Die Korrektur von Klausuren, Klassenarbeiten und Tests an einer Sekundarschule kann zu Depressionen führen, wenn man sich als Lehrer einreden lässt, für die Ergebnisse mitverantwortlich zu sein. Im Gegenzug wird man natürlich auch immer wieder mit interessanten Überraschungen belohnt, denn gerade die schwachen Schüler gehen oft sehr kreativ mit ihrem Nichtwissen um. Grob lassen sich falsche Antworten in drei Gruppen einteilen: a) Antworten von Schülern, die wissen, dass sie die Lösungen nicht kennen; b) Antworten von Schülern, die glauben, dass sie die Lösungen wissen; und c) Antworten von Schülern, welche die Antworten möglicherweise kennen, aber den Arbeitsauftrag aus sprachlichen Gründen nicht verstehen beziehungsweise bewältigen können.
Eine Aufgabe wie Erkläre
bitte, warum Städte früher häufig bei Brücken gegründet wurden! lässt sich
folglich auf ganz verschiedene Arten bewältigen. Etwa richtig: Flüsse konnten nur an wenigen Stellen
überquert werden, daher trafen an Brücken viele Menschen aufeinander. Händler
und Kaufleute konnten hier ihre Geschäfte tätigen, die Dienste von Handwerkern
wurden bald gebraucht. So entstanden häufig ganze Städte.
Die Schüler der Gruppe a), die die Lösung nicht wissen,
weil sie nicht gelernt haben, würden die Aufgabe einfach überspringen.
Ein typisches Angebot aus Gruppe b) würde lauten: An der Brücke ist es schön.
Diejenigen, die zur Gruppe c) gehören, könnten folgende
Erklärungen abgeben: Alle trafen sich
hier. Hier war Heirat möglich. Auch Haus mit vielen Sachen. Musstu wissen,
weißdu! Gehst du Brücke, nich nass.
Die originellsten Lösungsvorschläge kommen aber meistens
aus der Gruppe b):
1. Erkläre anhand der amerikanischen Verfassung, was mit Gewaltenteilung
gemeint ist.
Antwort: Gewalt ist nicht gut.
2. Erkläre, warum die Besiedlung des amerikanischen Kontinents für die
Indianer ein Unglück darstellte.
Antwort: Weil sie keine Sachen anhatten.
Da sind sie erfroren.
3. Nenne eine Gruppe von weißen Siedlern, die von der Ostküste an die
Westküste Amerikas zogen.
Antwort: Die Indianer.
4. Ordne die Aussage «Mehr als Gold haben Lettern aus Blei die Welt
verändert» einem konkreten geschichtlichen Ereignis zu, das diese Aussage
erklärt!
Antwort: Mittelalter.
Wenn diese Schüler ahnen, dass sie zwar einen Teil der Antwort kennen, aber nicht die ganze, greifen sie zu phantasievollen und lustigen Tricks, um vielleicht doch noch die volle Ausbeute an Punkten einzuheimsen:
1. Nenne drei Personengruppen, die durch den sozialen Arbeitsschutz
besonders abgesichert werden. Richtig wäre: Mütter, Jugendliche, Behinderte. Für jede Nennung gäbe es einen
Punkt. Einmal schrieb einer meiner Schüler: Mütter,
Väter, Eltern. Ein anderer: Blinde,
Rollstuhlfahrer und Behinderte.
2. Nenne die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft für
Kohle und Stahl. Eine Schülerin versuchte es damit: Die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
und Stahl sind Deutschland, England, Frankreich, Polen, Italien, Schweden,
Schweiz, Holland, Spanien, Portugal, USA, China, Russland und Dänemark. Welche
Länder es genau sind, weiß ich aber nicht. Bitte kreuzen Sie die richtigen für
mich an, Herr Serin!
Regelmäßig projiziere ich, um die Schüler für die
richtigen Lösungen zu sensibilisieren, ihre falschen an die Wand. Anschließend
bitte ich sie, zu diesen die entsprechenden Arbeitsaufträge zu fomulieren. Der
Erfolg stellt sich nicht sofort ein. Lange Zeit kämpfe ich vor allem mit
Niederlagen:
«Wie könnte die Frage zu folgender Antwort lauten: Weil sie keine Sachen anhatten. Da sind sie
erfroren. Ja, Kenneth?»
«Wer ist erfroren?»
«Nein! … Angelina?»
«Warum sind sie erfroren?»
«Nein. Auch nicht. Die Aufgabe lautet: Erkläre, warum die Besiedlung des
amerikanischen Kontinents für die Indianer ein Unglück darstellte! Ich
hoffe, ihr begreift, warum diese Antwort falsch ist.»
Die meisten Schüler sind oft nicht der Meinung, die
Antworten sein falsch, sondern argumentieren, die Arbeitsaufträge seien falsch gestellt.
Ein weiterer Fall: «Die
Indianer. Auf welche Aufgabe könnte das eurer Meinung nach die Antwort
sein? Ja … Roy.»
«Welche Weißen zogen
in Amerika von Ost nach West?»
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es Roys eigene
Antwort gewesen war und dass er sich die dazugehörige Frage gemerkt hatte.
Alternativ dazu verlange ich von meinen Klassen, vor der
Lösung einer Aufgabe diese in eigenen Worten zu erklären. Hat man die
Aufgabenstellung verstanden, kann man immer noch falsch antworten. Ein
Mindestmaß an sprachlicher Kompetenz ist für das inhaltliche Erfassen von
Arbeitsaufträgen allerdings unabdingbar. Gerade an der
Kevin-Prince-Boateng-Sekundarschule haperte es diesbezüglich bei vielen
Jugendlichen mit nichtdeutscher Muttersprache:
«Nuri. Hier steht: Beurteile,
ob die Herrschaft Ludwigs XIV. aus der Sicht eines Bauern gerecht war! Gib
die Aufgabe bitte in eigenen Worten wieder. Sag, was du jetzt zu tun hast!»
«Weiß nisch. Was habisch zu tun?»
«Du sollst dir die Aufgabe durchlesen und mir dann
erklären, was du machen sollst.»
«Die Aufgabe durschlesen.»
«Und?»
«Hab durschgelesen.»
«Und, was sollst du machen?»
«Aufgabe durschlesen.»
«Und was steht drin in der Aufgabe?»
«Beurteile, ob die Herrschaft Ludwig … aus den Bauern
gerecht war!»
«Beurteile, ob die Herrschaft Ludwigs XIV. aus der Sicht
eines Bauern gerecht war.»
« … aus der Sicht eines Bauern.»
«Und jetzt mal in eigenen Worten. Was steht dadrin?»
«Beurteile, ob die Herrschaft Ludwig aus der Sicht … »
«In eigenen Worten sollst du es sagen.»
«Sag isch doch.»
«Du liest nur vor.»
«Kann nisch anders sagen.»
«Los, versuch es! Versuch in eigenen Worten zu sagen, was
in der Aufgabe steht. Mensch, Nuri! Das ist doch nicht so schwer.»
«Urteilen die Herrschaften. Sehen die Bauern Ludwisch
gerescht.»
«Nuri! Was meinst du? Ich versteh nich.»
«Escht!? Herr Serin. Sie verstehen nisch? Krass. Ich
dachte, Sie Lehrer. Isch dachte, nur wir verstehen nisch. Sie verstehn misch
nisch.»
Mir war klar, dass ich vermutlich dem Siebtklässler Nuri
zunächst die Fünf-Schritt- Lesetechnik, die eigentlich zur Erschließung
längerer und komplizierter Texte diente, beibringen müsste, damit er sie auf
den Einzelsatz anwenden konnte:
1. Lies dir den Satz Beurteile, ob die Herrschaft Ludwigs XIV.
aus der Sicht eines Bauern gerecht war! bitte zunächst einmal zügig durch,
um dir einen Überblick zu verschaffen. Zunächst sollst du dir eine grobe
Vorstellung vom Inhalt und Aufbau des Satzes machen.
2. Überlege, welche
Fragen in diesem Satz zum Ausdruck kommen. Zur Übung kannst du die Fragen auf
einen Zettel schreiben.
3. Lies den Satz jetzt
gründlich durch. Denke dabei an die Fragen, auf die dir der Satz Antwort geben
soll. Mache kleine Pausen, damit sich das Gelesene festigen kann.
4. Teile den Satz in
Sinnabschnitte und fasse jeden Sinnabschnitt in eigenen Worten zusammen. Finde
für die einzelnen Sinnabschnitte des Satzes Überschriften.
5. Fasse nun zusammen,
worum es in dem Satz insgesamt geht.
Aber wie soll man das bei zwei Stunden in der Woche
schaffen, ohne die besseren Schüler zu vernachlässigen? Wahrscheinlich hätte
Nuri schon die einzelnen Schritte der Fünf-Schritt-Lesetechnik nicht
verstanden. Aber es war mir nicht möglich, für jeden Schüler, der kaum Deutsch
konnte, einen Dolmetscher mit in den Unterricht zu bringen. Und für welche
Sprache überhaupt, wenn manche Jugendliche nicht einmal ihre Muttersprache
beherrschten? Dennoch: Bei aller Verzweiflung über den oftmals ausbleibenden
Lernfortschritt finde ich es manchmal sogar besser, wenn Jugendliche falsch
antworten. Da weiß ich wenigstens nicht vorher, was mich erwartet. Es gibt
nichts Langweiligeres, als wenn alle Schüler die Lösungen kennen. Dann liest
man nämlich bei der Korrektur von Tests und Klassenarbeiten über zwanzigmal
immer wieder das Gleiche.
November
2010, Kevin-Prince-Boateng-Sekundarschule, Wedding, Geschichte, 10. Klasse
Ich:
Mensch, du könntest wirklich besser sein!
Nadeshda:
Ist aber langweilig.
Ich:
Ja und. Meinste, mit der Einstellung wirst du später jemanden überzeugen, dich
einzustellen?
Nadeshda:
Ich will nicht arbeiten. Ich nehm mir 'nen reichen Mann.
Ich:
So gut siehst du aber auch wieder nicht aus.
aus Stephan Serin, Musstu wissen, weiss’ du, rororo 2012
siehe auch:
- Föhn mich nicht zu (Post, 05.09.2010)