Samstag, 9. Mai 2020

Hypnosetag 100: Mit Corona zahlen wir den Preis für eine Milchmädchenrechnung

WELT INTERVIEW: Westfleisch - Pfarrer protestiert gegen "moderne Sklaverei" {2:19}

WELT Nachrichtensender
Am 09.05.2020 veröffentlicht 
Der katholische Sozialpfarrer und Menschenrechtler Peter Kossen hat am Samstag mit einer angemeldeten "Ein-Mann-Demo" gegen die Arbeitsbedingungen in Fleischfabriken und Schlachthöfen demonstriert. Fast drei Stunden lang stand er mit Schildern wie "Moderne Sklaverei beenden" vor dem Werkstor von "Westfleisch" im westfälischen Coesfeld. Der Schlachtbetrieb war am Freitag geschlossen worden, nachdem mehr als 100 Beschäftigte positiv auf das Coronavirus getestet worden waren.
"Das kann nur ein Anfang sein", sagte Kossen der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA): "Die Reißleine musste gezogen werden, weil offensichtlich wurde, dass man sich auf die Zusagen der Betriebe nicht verlassen kann." Das betreffe nicht nur "Westfleisch", sondern auch viele andere Fleischfabriken. Er hoffe, dass Niedersachsen jetzt "nachzieht" und auch die dortigen Schlachthöfe und Betriebe "stärker kontrolliert und gegebenenfalls schließt".
"Ein Systemwechsel ist dringend notwendig", ergänzte der Theologe. Unter anderem müsse die Corona-Vorschrift "Ein Mensch - ein Raum" auch in der Fleischindustrie durchgesetzt werden. Momentan aber seien Massenunterkünfte für die meist ausländischen Arbeiter der Regelfall, in denen zum Teil auch sehr schlechte hygienische Bedingungen herrschten. Außerdem würden die meisten "in vollgestopften Bussen zur Arbeit gekarrt", was das Infektionsrisiko weiter erhöhe.
Saisonarbeiter in Fleischindustrie und Landwirtschaft stünden dem Virus oft wehrlos gegenüber, so Kossen weiter. Ihre Lebensbedingungen müssten grundsätzlich verbessert werden. Weitere Infektionen seien sehr wahrscheinlich. Die Behörden müssten den Betrieben "endlich auf die Füße treten", damit diese für menschenwürdige Arbeitsbedingungen sorgen. Zum Beispiel müssten sie freie Hotelkapazitäten und andere Alternativen für eine bessere Unterbringung nutzen.
Kontrolliert werden, so der Sozialpfarrer, müsse auch, ob die Arbeitskräfte nach der Schließung der Werke weiter wie vorgeschrieben bezahlt würden. Diese seien oft bei Fremdfirmen und Subunternehmen angestellt und damit in einer "Grauzone" beschäftigt, die man sich gerade in dieser Zeit genau anschauen müsse, so Kossen: "Wenn die Politik das will, kann sie das kontrollieren und regeln."
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siehe auch:
- Žižek, Macron und Ulrich über die Konsequenzen von Corona (Post, 23.03.2020)

Fundgrube – Theo Sommer: Eine Demokratie von Duckmäusern?



Verfassungstreue und Gesinnungsschnüffelei

Bildet sich unser liberaler Rechtsstaat allmählich zum schnüffelnden, überall Unheil und Bedrohung witternden Obrigkeitsstaat zurück? Entwickelt sich in der Bundesrepublik ein neuer Metternich-Geist, diesmal auf die Radikalenbeschlüsse von Bund und Ländern gestützt wie vor 125 Jahren auf die Karlsbader Beschlüsse, aber ebenso komplett mit Kommissionen gegen staatsgefährliche Umtriebe, politischer Überwachung der Hochschulen und staatlich geförderter Duckmäuserei? Ist gar ein westdeutscher McCarthyismus im Entstehen?

Neuerdings ist es nicht nur die Linke im Lande, die derlei Fragen stellt, auch nicht bloß die liberale Mitte. Selbst gestandene Konservative machen sich inzwischen Gedanken über eine Staatspraxis, deren theoretische Fundierung ganz erleuchtend wirkt, deren bürokratischer Vollzug jedoch zu schwersten Bedenken Anlaß gibt. Etwa in Baden-Württemberg, wo inzwischen Hochschullehrer aller neun Universitäten, in einigen Fällen sogar deren Senate, ganz offiziell vor der gegenwärtigen Handhabung des Erlasses über die Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst gewarnt haben. "Es sollte eine bittere historische Erfahrung gerade in Deutschland gelehrt haben", hieß es in der von Konstanz ausgehenden Erklärung der Hundert, "daß die Bedrohung einer verfassungsmäßigen demokratischen Grundordnung auch von staatlichen Bürokratien ausgehen kann."

Die protestierenden Professoren bestreiten dem Staat nicht das Recht, ja die Pflicht, alle Leute, die sich nicht auf den Boden des Grundgesetzes stellen, dem öffentlichen Dienst fernzuhalten oder aus ihm zu entfernen. Aber sie sehen mit Besorgnis, wie die Praxis der Überwachung, Ausforschung und Beurteilung sich zu einer Art von Gesinnungs-TÜV zu verdichten droht, der zum Schutze des demokratischen Staates die demokratischen Grundrechte und Basisnormen aushöhlt, ein Klima der Angst schafft und bürgerliche Duckmäuserei züchtet.

Mag sein, daß niemand dies will. Aber wenn es nicht ungewollt dahin kommen soll, ist es höchste Zeit, die Gefahren zu erkennen, die unserer Demokratie von denen drohen, die sie mit obrigkeitlichem Perfektionismus schützen wollen, und die Schnüffelei auf das absolut notwendige Mindestmaß zu’beschränken. Am Beispiel Baden-Württembergs, dessen Landesregierung den Radikalen mit außergewöhnlicher Konsequenz nachstellt (und ja auch im Bundesrat einen eigenen, besonders scharfen Gesetzentwurf eingebracht hat), lassen sich diese Gefahren am leichtesten verdeutlichen.


mehr:
- Eine Demokratie von Duckmäusern? (Theo Sommer, Zeit, 13.06.1975 – Registrierung erforderlich)

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Radikalenerlass (im Original: Radikalenerlaß) ist ein politischer Kampfbegriff für den auch kurz Extremistenbeschluss genannten Beschluss der Regierungen des Bundes und der Länder zur Überprüfung von Bewerbern für den Öffentlichen Dienst auf deren Verfassungstreue vom 18. Februar 1972. Dieser wurde auch fälschlich mit Berufsverboten gleichgesetzt.[1]
Dieser hatte zum Ziel, die Beschäftigung sog. Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst zu verhindern.[2] Instrument war eine bundesweit einheitliche Auslegung und Anwendung des damals geltenden § 35 BRRG,[3] wonach sich Beamte durch ihr gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen und für deren Erhalt einzutreten hatten. Jeder Einzelfall musste für sich geprüft und entschieden werden. Dies hatte zur Folge, dass vor der Einstellung, aber auch zur Überprüfung bestehender Dienstverhältnisse eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz durchgeführt wurde. Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelte, wurde nicht eingestellt bzw. konnte aus dem Dienst entfernt werden. Für Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst galten entsprechend den jeweiligen tarifvertraglichen Bestimmungen dieselben Grundsätze.[Radikalenerlass, Wikipedia, abgerufen am 09.05.2020]
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siehe auch:
- Quellen im Fokus II: Der „Schiess-Erlass“ in Baden-Württemberg (1973) (Der Radikalenerlass in Baden-Württemberg, Historisches Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Admin, 12.04.2019)
- Vergessene Geschichte – Berufsverbote – Politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland (Niedersächsische Initiative gegen Berufsverbote, undatiert)
- Ausstellung: „Vergessene“ Geschichte (berufsverbote.de, 03.02.2017)
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