Sonntag, 20. Januar 2019

„Serotonin“: Michel Houellebecq hält einer erkrankten Gesellschaft den Spiegel vor

Michel Houellebecq hält in „Serotonin“ einer erkrankten Gesellschaft den Spiegel vor und nimmt dafür in Kauf, zum Vorzeigeautor der Neuen Rechten zu werden. Zu Unrecht?

Der Fehler, den nicht wenige Leser und Kritiker mit den Romanen Michel Houellebecqs machen, besteht weniger in der Identifikation von Autor und Erzähler, sondern vielmehr in einem unsicheren Umgang mit der in den Texten sowie in öffentlichen Äußerungen zur Schau gestellten affirmativen Haltung angesichts der kontroversen Themen, die dort zu lesen sind. Da ist schnell die Rede vom ‚Provokateur‘, mal als Vorwurf, mal als Lob. Ein Intellektueller, der die emotional diskutierten Themen unserer Zeit anpackt und sie zum Romanstoff verarbeitet.

Houellebecq ist ein Autor, der sich nicht der publikumswirksamen Identifikation mit seinen Ich-Erzählern verweigert; einer, der erst gar nicht versucht, mit dem steten Verweis auf die Fiktionalität eines Textes diesen als Rollenprosa zu deklarieren, sondern der mit seinem zwiespältigen Auftreten die Diskussionen um den autobiographischen Gehalt jener Texte zusätzlich anheizt. Dies bezieht sich zum einen auf den überbordenden Sexualdrang seiner Protagonisten, aber in letzter Zeit verstärkt auch auf deren nationalkonservatives Weltbild. Wenn man dazu noch vor Erscheinen seiner Romane mit Aufsehen erregenden Interviews von sich reden macht – der Islam sei die „bescheuertste Religion“ von allen (vor Unterwerfung) und jetzt mit einer ideologischen Sympathiebekundung hinsichtlich Donald Trump –, ist der Ruf als ‚Skandalautor‘ irgendwann fest zementiert. Erstaunlicherweise erntet Houellebecq dafür viel Zuspruch, sowohl von Lesern, die sich mit den Protagonisten und ihrem misogynen, homophoben und xenophoben Weltbild identifizieren können, wie auch von denen, die darin nur eine Maske sehen, welche die emotionalen Defizite eines westlichen Durchschnittsmanns verstecken soll, was letztlich scheitert, weil sie gerade aufgrund dieses halbherzigen Maskierungsversuchs erst recht exponiert werden.

mehr:
- Zwischen Hass und Nostalgie (Sascha Seiler, Literaturkritik.de, 20.01.2019)
siehe auch:
- Rezensionsnotizen (Perlentaucher)
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Soziale Menschenrechte: „Haben wir leider nicht geschafft“

Das Recht auf Arbeit, auf Bildung, das Recht auf Wohnung, und das Recht auf soziale Sicherheit und Gesundheit: Das sind einige der sozialen Menschenrechte, die seit 1966 Teil des UN-Sozialpakts [Link von mir hinzugefügt] und damit völkerrechtlich verbindlich sind. Doch wie ist es um diese Rechte in Deutschland bestellt? Eberhard Schultz, Menschenrechtsanwalt und Gründer der Eberhard-Schultz-Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation, betont im NachDenkSeiten-Interview, dass die sozialen Menschenrechte „keineswegs Menschenrechte zweiter Klasse“ sind, aber in Deutschland nur „höchst unvollkommen“ über das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetzt verankert sind. Ein Interview über die Bedeutung der sozialen Menschenrechte und die Weigerung der Bundesregierung, ein wichtiges Protokoll zum UN-Sozialpakt zu unterzeichnen.

Herr Schultz, seit langem weigert sich die Bundesregierung ein Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt zu unterzeichnen. Worum geht es?
Die in der UN-Menschenrechtscharta (AEMR) verkündeten sozialen Menschenrechte sind seit der Verabschiedung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) von 1966 völkerrechtlich verbindlich und keineswegs Menschenrechte „zweiter Klasse“, wie sie oft noch verstanden werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat den UN-Sozialpakt im Jahre 1973 ratifiziert und sich zu den damit einhergehenden Staatenpflichten bekannt. Bisher steht eine Unterzeichnung des Zusatzprotokolls von 2008 jedoch aus. Dies muss so bald wie möglich geschehen, zumindest ein verbindlicher Fahrplan erstellt werden.

Was bedeutet die Ratifizierung denn?
Mit ihr könnten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte („wsk“-Rechte) eingeklagt und ihre Verletzung von Individuen und Organisationen nach Erschöpfung des nationalen Rechtsweges auch vor dem UN-Ausschuss für „wsk“-Rechte geltend gemacht werden.

Offenbar fürchtet die Bundesregierung die daraus resultierenden möglichen Folgen.

Was sind das für Folgen?
Wir hören immer wieder von eventuellen immensen Kosten, zum Beispiel durch eine Anerkennung des Streikrechts für Beamte – obwohl das doch eigentlich selbstverständlich sein sollte und auch inzwischen durch den Europäischen Gerichtshof schon zum Teil anerkannt ist. Außerdem wird wohl eine große Zahl von Verurteilungen der Bundesregierung durch den UN-Ausschuss befürchtet, weil dann ja auch Individuen und Organisationen wegen der Verletzung dieser Rechte nach Erschöpfung des Rechtsweges in Deutschland eine Beschwerde beim UN-Ausschuss für wsk-Rechte gegen die Bundesrepublik erheben könnten.

mehr:
- Soziale Menschenrechte: „Haben wir leider nicht geschafft“ (Marcus Klöckner interviewt Eberhard Schultz, NachDenkSeiten, 20.01.2019)