Dienstag, 21. Oktober 2008

Wie die Luft auf die Erde kam

In einer aufwendigen Doku-Reihe erzählt Deutschlands bekanntester Astronaut Thomas Reiter die Geschichte der Erde neu. Hier schreibt er vorab, wie das Leben zu atmen lernte.

THOMAS REITER
DLR-Vorstand für Raumfahrtforschung und -entwicklung



Die zarte Lufthülle, die unseren wunderschönen Planeten umgibt – wer. sie als Astronaut aus dem Weltall betrachtet, fragt sich unweigerlich: Wie kam eigentlich der Sauerstoff auf die Erde, dieses ganz besondere Gas, das das heutige Leben überhaupt erst ermöglicht? Für die neue ZDF-Reihe „Expedition Erde“ wollten wir das Rätsel lösen – und die Antwort fanden wir in Australien.

40 Grad Celsius. Die Sonne brennt, kein Baum weit und breit spendet Schatten. Die Geländewagen unseres Drehteams quälen sich stundenlang durch die staubige Einöde der westaustralischen Wüste. Eine holprige Tortur bis ans Ende des sechsten Kontinents – doch als wir endlich die Lagune von Shark Bay am Indischen Ozean erreichen, hat sich alle Mühe gelohnt: Wir stehen vor einer der außergewöhnlichsten Sehenswürdigkeiten der Erde – den ältesten Lebewesen der Welt. Und den wichtigsten Revolutionären der Geschichte.


Der Umweltfrevel der Urzeit
Eine neue Erfindung ändert alles


Shark Bay ist einer der wenigen Orte, an denen noch heute geschieht, was man als den größten Umweltfrevel in der Vergangenheit unseres Planeten bezeichnen darf: Hunderte Millionen Jahre lang haben die ersten Bakterien auf der Ur-Erde schon Mangan gefressen, Schwefel verdaut und Zucker vergoren, auf Vulkanen Kohlendioxid und Ammoniak geatmet – kurzum, alles getan, um in einer lebensfeindlichen Ur-Atmosphäre mit intensiver UV-Strahlung irgendwie auszukommen. Doch dann, vor 3,5 Milliarden Jahren, geschah es: Ein paar einfallsreiche Cyanobakterien (früher Blaualgen genannt) erfanden die Photosynthese. Das bedeutet: Sie produzierten, ganz nebenbei, Sauerstoff als Abgas und verpesteten damit ihre Umgebung. So lange, bis das aggressive Gas nicht nur alles Gestein verwittert (oxidiert), sondern sich sogar in der Atmosphäre angereichert hatte

Sanft kräuselt sich das warme Wasser im Wind. Wie Streusel auf einem riesigen Kuchen liegen die Stromatolithen in der Lagune: Millionen Polstersteine, aufgebaut von Cyanobakterien, den Schöpfern der Luft. Bis zu metergroße knollen- oder säulenförmige Gebilde vor allem aus Kalkstein, oft mit Lagen aus Eisenerz oder Feuerstein, die die Mikroben bei ihrem Wachstum aus dem Meereswasser heraus eingelagert haben. Korn für Korn, Schicht für Schicht.

Wie an die Küste gespülte Gesteinsbrocken sehen die Stromatolithen aus – aber das sind sie nicht. Sondern lebende Organismen. So unspektakulär sie aussehen mögen – alle Pflanzen und Tiere und jeder einzelne Mensch verdanken ihnen ihre Existenz. Diese Bakterien waren zwei Milliarden Jahre lang alles, was unsere Erde an Lebensformen zu bieten hatte – und wenn nicht eine Menge an Zufällen zusammengekommen wäre, dann wäre unser Planet noch heute eine Welt von Mikroben. An der Shark Bay ist sie erhalten geblieben.

Cyanobakterien sind die Erfinder der Photosynthese. Es gibt 2000 Arten - vom Einzeller bis zu langen Fäden (wie bei der Gattung Phormidium, Aufnahme mit dem Raster- Elektronenmikroskop, 900-fache Vergrößerung).


Mit Treibkörnchen aus dem Meerwasser bauen sie die Stromatolithen der Shark Bay auf - die lebenden Steine Westaustraliens.







Ein Blick auf diese Bucht ist wie ein Schnappschuss aus der Urzeit: Seit 3,5 Milliarden Jahren bauen diese Winzlinge an den seichten Ufern der Meere ihre Pilztürme auf – dunkle Strukturen im Flachwasser. Sogar aus dem Weltraum konnte ich das türkisgrüne Wasser der Shark Bay erkennen. Mithilfe des Sonnenlichts erzeugten sich diese Revolutionäre des Lebens die Rohstoffe ihres Wachstums plötzlich selbst – durch Aufspaltung des Wassers aus dem Meer und des Kohlendioxids aus der Luft. Eine geniale neue Methode, die alle Vorläufer in Rückzugsnischen verdrängte – in Vulkanschlote, Höhlen und die Tiefsee.

Noch heute ist auf allen Kontinenten – aber besonders schön in den roten Weiten des australischen Outbacks – zu sehen, was der neue Luft-Sauerstoff schuf: oxidiertes Gestein, gewaltige Gebirge aus Rost, die zu Eisenerz wurden – von dem unsere Zivilisation heute zu großen Teilen abhängt. Faszinierend: Der Abfall der natürlichen Revolution von damals bildet die Grundlage der technischen Revolution unserer Gegenwart. Die wunderbare Erfindung der winzigen Bauherren der Stromatolithen war so erfolgreich, dass sich der Sauerstoff in der Atmosphäre sammelte – und schließlich unseren Planeten auch mit einem ganz besonderen Schutz umgab: der Ozonschicht. Sie bewahrt ihn bis heute vor den tödlichen UV-Strahlen der Sonne. Und das Vorhandensein von Sauerstoff zum Atmen ermöglichte das Entstehen der ganzen Fülle von Leben auf dem Land.

Wir alle sind Kinder dieser Bakterien. Das hat auch die UNO erkannt und die Stromatohithen, die lebenden Steine Australiens, zum Welterbe der Menschheit erklärt.

Thomas Reiter in TV Hören und Sehen, Nr. 38, 2008