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Von Ursula Frey
Als das junge Mädchen von der Volksschule ins Gymnasium wechselte, bekam sie von der Mutter eine schwarze Aktentasche. Sie war gebraucht, aber doch irgendwie edel. Für eine neue Mappe war kein Geld da, die Familie hatte kaum »die Butter aufs Brot«. Es waren die 1950er-Jahre und keiner fragte, warum die Mappe schwarz sei. Gisela machte sich nur Gedanken darüber, warum Buchstaben in die Tasche geritzt waren. Ein Männername:
»Horst Wagner«.
Heute weiß Gisela Heidenreich: Sie gehörte tatsächlich einem gewissen Horst Wagner, einem der Täter aus dem NS-Regime, der sich nach seiner Arbeit als hoher Beamter im Auswärtigen Amt seiner möglichen Bestrafung durch lange Flucht unter Deckadressen und falschen Namen über Italien bis zeitweilig sogar nach Südamerika entziehen konnte. Was immer in dieser schwarzen Tasche von ihm an Papieren transportiert worden sein mag, sei dahingestellt. Gisela Heidenreich fand jedenfalls heraus, dass Wagner die Lebensliebe ihrer Mutter war und ihr Stiefvater werden wollte. Dazu kam es aber nicht, denn das Paar trennte sich. Kennengelernt hatten sich die beiden Liebenden in Nürnberg im Justizgefängnis nach 1945, als die Verbrechen der Nazis von den Alliierten recherchiert und verhandelt wurden.
Gisela Heidenreich erfuhr nach dem Tod ihrer Mutter zufällig von dieser siebenjährigen Affäre durch einen dicken Stapel Liebesbriefe, den sie im Keller der ehemaligen Wohnung ihrer Mutter beim Ausräumen fand. Da hat sie auf dem hellen Teppich ihres Büros gesessen und wieder geweint – wie so oft im Leben. In diesem kleinen Zimmer mit den friedvollen, grünen Zweigen vor dem Fenster schreibt sie ihre Bücher. Ihr Mann hat sie in den Arm genommen, getröstet, bis sie wieder seelisch festen Boden unter sich spürte. Gisela Heidenreich musste in ihrem Leben viele Wahrheiten hinnehmen, Wahrheiten, die sie nach langer Ungewissheit fand. Nach endlosen Fragen, Recherchen in Archiven, gelesener Literatur vor allen von politisch analysierenden Zeitzeugen der NS-Zeit.
Sie ist belastet – durch ihre Geburt; denn sie ist ein »Lebensborn«-Kind. Das war und ist bisher eines der wichtigsten Themen ihres Lebens. Geradezu ungehalten wird sie, wenn sie darüber Legenden hört, sexuelle Fantasien etwa, dass es Edelbordelle gewesen seien, in denen SS-Offiziere mit ihnen zugeführten »arischen« Frauen blonde, großgewachsene, germanische Kinder mit blauen Augen zeugten. Vermeintliches Wissen, gefüttert durch reißerisch aufgemachte Zeitschriftenartikel. So etwas ist ihr schon als junges Mädchen entgegengehalten worden und hat sie tief verletzt und verunsichert. Aber die historische Wahrheit schmerzt nicht weniger.
Ihre leibliche Mutter, die sie liebevoll Mutti nennt, hat als Verwaltungskraft beim Lebensborn e. V gearbeitet. Der Nazi-Verein war tatsächlich eine SS-Organisation, die Heinrich Himmler gegründet hatte. Sie sollte der Aufrechterhaltung und Förderung der »arischen Rasse« dienen – weniger sensationell, als schon damals hinter vorgehaltener Hand überall geraunt wurde, wenn auch politisch nicht weniger kriminell.
Ihr leiblicherVater wiederum war SS -Standartenführer, erst Kommandant der SS-Junkerschule im bayerischen Bad Tölz, dann Stadtkommandant des französischen Metz. Die beiden hatten sich »im Dienst für die SS« kennengelernt. Geboren ist Gisela Heidenreich in Oslo, in einem der »Lebensborn«-Heime und Geburtsstationen für norwegische Frauen, die von deutschen Soldaten schwanger waren. Die werdenden Mütter bekamen dort genügend Milch und guten Käse, zu Kriegszeiten, wo im einer genug zu essen hatte.
Diese Kinder waren gefragt im sogenannten Dritten Reich – und später gehasst als »Deutschenkinder« in Norwegen. Giselas Mutter hatte sich 1943 dorthin versetzen lassen, möglichst weit weg von zu Hause, eigentlich geflüchtet, als der Bauch immer dicker und die Schande sichtbar wurde.
Es waren so viele Lügen und Halbwahrheiten, die die heute 64-jährige Gisela Heidenreich begleitet haben – ihre Mutter scheute sich, die Wahrheit zu sagen. Sie drehte und wendete die Fakten, hier eine Halbwahrheit, da ein belastendes Schweigen. Erst galt Gisela als das arme norwegische Waisenkind, von der Schwester der Mutter aufgenommen, musste ihre Tante »Mutti« nennen. Lange nachdem sie endlich wusste, wer ihre leibliche Mutter nun wirklich war, beschimpfte sie ganz brutal ein Onkel immer wieder: »Du SS-Bankert«. Ein Wunder, wie das Kind und noch mehr das junge Mädchen dies durchgestanden hat. Immer im Hintergrund die Botschaft an ihre Seele: »Mit dir stimmt etwas nicht, du bist bei uns nicht willkommen.«
Heute ist Gisela Heidenreich Familientherapeutin und hat zwei Bücher über ihre Familie geschrieben: eines über die Spurensuche ihrer verleugneten Herkunft und ihre Beziehung zu Mutter und Vater. Ein zweites über diese erschreckende zweite Liebe ihrer Mutter, die zu Horst Wagner. »Das endlose Jahr« und »Sieben Jahre Ewigkeit« heißen sie.
Eine richtige Familie, das war immer ihr sehnlichster Wunsch. Sie hat sie bekommen, mit Gert Heidenreich und ihren Söhnen. Gert Heidenreich, dem bekannten Schriftsteller und Journalisten, einem ausgewiesenen Kenner des Nationalsozialismus, der schon früh in Zeitungsartikeln und Rundfunkbeiträgen vor den Neonazis gewarnt hat, vor denen, deren rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten laut Bundesinnenministerium seit geraumer Zeit zunehmen, Diese Entwicklung, siehe die jüngsten schrecklichen Vorkommnisse im sächsischen Mügeln, macht jetzt große Sorgen in Berlin.
Gisela Heidenreich und ihr Mann haben eine schon enorme seelische Leistung vollbracht. Achtung ist da geboten. Sie haben die frühere Mitarbeiterin von Lebensborn und den ehemaligen SS-Mann innerlich angenommen, als Eltern bzw. als Schwiegereltern, und sie als Großeltern ihrer Kinder anerkannt. Welche inneren Barrikaden mussten sie dazu überwinden, sie, die beiden, die sich der Mitmenschlichkeit, dem Respekt, der Würde des Menschen und vor allem der Demokratie verschrieben haben. Oder waren sie gerade deshalb zu dieser Güte, Liebe und Toleranz fähig, die dahinter zu suchen sind? Gisela Heidenreichs Mutter konnte viele Jahre mit der Familie ihrer Tochter verbringen. In der hartnäckigen Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter bei den Recherchen zum Buch »Das endlose Jahr« haben beide ihren Frieden gefunden. »Tief innen«, wie sie betont. Die Mutter habe das Buch noch gelesen und sei das erste Mal so richtig stolz auf ihre Tochter gewesen. Wer mit Gisela Heidenreich spricht, spürt, wie wichtig ihr diese späte Anerkennung bis heute ist. »Es ist gut, dass du das aufgeschrieben hast«, sagte die Mutter noch mal in ihren letzten Stunden.
Nazi-Verein zur Förderung und Aufrechtethaltung der »arischen Rasse«: Lebensborn-Heim in Steinhoering 1938
Das Mädchen, das so wenig Mutterliebe als Kind erfahren hat, ist zu einer Frau gereift, die Gefühl ausstrahlt, die Wärme gibt, die anderen vertraut – und der man vertrauen kann. Lügen hasst sie, wer wollte ihr das verdenken? Sie strahlt Ehrlichkeit aus – bis hin zur Selbstverletzung. Doch es ist auch eine Aura um sie, die auf erlebte Gewalt hindeutet, die sie nicht zu verantworten hat: rechte Gewalt. Heute will diese Frau vor allem eines, mit ihrem Beitrag zur Zeitgeschichte gegen Rechtsextremismus und Menschenverachtung ankämpfen. Als ihre Mutter einmal erklärte: »Ich weiß nicht, warum dich der alte Schmarrn so aufregt«, war Gisela Heidenreich fassungslos: »Der alte Schmarrn hat Millionen Menschen das Leben gekostet.« Menschen, die in einem sinnlosen Krieg erschossen wurden, die verhungerten, verbrannten. Die wegen des Rassenwahns aufgehängt, totgeschlagen wurden oder in Gaskammern erstickten. Ermordet, weil sie anders waren, weil sie politisch anders dachten, weil sie Juden, Sozialdemokraten, Homosexuelle oder Kommunisten waren. Oder weil sie einfach nur eine seelische oder geistige Behinderung hatten.
Erst am Ende ihres Lebens hat ihre Mutter sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt; bis dahin war sie sich »keiner Schuld bewusst«. Ihr Vater hat seine politische Haltung lange verteidigt. Vor seinem Tod habe Gisela Heidenreich ihm noch einen umfassenden Brief über seine Rolle im NS-Regime geschrieben. Grundlegende politische Worte mussten jetzt vor dieser letzten Stunde zwischen Vater und Tochter ausgesprochen werden. »Er war vermutlich NPD-Wähler und ich damals SPD-Mitglied.« Auf dem Sterbebett hat er aber ihr zumindest gesagt: »Ich habe für meine Ideale gelebt und nicht bemerkt, dass sie missbraucht wurden. Mach du es besser als ich.«
Immer noch bewegt ist Gisela Heidenreich, als sie erzählt, wie schwer es war, vor ihrer Heirat ihrem Partner zu erzählen, dass ihr Vater SS-Mann gewesen sei – sie hatte Angst vor erneuter Ablehnung. Diesmal glücklicherweise grundlos. Das doppelte Stigma ihrer Herkunft hat sie lange genug belastet. Das des Lebensborn-Kindes und das ihrer Unehelichkeit – in der kleinbürgerlichen katholischen Familie, aus der sie stammt, mindestens ebenso groß. Wie grausam hatte sich ihre Mutter verhalten. Gisela musste manchmal auf der anderen Straßenseite gehen, nie durfte sie ihre Mutter vom Büro abholen – damals in den Nachkriegsjahren, als das bürgerliche Leben ohne jede Zäsur der Aufarbeitung scheinbar wieder »normal« war.
Plötzlich und völlig unerwartet erfuhr Gisela mit fast zwanzig Jahren dennoch elterliche Liebe von dem Mann, der sie gezeugt hatte, dem SS-Standartenführer. Seit sie seinen Namen und seinen SS-Dienstrang erfahren und entdeckt hatte, dass er am Leben war, hatte sie Angst, irgendwann einem Unmenschen zu begegnen. So einer wie die NS-Täter, die vor Bergen an zu Skeletten abgemagerten toten Menschenleibern standen. Den von ihnen ermordeten Sinti, Roma und Juden: ihren Hauptopfern in Auschwitz. So, wie sie deren politische Mörder in historischen Filmaufnahmen über die Befreiung des Vernichtungslagers als junges Mädchen voller Entsetzen gesehen hatte. Das hätte sie ihm alles entgegenschreien wollen – alle ihre Überzeugungen. Doch als sie ihm tatsächlich begegnete, stand sie vor einem Zivilisten, einem hochgewachsenen »freundlichen älteren Herrn, voller Humor«. Gleich nahm er seine Tochter in die Arme. Sie fand das, was sie sich immer sehnlichst gewünscht hatte: einen liebevollen Vater, und konnte und wollte nicht begreifen, dass auch er sich schuldig gemacht hat im Regime der Unmenschen.
Auch das will die politisch hellwache Gisela Heidenreich am Beispiel ihrer Eltern und des Geliebten ihrer Mutter stellvertretend für deren Generation zeigen: »Es waren eben keine Monster, es waren sehr wohl Menschen, ganz normale Mitbürger. Aber die menschenverachtende NS-Ideologie hat ihre Emotionen falsch gelenkt und einen Teil amputiert. So waren die Täter auf der einen Seite liebesfähig und andererseits unfähig, das Leid ihrer Opfer wahrzunehmen. Da gab es für sie kein Mitgefühl.«
Bei Lesungen wird Gisela Heidenreich manchmal vorgehalten, dass sie mit ihrer Mutter zu hart umginge, während der Vater als SS-Mann doch der wahre Täter gewesen sei. Jetzt hat sie Erleichterung gefunden, kann ihre für sie selbst überraschende Liebe zu ihm besser akzeptieren. Bei einer Lesung in München hat ihr, dem »Täterkind«, ein Zuhörer geholfen, ein Therapeut, der als »Opferkind« fast seine ganze Familie im Holocaust verloren hat. Er sagte ihr voller Humanität: »Natürlich haben Sie wie alle Menschen das Recht, Ihre Eltern zu lieben. Die Täter brauchen Sie nicht lieben.« Sie erzählt diese Geschichte mit Tränen in den Augen.
Die Rolle ihrer Mutter im Lebensborn ist ihr einigermaßen klar geworden, auch wenn viele Akten über den Lebensborn bei Kriegsende »gezielt vernichtet wurden«. Ihre Mutter ist »nur« als Zeugin in Nürnberg vernommen worden, war dafür dort lange in einer Einzelzelle inhaftiert gewesen. Sie selber erklärte noch im hohen Alter stoisch, auch am Schluss, als es darum ging, ihr Leben möglichst ehrlich vor sich zu bilanzieren: »Ich war doch nur eine kleine Sekretärin.« Gisela Heidenreich weiß, dass die Mutter doch eine »wichtigere Rolle in der SS-Organisation innehatte«. Sie sei zuständig gewesen für die Adoption norwegischer Lebensborn-Kinder. Fragen über Fragen aber bleiben in der Beziehung zu Horst Wagner, doch Gisela Heidenreich forscht weiter, will wissen, warum ihre Mutter auch nach dem Krieg einen Nazitäter lieben und schützen konnte. Nicht alles lässt sich mehr klären. Weil die Täter schwiegen. Auch Gisela Heidenreich, das biologische, aber nicht politische Kind des Systems, ist ein weiteres Opfer der unmenschlichen Nazi-Ideologie.
Einer der Söhne ist erfolgreicher Schauspieler geworden. Eine Rolle aber lehnt er immer rigoros ab, er, der Nazitäter vertrauensvoll Oma und Opa nannte – eine Rolle, die er, groß, blond und blauäugig, oft angeboten bekommt: die eines SS-Offiziers in Uniform. Die schwarze Uniform, die bei überlebenden Opfern und oft bei ihren Kindern weltweit immer noch Angst und Schrecken auslöst. Ja, die für Menschen vieler Nationen zum schwarzen Ursymbol des politisch Bösen und des daraus rührenden verbrecherischen, gewaltsamen Todes geworden ist. •
»Horst Wagner«.
Heute weiß Gisela Heidenreich: Sie gehörte tatsächlich einem gewissen Horst Wagner, einem der Täter aus dem NS-Regime, der sich nach seiner Arbeit als hoher Beamter im Auswärtigen Amt seiner möglichen Bestrafung durch lange Flucht unter Deckadressen und falschen Namen über Italien bis zeitweilig sogar nach Südamerika entziehen konnte. Was immer in dieser schwarzen Tasche von ihm an Papieren transportiert worden sein mag, sei dahingestellt. Gisela Heidenreich fand jedenfalls heraus, dass Wagner die Lebensliebe ihrer Mutter war und ihr Stiefvater werden wollte. Dazu kam es aber nicht, denn das Paar trennte sich. Kennengelernt hatten sich die beiden Liebenden in Nürnberg im Justizgefängnis nach 1945, als die Verbrechen der Nazis von den Alliierten recherchiert und verhandelt wurden.
Gisela Heidenreich erfuhr nach dem Tod ihrer Mutter zufällig von dieser siebenjährigen Affäre durch einen dicken Stapel Liebesbriefe, den sie im Keller der ehemaligen Wohnung ihrer Mutter beim Ausräumen fand. Da hat sie auf dem hellen Teppich ihres Büros gesessen und wieder geweint – wie so oft im Leben. In diesem kleinen Zimmer mit den friedvollen, grünen Zweigen vor dem Fenster schreibt sie ihre Bücher. Ihr Mann hat sie in den Arm genommen, getröstet, bis sie wieder seelisch festen Boden unter sich spürte. Gisela Heidenreich musste in ihrem Leben viele Wahrheiten hinnehmen, Wahrheiten, die sie nach langer Ungewissheit fand. Nach endlosen Fragen, Recherchen in Archiven, gelesener Literatur vor allen von politisch analysierenden Zeitzeugen der NS-Zeit.
Sie ist belastet – durch ihre Geburt; denn sie ist ein »Lebensborn«-Kind. Das war und ist bisher eines der wichtigsten Themen ihres Lebens. Geradezu ungehalten wird sie, wenn sie darüber Legenden hört, sexuelle Fantasien etwa, dass es Edelbordelle gewesen seien, in denen SS-Offiziere mit ihnen zugeführten »arischen« Frauen blonde, großgewachsene, germanische Kinder mit blauen Augen zeugten. Vermeintliches Wissen, gefüttert durch reißerisch aufgemachte Zeitschriftenartikel. So etwas ist ihr schon als junges Mädchen entgegengehalten worden und hat sie tief verletzt und verunsichert. Aber die historische Wahrheit schmerzt nicht weniger.
Ihre leibliche Mutter, die sie liebevoll Mutti nennt, hat als Verwaltungskraft beim Lebensborn e. V gearbeitet. Der Nazi-Verein war tatsächlich eine SS-Organisation, die Heinrich Himmler gegründet hatte. Sie sollte der Aufrechterhaltung und Förderung der »arischen Rasse« dienen – weniger sensationell, als schon damals hinter vorgehaltener Hand überall geraunt wurde, wenn auch politisch nicht weniger kriminell.
Ihr leiblicherVater wiederum war SS -Standartenführer, erst Kommandant der SS-Junkerschule im bayerischen Bad Tölz, dann Stadtkommandant des französischen Metz. Die beiden hatten sich »im Dienst für die SS« kennengelernt. Geboren ist Gisela Heidenreich in Oslo, in einem der »Lebensborn«-Heime und Geburtsstationen für norwegische Frauen, die von deutschen Soldaten schwanger waren. Die werdenden Mütter bekamen dort genügend Milch und guten Käse, zu Kriegszeiten, wo im einer genug zu essen hatte.
Diese Kinder waren gefragt im sogenannten Dritten Reich – und später gehasst als »Deutschenkinder« in Norwegen. Giselas Mutter hatte sich 1943 dorthin versetzen lassen, möglichst weit weg von zu Hause, eigentlich geflüchtet, als der Bauch immer dicker und die Schande sichtbar wurde.
Es waren so viele Lügen und Halbwahrheiten, die die heute 64-jährige Gisela Heidenreich begleitet haben – ihre Mutter scheute sich, die Wahrheit zu sagen. Sie drehte und wendete die Fakten, hier eine Halbwahrheit, da ein belastendes Schweigen. Erst galt Gisela als das arme norwegische Waisenkind, von der Schwester der Mutter aufgenommen, musste ihre Tante »Mutti« nennen. Lange nachdem sie endlich wusste, wer ihre leibliche Mutter nun wirklich war, beschimpfte sie ganz brutal ein Onkel immer wieder: »Du SS-Bankert«. Ein Wunder, wie das Kind und noch mehr das junge Mädchen dies durchgestanden hat. Immer im Hintergrund die Botschaft an ihre Seele: »Mit dir stimmt etwas nicht, du bist bei uns nicht willkommen.«
Heute ist Gisela Heidenreich Familientherapeutin und hat zwei Bücher über ihre Familie geschrieben: eines über die Spurensuche ihrer verleugneten Herkunft und ihre Beziehung zu Mutter und Vater. Ein zweites über diese erschreckende zweite Liebe ihrer Mutter, die zu Horst Wagner. »Das endlose Jahr« und »Sieben Jahre Ewigkeit« heißen sie.
Eine richtige Familie, das war immer ihr sehnlichster Wunsch. Sie hat sie bekommen, mit Gert Heidenreich und ihren Söhnen. Gert Heidenreich, dem bekannten Schriftsteller und Journalisten, einem ausgewiesenen Kenner des Nationalsozialismus, der schon früh in Zeitungsartikeln und Rundfunkbeiträgen vor den Neonazis gewarnt hat, vor denen, deren rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten laut Bundesinnenministerium seit geraumer Zeit zunehmen, Diese Entwicklung, siehe die jüngsten schrecklichen Vorkommnisse im sächsischen Mügeln, macht jetzt große Sorgen in Berlin.
Gisela Heidenreich und ihr Mann haben eine schon enorme seelische Leistung vollbracht. Achtung ist da geboten. Sie haben die frühere Mitarbeiterin von Lebensborn und den ehemaligen SS-Mann innerlich angenommen, als Eltern bzw. als Schwiegereltern, und sie als Großeltern ihrer Kinder anerkannt. Welche inneren Barrikaden mussten sie dazu überwinden, sie, die beiden, die sich der Mitmenschlichkeit, dem Respekt, der Würde des Menschen und vor allem der Demokratie verschrieben haben. Oder waren sie gerade deshalb zu dieser Güte, Liebe und Toleranz fähig, die dahinter zu suchen sind? Gisela Heidenreichs Mutter konnte viele Jahre mit der Familie ihrer Tochter verbringen. In der hartnäckigen Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter bei den Recherchen zum Buch »Das endlose Jahr« haben beide ihren Frieden gefunden. »Tief innen«, wie sie betont. Die Mutter habe das Buch noch gelesen und sei das erste Mal so richtig stolz auf ihre Tochter gewesen. Wer mit Gisela Heidenreich spricht, spürt, wie wichtig ihr diese späte Anerkennung bis heute ist. »Es ist gut, dass du das aufgeschrieben hast«, sagte die Mutter noch mal in ihren letzten Stunden.
Nazi-Verein zur Förderung und Aufrechtethaltung der »arischen Rasse«: Lebensborn-Heim in Steinhoering 1938
Das Mädchen, das so wenig Mutterliebe als Kind erfahren hat, ist zu einer Frau gereift, die Gefühl ausstrahlt, die Wärme gibt, die anderen vertraut – und der man vertrauen kann. Lügen hasst sie, wer wollte ihr das verdenken? Sie strahlt Ehrlichkeit aus – bis hin zur Selbstverletzung. Doch es ist auch eine Aura um sie, die auf erlebte Gewalt hindeutet, die sie nicht zu verantworten hat: rechte Gewalt. Heute will diese Frau vor allem eines, mit ihrem Beitrag zur Zeitgeschichte gegen Rechtsextremismus und Menschenverachtung ankämpfen. Als ihre Mutter einmal erklärte: »Ich weiß nicht, warum dich der alte Schmarrn so aufregt«, war Gisela Heidenreich fassungslos: »Der alte Schmarrn hat Millionen Menschen das Leben gekostet.« Menschen, die in einem sinnlosen Krieg erschossen wurden, die verhungerten, verbrannten. Die wegen des Rassenwahns aufgehängt, totgeschlagen wurden oder in Gaskammern erstickten. Ermordet, weil sie anders waren, weil sie politisch anders dachten, weil sie Juden, Sozialdemokraten, Homosexuelle oder Kommunisten waren. Oder weil sie einfach nur eine seelische oder geistige Behinderung hatten.
Erst am Ende ihres Lebens hat ihre Mutter sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt; bis dahin war sie sich »keiner Schuld bewusst«. Ihr Vater hat seine politische Haltung lange verteidigt. Vor seinem Tod habe Gisela Heidenreich ihm noch einen umfassenden Brief über seine Rolle im NS-Regime geschrieben. Grundlegende politische Worte mussten jetzt vor dieser letzten Stunde zwischen Vater und Tochter ausgesprochen werden. »Er war vermutlich NPD-Wähler und ich damals SPD-Mitglied.« Auf dem Sterbebett hat er aber ihr zumindest gesagt: »Ich habe für meine Ideale gelebt und nicht bemerkt, dass sie missbraucht wurden. Mach du es besser als ich.«
Immer noch bewegt ist Gisela Heidenreich, als sie erzählt, wie schwer es war, vor ihrer Heirat ihrem Partner zu erzählen, dass ihr Vater SS-Mann gewesen sei – sie hatte Angst vor erneuter Ablehnung. Diesmal glücklicherweise grundlos. Das doppelte Stigma ihrer Herkunft hat sie lange genug belastet. Das des Lebensborn-Kindes und das ihrer Unehelichkeit – in der kleinbürgerlichen katholischen Familie, aus der sie stammt, mindestens ebenso groß. Wie grausam hatte sich ihre Mutter verhalten. Gisela musste manchmal auf der anderen Straßenseite gehen, nie durfte sie ihre Mutter vom Büro abholen – damals in den Nachkriegsjahren, als das bürgerliche Leben ohne jede Zäsur der Aufarbeitung scheinbar wieder »normal« war.
Plötzlich und völlig unerwartet erfuhr Gisela mit fast zwanzig Jahren dennoch elterliche Liebe von dem Mann, der sie gezeugt hatte, dem SS-Standartenführer. Seit sie seinen Namen und seinen SS-Dienstrang erfahren und entdeckt hatte, dass er am Leben war, hatte sie Angst, irgendwann einem Unmenschen zu begegnen. So einer wie die NS-Täter, die vor Bergen an zu Skeletten abgemagerten toten Menschenleibern standen. Den von ihnen ermordeten Sinti, Roma und Juden: ihren Hauptopfern in Auschwitz. So, wie sie deren politische Mörder in historischen Filmaufnahmen über die Befreiung des Vernichtungslagers als junges Mädchen voller Entsetzen gesehen hatte. Das hätte sie ihm alles entgegenschreien wollen – alle ihre Überzeugungen. Doch als sie ihm tatsächlich begegnete, stand sie vor einem Zivilisten, einem hochgewachsenen »freundlichen älteren Herrn, voller Humor«. Gleich nahm er seine Tochter in die Arme. Sie fand das, was sie sich immer sehnlichst gewünscht hatte: einen liebevollen Vater, und konnte und wollte nicht begreifen, dass auch er sich schuldig gemacht hat im Regime der Unmenschen.
Auch das will die politisch hellwache Gisela Heidenreich am Beispiel ihrer Eltern und des Geliebten ihrer Mutter stellvertretend für deren Generation zeigen: »Es waren eben keine Monster, es waren sehr wohl Menschen, ganz normale Mitbürger. Aber die menschenverachtende NS-Ideologie hat ihre Emotionen falsch gelenkt und einen Teil amputiert. So waren die Täter auf der einen Seite liebesfähig und andererseits unfähig, das Leid ihrer Opfer wahrzunehmen. Da gab es für sie kein Mitgefühl.«
Bei Lesungen wird Gisela Heidenreich manchmal vorgehalten, dass sie mit ihrer Mutter zu hart umginge, während der Vater als SS-Mann doch der wahre Täter gewesen sei. Jetzt hat sie Erleichterung gefunden, kann ihre für sie selbst überraschende Liebe zu ihm besser akzeptieren. Bei einer Lesung in München hat ihr, dem »Täterkind«, ein Zuhörer geholfen, ein Therapeut, der als »Opferkind« fast seine ganze Familie im Holocaust verloren hat. Er sagte ihr voller Humanität: »Natürlich haben Sie wie alle Menschen das Recht, Ihre Eltern zu lieben. Die Täter brauchen Sie nicht lieben.« Sie erzählt diese Geschichte mit Tränen in den Augen.
Die Rolle ihrer Mutter im Lebensborn ist ihr einigermaßen klar geworden, auch wenn viele Akten über den Lebensborn bei Kriegsende »gezielt vernichtet wurden«. Ihre Mutter ist »nur« als Zeugin in Nürnberg vernommen worden, war dafür dort lange in einer Einzelzelle inhaftiert gewesen. Sie selber erklärte noch im hohen Alter stoisch, auch am Schluss, als es darum ging, ihr Leben möglichst ehrlich vor sich zu bilanzieren: »Ich war doch nur eine kleine Sekretärin.« Gisela Heidenreich weiß, dass die Mutter doch eine »wichtigere Rolle in der SS-Organisation innehatte«. Sie sei zuständig gewesen für die Adoption norwegischer Lebensborn-Kinder. Fragen über Fragen aber bleiben in der Beziehung zu Horst Wagner, doch Gisela Heidenreich forscht weiter, will wissen, warum ihre Mutter auch nach dem Krieg einen Nazitäter lieben und schützen konnte. Nicht alles lässt sich mehr klären. Weil die Täter schwiegen. Auch Gisela Heidenreich, das biologische, aber nicht politische Kind des Systems, ist ein weiteres Opfer der unmenschlichen Nazi-Ideologie.
Einer der Söhne ist erfolgreicher Schauspieler geworden. Eine Rolle aber lehnt er immer rigoros ab, er, der Nazitäter vertrauensvoll Oma und Opa nannte – eine Rolle, die er, groß, blond und blauäugig, oft angeboten bekommt: die eines SS-Offiziers in Uniform. Die schwarze Uniform, die bei überlebenden Opfern und oft bei ihren Kindern weltweit immer noch Angst und Schrecken auslöst. Ja, die für Menschen vieler Nationen zum schwarzen Ursymbol des politisch Bösen und des daraus rührenden verbrecherischen, gewaltsamen Todes geworden ist. •
Gisela Heidenreich: Das endlose Jahr. Die langsame Entdeckung der eigenen Biographie – ein Lebensborn-Schicksal, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004, 320 Seiten, 8,90 EUR; Gisela Heidenreich: Sieben Jahre Ewigkeit. Eine deutsche Liebe, Droemer Verlag, München 2007,431 Seiten, 19,90 EUR
aus Publik-Forum 17/2007