Manchmal, wenn Bernd Posselt besonders glücklich ist, lässt er sich Badewasser einlaufen, steigt in die Wanne und beginnt zu singen. Er hat eine dunkle, kräftige Stimme, und man kann sich gut vorstellen, dass sie nirgendwo besser zur Geltung kommt als in einem hallenden Badezimmer. Posselt spricht sehr laut, er lacht sehr laut, und er singt sehr laut. Er ist im Parteivorstand der CSU. Dort hat er gelernt, Menschen zu widersprechen. Ohne diese Stimme wäre er ein Nichts.
Bernd Posselt liebt kroatische Volkslieder, gelegentlich singt er auch die Marseillaise. In der Badewanne stimmt er gern deutsche Schlager der zwanziger Jahre an, "Ich fahr mit meiner Klara in die Sahara zu den wilden Tieren". Verlässt er seine Wohnung im Münchner Norden und tritt auf die Straße, ist er meist guter Dinge. "Ich freue mich" – viele seiner Sätze beginnen so.
Noch immer läuft er unbekümmert durchs Leben, als habe es für ihn gerade erst begonnen. Dabei ist Bernd Posselt 59 Jahre alt, und er lebt seit 40 Jahren allein. Es gab Freundinnen und Beziehungen, das schon, aber geheiratet hat er nie. "Es hat sich nicht ergeben", sagt er. Zu Hause hat er keinen Kühlschrank, keinen Kochtopf und keine Waschmaschine, er kehrt nur zum Schlafen heim. "Meine Situation ist ganz normal", sagt er oft. Eines ist Bernd Posselt mit Sicherheit nicht: normal.
Wenn man ihn so sieht, mit seinem Seitenscheitel und seinem dürren Schnäuzer, könnte man glauben, er sei von der NPD. Dabei verachtet er kaum etwas mehr als den Nationalismus.
Er schreibt keine E-Mails, aber ständig versucht irgendjemand, ihn zu erreichen. Zu Hause hat er kein Telefon, keinen Computer und keinen Fernseher, er besitzt kein Handy und hat noch nie eine SMS geschrieben. Bis vor Kurzem wusste er nicht einmal, was ein Selfie ist.
Er ist in ganz Europa unterwegs, aber er hat kein eigenes Auto, nicht einmal einen Führerschein. Er hat für sich und sein Leben viele Umschreibungen gefunden. Er nennt sich zum Beispiel einen "Handlungsreisenden in Sachen Völkerverständigung". Posselt hetzt von einem politischen Termin zum nächsten, bis in die Nacht, aber er hat keinen Beruf mehr, seit dem 25. Mai 2014. Das war der Tag der Europawahl.
Als die Wahllokale schlossen, fuhr Bernd Posselt gemeinsam mit seiner Referentin Stephanie Waldburg zur Hanns-Seidel-Stiftung nach München, im Foyer begann die Wahlparty der CSU. Posselt war 20 Jahre lang Abgeordneter im Europäischen Parlament gewesen, er hatte einen sicheren Listenplatz, Platz 6. Doch als die ersten Hochrechnungen eintrafen, erkannte Posselt das Desaster. Gewaltige Verluste für die CSU. Der Kandidat auf Platz 5 schaffte es noch, aber Posselt war plötzlich draußen. Er war von nun an kein Parlamentarier mehr.
Man hätte annehmen müssen, dass er außer sich war vor Enttäuschung, wütend herumstänkerte oder sich in irgendeiner Kneipe volllaufen ließ. Aber Posselt blieb auf der Wahlparty, und er blieb ziemlich ruhig. Der CSU-Chef Horst Seehofer kam zu ihm und wollte ihn trösten. Es sei falsch gewesen, Stimmung gegen Europa zu schüren, habe Seehofer gesagt, Posselt habe recht behalten. "Aber ich muss es auslöffeln", antwortete Posselt. Ausgerechnet er scheiterte an einem Wahlkampf, der sich gegen den Euro gerichtet und im Lager der rechten AfD um Stimmen geworben hatte. Posselt hatte schon für die europäische Idee gekämpft, als es noch gar keine Europawahl gab. Nicht einen einzigen Sitzungstag hatte er in all den Jahren verpasst, nicht einen. Er war so stolz, dazugehören zu dürfen. Schon in den siebziger Jahren hatte er die Paneuropa-Jugend gegründet. Als Wortführer der Sudetendeutschen lässt er sich von Altkadern im eigenen Verband dafür beschimpfen, dass er auf die Tschechen zugeht und sie zu gemeinsamen Treffen einlädt.
Posselt hatte sein ganzes Leben einem politischen Ideal untergeordnet, der Versöhnung ehemals verfeindeter Völker. Über den missratenen Wahlkampf der CSU sagte Posselt: "Man soll nicht versuchen, ein Stinktier zu überstinken." Das ist ein amerikanischer Trapperspruch, den er irgendwo aufgeschnappt hatte. Lasst euch nicht auf ein Kräftemessen mit Rechtspopulisten ein. Das ist es, was Posselt meinte. Nehmt das S in der CSU ernst, das Soziale.
mehr:
- Europaparlament: Bernd bleibt (Stefan Willeke, ZEIT Magazin, 29.10.2015)
Europawahlen - Bernd Posselt (MdEP) im Interview [1:43]
Veröffentlicht am 18.05.2014
Der Europaabgeordnete Bernd Posselt von der CSU benennt drei wichtige Ziele.
Das Interview führte Markus Stahlecker (http://www.faustinusfilm.com)
Parlamentarier ohne Mandat: Herr Posselt und die EU [4:35]
Veröffentlicht am 25.07.2015
Wenn ein Politiker abgewählt wird und aus dem Parlament fliegt, geht er normalerweise zurück in seinen alten Beruf, wird gut bezahlter Berater oder schreibt ein Buch. Aber niemand tut das, was Bernd Posselt macht. Der ehemalige Europaabgeordnete der CSU lebt einfach sein Politikerleben weiter und tut so als sei nichts geschehen.