Die Speise, die wir täglich essen,
wird Farbe, wenn der Kopf vergessen.
Samstag, 1. Dezember 2012
Wer bringt das Pferd zum Fliegen
Les Ponts de la Seine, 1954 |
Maler der Träume, Zauberer der Farben und der Phantasie, Poet mit Pinsel und Palette. Kaum ein Künstler ist ein solcher Begleiter durch den Advent wie Marc Chagall (geb. 1887 in Witebsk/Weißrussland, gest. 1985 in Saint-Paul-de-Vence/Frankreich). Seine Bilder geben einer der schönsten Zeiten des Jahres eine ganz eigene Farbe.
Die unvergleichliche Faszination entsteht dabei aus der Begegnung eines Malers der klassischen Moderne mit einem uralten Buch. Chagall entdeckt die Botschaft der Bibel buchstäblich als verdichtetes Leben. Sie ist ihm ebenso sehr Theo-Poesie wie Theo-Logie. Randvoll mit Geschichten erzählt sie von dem, was Menschen mit sich selbst erlebten und erlitten, mit ihresgleichen, wie sie Gott und die Welt erfuhren und sich stetig zu erneuern versuchten. Für Chagall geschehen diese Geschichten nicht neben unserem Leben oder in einer anderen, längst vergangenen Welt. Sie sind unser Leben. Dabei wendet sich der Künstler erst 1930, in der Lebensmitte also, ausdrücklich biblischen Motiven zu. Aber das alte Lebensbuch ist schon vorher das Land seiner Seele. Er leiht seine Requisiten aus der biblischen Bilderwelt, die er, Märchen- und Traumbildern gleich, in verblüffend neue und andere Zusammenhänge stellt. Und Träumen nicht unähnlich, verwickelt Chagall seine Betrachter damit in ein Gespräch über ihr eigenes Leben.
Mit Marc Chagall durch den Advent zu gehen, bedeutet mit bisweilen unerwarteten Bildern in dieses Gespräch einzutreten. Das birgt Überraschungen. Aber geistreicher wird man Gott kaum erfahren können als in der Sprache, die er jeder und jedem von uns unmittelbar ins Herz gelegt hat: der Sprache der Bilder, der Träume und der Poesie. Das ist ein anderer Advent. Ich wünsche Ihnen aber, dass es für Sie ein besonderer Advent wird. Ganz im Sinne dessen, was der junge Chagall einmal über seine Berufswahl notierte: „Ich musste einen besonderen Beruf finden. Eine Beschäftigung, die mich nicht zwingen würde, mich vom Himmel und den Sternen abzuwenden, und die mir erlauben würde, meinen Sinn des Lebens zu finden. Ja, genau das suchte ich …”
Ulrich Peters
Wir sollen unser Leben,
solange es dauert,
mit unseren Farben der
Liebe und Hoffnung ausmalen.
Marc Chagall
Ausschnitt aus Marc Chagalls Bild "Selbstbildnis mit sieben Fingern", 1913/14 |
Marc Chagall |
Seit meiner frühesten Jugend hat mich schon die Bibel in ihren Bann gezogen. Die Bibel schien mir — und scheint mir noch heute – die reichste poetische Quelle aller Zeiten zu sein. Seitdem habe ich ihren Widerschein im Leben und in der Kunst gesucht. Die Bibel ist wie ein Nachklang der Natur, und ich habe danach gestrebt, dieses Geheimnis weiterzugeben … In meiner Vorstellung versinnbildlichen die Gemälde nicht nur den Traum eines einzigen Volkes, sondern auch denjenigen der Menschheit.
Marc Chagall, 1967
Marc Chagall wurde am 7. Juli 1887 in der weißrussischen Stadt Witebsk geboren, als erstes von neun Kindern. Nach der Schulzeit beginnt der Malunterricht, zuerst in Witebsk, dann in St. Petersburg. Die Jahre 1910 bis 1914 in Paris werden für ihn zur Chance seines Lebens: das Erlebnis von Freiheit und Lieht, die Museen mit ihrer Bilderfülle und die Auseinandersetzung mit der Pariser Kunstszene führen ihn zur Findung eines eigenen Stils. – In den Pariser Jahren entstanden die Bilder: „Der Geiger”, 1912/13 (15.12.), „Mutterschaft”, 1912/13 (22./23.12.), und „Selbstbildnis mit sieben Fingern”, 1913/14 (11/14.12.).
1914 reist Chagall über Berlin, wo er in der Galerie „Der Sturm” seine erste große Einzelausstellung hat, nach Russland und wird dort vom Ersten Weltkrieg überrascht. 1915 heiratet er seine Jugendfreundin Bella Rosenfeld. Nach der Oktoberrevolution von 1917 beteiligt er sich als Kulturbeauftragter für den Bezirk Witebsk am Aufbau der „neuen Zeit”. 1920 geht er nach Moskau und beginnt 1921 mit der Niederschrift seiner Autobiographie „Mein Leben”. – In diesen Jahren entstanden die Bilder: „Der Stall”, 1917 (6./7.12.) und „Die Erscheinung”, 1917/18 (8./9.12.).
1922 verlässt Chagall endgültig Russland und kehrt nach Paris zurück. Es folgen glückliche und erfolgreiche Jahre (große Ausstellungen 1924 in Paris, 1926 in New York, 1933 in Basel; Auslandsreisen, u.a. 1931 nach Palästina, um die Radierungen zur „Bibel” vorzubereiten), die jedoch zunehmend überschattet sind durch das Erstarken der totalitären Regime und die Judenverfolgungen. – Bilder aus dieser Zeit: „Die Einsamkeit”, 1933 (3.12.) und „Der Engel mit der Palette”, 1927-1936 (11./12.12.).
Als die deutschen Truppen 1941 Frankreich besetzen, emigriert er mit seiner Frau Bella in die USA. Sie verfasst dort ihre beiden Erinnerungshände „Brennende Lichter” und „Erste Begegnung” und stirbt im September 1944. Während seines Aufenthalts in den USA (1941-47) entstanden: „Der Jongleur”, 1943 (28/29.12.), „Das Blaue Konzert”, 1945 (16./17.12.) und „Um sie herum”, 1945 (21.12.).
1947 kehrt Chagall nach Paris zurück, lässt sich 1950 in Südfrankreich nieder und heiratet 1952 Valentina (Vase) Brodsky. Eine ungeheure Schaffensdichte zeichnet die folgenden Jahrzehnte aus: Ölbilder, Aquarelle, Radierungen, Lithographien, Zeichnungen, Glasfenster, Skulpturen, keramische Arbeiten, Decken- und Wandgemälde, Theaterdekorationen und Gobelins. 1973, bald nach seinem 85. Geburtstag, erlebt er die Einweihung des seinen Werken zur Bibel gewidmeten „Musee National Message Biblique Marc Chagall” in Nizza. – In diesen Jahren entstanden: „Die Erscheinung der Künstlerfamilie”, 1947 (19./20.12.), „Grüne Landschaft”, 1949 (4/5.12), „Die Seinebrücken”, 1954 (1. Umschlagseite und 24.12.), „Das Hohelied IV”, 1950 (1./2.12.), „Jakobs Traum”, 1960-66 (10.12.), „Das Ereignis”, 1978 (25./26.12) „Die große Parade”, 1979/80 (30./31.12.) und „Dem anderen Licht entgegen”, 1985 (1.1.). Chagell stirbt am 28. März 1985 in Saint-Paul-de-Vence.
Le Cantique des Cantiques IV, 1958 |
Im alten Indien verurteilte ein König. einen Mann zum Tode. Der Mann bat den König, das Urteil aufzuheben und fügte hinzu:
„Wenn der König gnädig ist und mein Leben schont, werde ich seinem Pferd innerhalb eines Jahres das Fliegen beibringen.”
„Es sei”, sagte der König, „aber wenn das Pferd in dieser Zeit nicht fliegen lernt, wirst du dein Leben verlieren.”
Als seine Familie voll Sorge den Mann später fragte, wie er sein Versprechen einlösen wolle, sagte er:
„Im Lauf eines Jahres kann der König sterben. Oder das Pferd kann sterben, oder es kann fliegen lernen. Wer weiß das schon?”
Anthony de Mello
Alles wird gut. Die Nacht leuchtet wie der Tag. Fremde entdecken sich als Freunde. Sie gehen geschwisterlich und gerecht miteinander um. Die Liebe setzt sich durch als trei-bende Kraft des Lebens. — Der Advent ist eine Zeit großer Visionen und Versprechen, die seit alters mit ihm und den Vorstellungen davon verbunden sind, wie Gott zur Welt kommen wird. Sind diese Träume Schäume, fast zu schön, um wahr zu sein? Sind diese Versprechungen wider den Augenschein wirklich einzulösen? Ebenso gut könnte man darauf hoffen, dass ein Pferd zu fliegen lernt
Dass das Pferd fliegt, ist für Marc Chagall überhaupt keine Frage. Im freien Flug trägt es ein Liebespaar über die Stadt Jerusalem und eine jubelnde Menschenmenge in den roten Himmel hinein, in dessen Hintergrund sanfte goldgelbe Farbflächen glimmen. Aus dieser Sphäre kommt auch das Licht des Bildes, nicht etwa von der Sonne. Der Himmel spannt sich wie ein Vorhang vor dieses hintergründige Leuchten. Von ihm schließlich stammt auch die rote und gelbe Farbgebung der Flügel des Pferdes, das seine Kraft offenbar aus beiden Sphären schöpft — der Welt vor und hinter dem Vorhang. Es ist das Bild von der vitalen Kraft der Liebe. Sie bringt das Pferd zum Fliegen. Sie macht die Liebenden zu einem Königspaar, voller Würde und ausgestattet mit den unbegrenzten Möglichkeiten und der Macht von Monarchen. Die Energie der Liebe ergreift und durchglüht den gesamten Lebensraum, Himmel und Erde, Engel und Menschen, Pflanzen und Tiere, die vor dem großen Himmelsvorhang agieren. Fast erwarte ich, dass sich dieser Vorhang jetzt jeden Moment hebt und das Geheimnis des untergründig alles durchleuchtenden goldenen Lichts freigibt.
Chagalls Sehnsuchtslandschaft steht wie ein Leitbild am Anfang des Advents. Sie lädt dazu ein, den Visionen und Versprechen der Adventszeit mit Vertrauen zu begegnen und mit ihnen eine Revision des eigenen Lebens zu wagen. Dieser Einladung schließt sich dieser Eschbacher Adventskalender an. Mit einigen der schönsten Bilder des großen jüdischen Malers, ermutigt er, die eigenen Träume von einem gelungenen Leben wieder zu entdecken und Advent zu erleben — die Ankunft und den Anbruch von etwas ganz Neuem und Unerwartetem für alle, die ihrem Traum vom Leben trauen.
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