Sonntag, 30. Oktober 2016

Europa wird untergehen… Habe ich was verpaßt?

Brexit, Trump und Europas Umgang mit der Flüchtlingskrise – es gibt mehr als genug Anzeichen dafür, dass der Westen nicht mehr das ist, was er einmal war. In der neuen Cicero-Ausgabe beschreibt der belgische Historiker David Engels, wie die westliche Zivilisation ihrem Niedergang entgegengeht


Kurz mal die Augen zumachen und die vergangenen Monate Revue passieren lassen. Da flackern Bilder und Ereignisse, die man sich in dieser Dichte kaum hätte vorstellen können: Großbritannien beschließt, sich aus dem europäischen Verbund zurückzuziehen. In den USA schafft es ein Verhaltensauffälliger als Präsidentschaftskandidat bis kurz vor die Türen des Weißen Hauses. Im Umgang mit der Flüchtlingsfrage zerfällt die Europäische Union in zwei Teile: Deutschland auf der einen, alle anderen auf der anderen Seite. Freihandelsabkommen zwischen dem amerikanischen Kontinent und Europa stehen auf der Kippe.

Kurzum: Der sogenannte Westen driftet auseinander und wird von außen durch neue strategische Allianzen unter Druck gesetzt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein russischer Kollege Wladimir Putin sind nun wahrlich keine Bilderbuchfreunde. Aber für den gemeinsamen Gegner Europa vergessen sie sogar einen abgeschossenen Kampfjet und verständigen sich auf eine gemeinsame Gaspipeline, mit der um Kerneuropa ein Bypass gelegt wird. Noch zieht sich die westliche Wertegemeinschaft daran hoch, dass ihre Attraktivität groß ist und sich für Freiheit, Menschenrechte und Wohlstand Millionen Menschen auf den Weg nach Westen machen.

mehr:
- Abendland im Abendrot (Christoph Schwennicke, Cicero, 27.10.2016)

mein Kommentar:

- Wenn demokratische Rechte (noch) wahrgenommen werden und die Wahrnehmung solcher Rechte in einem äußerst dubiosen »Frei«-Handelsabkommen (, dessen Inhalt noch nicht einmal den Bundestagsabgeordneten zur Verfügung gestellt werden sollte,) seinen Niederschlag findet, das Bestehen auf inhaltlicher Diskussion aber in vielen Medien als »Handlungsunfähigkeit« dargestellt wird, dann ist für viele das Procedere wichtiger als der Inhalt. Sollen sich in Zukunft Chirurgen nicht mehr die Hände sterilisieren, damit’s schneller geht? Kann man, wenn der Sterilisationsvorgang einige Minuten in Anspruch nimmt, tatsächlich von »Blamage« reden?
Wo ist dann das Problem? Bei denen, die handeln oder bei denen, die darüber urteilen?
- Wenn sich Bob Dylan zwei Wochen Zeit nimmt, um sich zur Verleihung des Nobelpreises zu positionieren und die Wartezeit bis zu seiner Reaktion von einigen Menschen verärgert als Arroganz interpretiert wird, wo ist dann das Problem?
Bei Dylan, der sich Zeit nimmt, oder bei denen, die ihre Schnellschuß-Erwartungen frustriert sehen?
- Wenn die USA als Anführer der westlichen Hemisphäre nach einem furchtbaren Terrorakt (ca. 3.500 Tote) innerhalb weniger Tage mit einer Kriegserklärung an unbekannt reagieren, mit der Einschränkung von Bürgerrechten, mit Kriegen, die mindestens 1,5 mio Tote gefordert und den IS hervorgebracht haben, 
wo ist dann das Problem?
- Wenn Bob Dylan in China auftritt, sich der Forderung der Parteiführung beugt, auf den Vortrag einiger seiner bekanntesten Protestsongs verzichtet und dafür von angesehenen amerikanischen Tageszeitungen kritisiert wird
wo ist dann das Problem?
- Wenn die industrialisierte Welt Afrikas Küsten leerfischt, den ostafrikanischen Markt mit subventioniertem Geflügelfleisch-Abfall und viele Teile Afrikas – abhängig von der Bestechlichkeit der jeweiligen Clan-Chefs und Politiker – mit radioaktivem Abfall und sonstigem Giftmüll überschwemmt und die Bevölkerung, die bis dato in einer spätmittelalterlichen Welt gelebt hatte, wegläuft und an unsere Türen klopft, 
wo ist dann das Problem?
- Wenn Westeuropa – fesh und trendy Zivilcourage demonstrierend Fußnägel regenbogenfarben bemalend – vom Rest der Welt die Abkehr von einem Denken fordert, welches es selbst noch vor wenigen Jahrzehnten praktiziert hat oder 
- wenn wir seit dem Zweiten Weltkrieg ununterbrochen erzählt bekommen, daß östlich der Ukraine die Morlocks sitzen, der reflexionsresistente Westen dem russischen Bären zwischen die Beine greift (weil er sich anscheinend nicht vorstellen kann, daß den das gewaltig nervt) und der dann brüllt –
wo ist das Problem?
Wenn Putin immer wieder mit nacktem Oberkörper, Kalaschnikow in der Hand auf einem Gaul mit Tarnuniform-Hose und Springerstiefeln durch die russische Pampa reitet, unter Wasser antike Reliquien findet und auf der Taekwondo-Matte einen durchtrainierten Riesen nach dem anderen umlegt (»Ich muß so sein, wie mein Volk von mir erwartet!«) – und das in unseren Qualitätsmedien einhellig als pathologischer Narzissmus interpretiert wird:
Wo ist das Problem?
- Wenn Russland-Experten der DGAP (deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik) in einem Interview sagen dürfen, man habe die Bedeutung der Ukraine für Russland unterschätzt –
wo ist dann das Problem?
- Wenn die Brüste irgendeines zweitklassigen Filmsternchens im 35. Dschungelcamp-Aufguß ein größeres Gewicht haben als die Frage, was eine Annexion ist – 
wo ist das Problem?
- Wenn sich die Tagesthemen erlauben, ihren Zuschauern 500 bezahlte und in einem Fußballstadion kameragerecht zusammengepferchte Ostukrainer als »Zehntausende« zu verkaufen – und man ihnen dann draufkommt –
wo ist das Problem?
Wenn der NATO-Generalsekretär einen Tag nach den ersten Katastrophenmeldungen bestätigt, ein Konvoi aus gepanzerten russischen Fahrzeugen habe die Grenze zur Ukraine überschritten (für wie blöde halten die die Russen und insbesondere Putin eigentlich?) und sei teilweise zerstört worden,
Und wenn, nachdem Tag für Tag neue Meldungen über den angeblichen militärischen Zusammenstoß lanciert worden sind, urplötzlich Funkstille ist, so als ob nie was gewesen wäre:
Wo ist das Problem?
Wenn Tagesthemen und heute-Magazin den exakt gleichen zusammengeschnittenen Ausschnitt aus einem Reuters-Video vom G20-Gipfel in Brisbane zeigen, in welchem die brasilianische Außenministerin – Putin gegenüber am Mittagstisch – gerade von einem ihr Wein eingießenden Kellner überdeckt wird und der Sprecher aus dem Off tönt, Putin sei unter den anwesenden Politikern völlig isoliert, und es habe sich wohl niemand zu ihm an den Tisch setzen wollen,
und in den Internet-Blogs und sozialen Medien schlagen die Wellen der Empörung hoch (Ne,nee, Leute, das waren nicht nur Bots) und das Wort von der Lügenpresse kommt auf (das wurde nämlich schon vor Pegida benutzt) –
wo ist dann das Problem?
Wenn Philosophen, Politologen und andere Denker von einem Untergang reden, 
was meinen sie damit?
Wenn jemand freiheitlich-demokratisches Wasser predigt und turbokapitalistischen Wein trinkt…
wo ist das Problem?

Wenn sowohl Martin Luther wie auch Immanuel Kant dazu aufrufen, den eigenen Kopf zu benutzen –

wenn Aufklärung ein Buch ist, welches im Regal verstaubt –
wo ist das Problem?


Hauptkritikpunkte waren, dass […]
Preisfrage: Wo ist das Problem?
Antwort: Ich habe auch keine Ahnung, aber macht nichts, es gibt Walzer!


"He came in and played 'The Times They Are A-Changin'. A beautiful rendition. The guy is so steeped in this stuff that he can just come up with some new arrangement, and the song sounds completely different. Finishes the song, steps off the stage – I'm sitting right in the front row – comes up, shakes my hand, sort of tips his head, gives me just a little grin, and then leaves. And that was it – then he left. That was our only interaction with him. And I thought: That's how you want Bob Dylan, right? You don't want him to be all cheesin' and grinnin' with you. You want him to be a little skeptical about the whole enterprise. So that was a real treat." 
[Obama 
zitiert in: Flashback: Bob Dylan Plays for Obama at the White House, Rolling Stone, 10.09.2013]

In Performance at The White House Bob Dylan [3:37]   Text

Hochgeladen am 02.01.2011
Bob Dylan performs "The Times They Are A-Changin'" in his first performance at the White House.