ein Hahn leckt. Der Einzelkämpfer will die Verschwendung stoppen
VON THOMAS KRAUSE
Der Sisyphos von Mumbai trägt eine graugrün karierte Schirmmütze und hellblaue Jeans. Der Stein, den er bergauf rollt, ist flüssig: Er will helfen, Wasser zu sparen. jeden Sonntagvormittag zieht Aabid Surti von Wohnungstür zu Wohnungstür und fragt, ob er kostenlos tropfende Wasserhähne reparieren darf.
An diesem Sonntag beginnt Surti seine Tour am Bahnhof Mira Road in einem Vorort der indischen Metropole. Es ist kurz nach zehn Uhr morgens, doch das Thermometer nähert sich bereits der 30-GradMarke. Am Motorrikscha-Stand vor dem Bahnhof besteigt Aabid Surti einen der dreirädrigen Motorroller, der knatternd in den Verkehrsstrom eintaucht. Mit dem Fahrtwind wehen Straßenstaub und Benzingeruch heran. Der Weg führt vorbei an zweistöckigen Häusern mit Flachdächern. „Ich bin eine Ein-Mann-Nichtregierungsorganisation”, sagt Surti. Er brauche kein Büro, um etwas für die Gesellschaft zu tun. Nur einen Klempner.
„Ich wuchs auf der Straße auf, da lernte ich den Wert des Wassers zu schätzen”, sagt der 77-Jährige. „Später schmerzte es mich, wenn in den Häusern meiner Freunde ein Wasserhahn tropfte. Ich sagte ihnen immer wieder: Bestell' doch bitte einen Klempner! Aber die kommen halt nicht für so einen kleinen Job.”
Über die Jahre hätten sich seine Freunde immer weniger an ihren tropfenden Hähnen gestört: „Der Wassertank auf dem Dach läuft über, warum scherst du dich um ein paar Tropfen?”, fragten sie. ,,2007 las ich in einem Artikel, dass pro Monat hundert Liter Trinkwasser verschwendet werden, wenn ein Wasserhahn einmal pro Sekunde tropft”, sagt Surti. „Da wusste ich plötzlich, was zu tun war: Wenn ich nur einen einzigen Wasserhahn repariere, spare ich schon nach einem Jahr 1200 Liter Wasser!” Manche Wasserhähne tropften fünf Monate, andere fünf Jahre lang, ohne dass sich jemand daran störe.
Sein heutiges Ziel ist der Mira-Darshan-Komplex, ein Haus mit Eigentumswohnungen. Sieben Stockwerke ragt das hellbraun und weiß angestrichene Gebäude empor. In einigen der vergitterten Fensternischen hängt Wäsche auf der Leine, in anderen sind Klimaanlagen montiert. Im Schaukasten an Aufgang 0 des Appartementhauses hängt ein Zettel mit einem blau-schwarzen Logo, das auch auf Surtis T-Shirt zu sehen ist. „Save every Drop or Drop Dead” steht da. – „Spare jeden Tropfen, sonst gehst du den Bach runter”. Das ist der Name von Surtis Initiative. Die Zettel hängt er immer montags dort auf, wo er am darauffolgenden Sonntag an die Türen klopfen will.
Im sechsten Stock erwarten ihn bereits seine Mitstreiter: Der Klempner Riyaz Khan, 42, und seine Assistentin Tejal Shah. Die 36-Jährige mit schwerem, schwarzem Zopf und einem kleinen goldenen Stecker im linken Nasenflügel klopft an die weiß lackierte Tür der Wohnung 173. Eine Luke öffnet sich und gibt den Blick frei auf das rundliche Gesicht einer Frau, die skeptisch die Gruppe vor ihrer Wohnungstür mustert. „Guten Tag! Haben Sie einen tropfenden Wasserhahn?”, fragt Shah. „Wir sind von Drop Dead und wollen helfen, Wasser zu sparen. Deswegen reparieren wir kostenlos Wasserhähne.” Das Gesicht hellt sich auf. Die Luke geht zu, die Tür öffnet sich. Alles, was der Klempner an Werkzeug braucht, trägt der hagere Mann mit dem mintgrünen Hemd in einer Plastiktüte bei sich. Er folgt der Hausherrin ins Badezimmer. Meist kommt er mit einem Schraubenzieher und einem Engländer, einem verstellbaren Schraubenschlüssel, aus. Khans Handgriffe sind geübt: Schraube lösen, die Abdeckung des Ventils abnehmen, mit dem Engländer das Ventil ein wenig fester anziehen, Abdeckung wieder draufsetzen, zuschrauben. Wenige Minuten später tropfen zwei Wasserhähne weniger.
Während einige Teile Mumbais fließend Wasser haben, sind andere Stadtviertel noch gar nicht ans Leitungsnetz angeschlossen. Dorthin wird Wasser mit Tankwagen geliefert. In einem Land, in dem Millionen Menschen täglich ums Überleben kämpfen, haben viele Menschen drängendere Probleme als die Umwelt zu schützen. Wer sich wie Surti um gesellschaftliche Belange statt um sein tägliches Auskommen kümmern kann, gilt schon als privilegiert.
Seinen relativen Wohlstand verdankt Surti seinen Begabungen. Er ist Autor von mehr als 80 Büchern, Schöpfer von Comicserien und Maler. Als ihm die Regierung des Bundesstaates Uttar Pradesh 2007 eine Auszeichnung für sein literarisches Lebenswerk verlieh, investierte er das Preisgeld von 100.000 Rupien (etwa 1700 Euro, das sind beinahe drei durchschnittliche indische Jahresgehälter) in das „Drop Dead”Projekt. Zwar fehlt Surti die Zeit, um jeden Tag loszuziehen. Aber seit über fünf Jahren opfert er einen halben Tag pro Woche, damit andere Wasser sparen.
„Was passiert, wenn du etwas Gutes für die Gesellschaft tun möchtest?”, fragt Surti. „Das ganze Universum hilft dir!” Trotzdem bringt auch ehrenamtliches Engagement Kosten mit sich: Die Bezahlung seiner Mitstreiter
und die Ersatzteile kosten Geld. Deshalb lässt er T-Shirts mit dem „Drop
Dead”-Logo
bedrucken und verteilt diese gegen Spenden. Dass er kein Geld von denen nimmt,
deren Wasserhähne er repariert, hat einen einfachen Grund: „Die Leute würden
sofort denken, ich wolle ein Geschäft machen”, sagt Surti.
Am Ende jeder Reparatur klebt Shah einen
Aufkleber mit dem „Drop Dead”-Logo im Bad auf die Fliesen. In den Jahren 2007
und 2008 tat
sie das insgesamt 3841 Mal –
das waren ihre Rekordjahre. „Nach
meinen Berechnungen haben wir damit geholfen, mehr als
vier Millionen Liter Wasser zu sparen”, sagt die Assistentin. Mit dem rechten
Daumen reibt sie über den Sticker,
damit dieser auch gut hält. „Zum
einen ist der Aufkleber ein Zeichen, dass wir hier waren. Zum
anderen ist
er eine Erinnerung an die Bewohner, weiterhin Wasser zu sparen.” Der Aufkleber
ist so eine permanente, aber höfliche Ermahnung. Stockwerk für Stockwerk arbeitet sich
der kleine „Drop Dead”-Trupp in dem Wohnhaus nach unten.
„Ich kann nicht zusehen,
wie das blaue Gold einfach so im Abfluss verschwindet”, sagt Surti. „Das
motiviert mich.” Der Sisyphos von Mumbai hat sich eine Aufgabe
gesucht, die er nie zu Ende bringen kann. „Gerade weil es eine unerfüllbare Aufgabe ist”,
sagt er, „muss jemand beim ersten Tropfen anfangen.”
aus Greenpeace Magazin 2.13