Dienstag, 23. Oktober 2007

Rudolf Steiner, Waldorfschulen und die Medienmeute

Zur Debatte über das Indizierungsverfahren zweier Bücher von Rudolf Steiner

Vorbemerkungen der Redaktion: Auf Nachfrage vieler verunsicherter Eltern wird ein Artikel eines Redaktionsmitglieds der zu den Rassismusvorwürfen gegen Rudolf Steiner und der Verknüpfung dies Vorwürfe mit der Waldorfpädagogik Stellung nimmt, auszugsweise veröffentlicht. Dabei gibt der Verfasser nicht in allen Teilen die Meinung der Redaktion wieder. Der Artikel umfasst in voller Länge mindestens zehn SchulZeit-Seiten, weshalb sich die Redaktion für eine Kürzung entschied. Der Text wird in voller Länge am Tresen des Schulbüros ausliegen.


1. Die Ausgangslage:
Anfang September machte eine Meldung durch die gesamte Medienprominenz die Runde, (gemäß dem Motto: Meinungsvielfalt ist, wenn einer berichtet und viele schreiben ab: die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften würde im Auftrag des Familienministeriums in den nächsten Tagen prüfen, ob zwei Vortragssammlungen aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners auf den jugendgefährdenden Index kommen werden; die Konsequenz wäre, dass diese Bücher aus allen Bibliotheken entfernt werden müßten. Da dieser dürre und bis dahin unbestätigte Verdacht noch nicht als Spitzenmeldung taugt, wurde von fast allen großen Medien (SPIEGEL, Focus, Netzeitung, TAZ, Stern, FAZ) der Vorwurf auf andere Zitate Steine erweitert und mit der Waldorfpädagogik, ihren Unterrichtsinhalten, der im Vergleich zu Staatsschulen angeblich gehäuft auftretenden Gewalt (vom Verantwortlichen der entsprechenden Studie, Christian Pfeiffer inzwischen widerlegt), sowie mit dem ehemaligen Waldorflehrer und aktuellen NPD-Spitzenkandidaten, Andreas Molau, in direkte Verbindung gebracht.

Es ist ja in der Theorie auch eine einfach und verlockend-schlüssige Kausalkette: man nehme als argumentative Basis einige Ausagen Rudolf Steiners, die man aus heutiger Sicht als rassistisch einstufen kann und stilisiere den Autor damit zum überzeugten Rassisten hoch. Da der Begründer der Anthroposophie demnach ein Rassist war, müssen auch die Anthroposophen (allenthalben „Steiner-Jünger“ genannt) Rassisten sein. Da die Waldorflehrer samt und sonders Anthroposophen sind, sind sie demzufolge auch Rassisten; da die Waldorflehrer Rassisten sind, ist die Waldorfschule rassistisch; und da die Waldorfschule rassistisch ist, ist der Unterricht dort zwangsläufig rassistisch.

(…)

2.4. Steiners Geschichtsbild und die Herausbildung der menschlichen Rassen
Für die Anthroposophie besteht die Weltenentwicklung nicht nur aus den physikalisch-biologischen, sondern auch aus den geistigen Prozessen. Demnach durchliefen Erde und Mensch Stufen einer immer greifbarer werdenden Materialisation, sie wurden stofflicher und fester. Träger dieser Entwicklung waren verschiedene Rassen, die, wie bei einem Staffellauf, den Stab der Evolution voran trugen, ihn übergaben, dann stehen blieben oder sich einseitig weiterentwickelten, während eine andere Rasse die nächste Etappe zurücklegte. Die letzte und am weitesten entwickelte dieser Rassen war laut Steiner die weiße oder arische Rasse.
Hieraus ließe sich nur dann ein Rassismusvorwurf konstruieren, wenn man nicht berücksichtigt, dass Rudolf Steiner damit die Entwicklung in der so genannten atlantischen Periode, die vor etwa 10.000 Jahre endete, beschrieben hätte, wobei er sich nicht auf die geistigen Fähigkeiten, sondern ausschließlich auf die Bildung des physischen Leibes bezieht. Aber genau auf diese Passagen stützt sich im Wesentlichen der von der Kulturwissenschaftlerin und Genderforscherin Jana Husmann-Kastein formulierte Verbotsantrag der beiden Werke Steiners.
Bis in die Neuzeit hinein, in der so genannten nachatlantischen Phase, spricht Steiner nicht mehr von Rassen, sondern von Kulturen (altpersische, ägyptisch-mesopotamische, griechische… Kultur), in der die Menschen verschiedene Seelenqualitäten ausbildeten.
In der Gegenwart verliert nach dem Verständnis Steiners und der Anthroposophie jegliche Zugehörigkeit zu Rasse, Volk, Nation oder Gruppe zunehmend an Bedeutung. Denn worauf es der Anthroposophie ankommt, ist die individuelle Ausbildung und Weiterentwicklung des geistigen Kerns in jedem einzelnen Menschen.

2.5. Anthroposophie und Steiner in der Gegenwart
Und an diesem Punkt sind wir bei der Essenz, bei dem eigentlichen Anliegen der Anthroposophie angekommen: dem Ich. Steiner propagiert als Kernthema seines Werkes die unbedingte Freiheit des menschlichen Geistes. Da jeder Mensch in all seinen Facetten absolut einmalig ist, verbietet sich jegliche Kategorisierung von selbst. Rassendenken und Anthroposophie sind ein Widerspruch in sich! Und entsprechend auf den individuellen Wesenskern im Menschen ausgerichtet ist nicht nur die Anthroposophie, sondern auch die Waldorfpädagogik.

3. Steiners Aussagen zu Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus
Steiner ein Rassist? Klare Antwort: Nein! Dies ergibt sich nicht nur aufgrund des Kerns der Steinerschen Lehre, sondern auch aus einer Vielzahl von Äußerungen Steiners, die wesentlich zahlreicher sind als die oben zitierten.
Einige Beispiele:
„Ein Mensch, der heute von dem Ideal der Rassen und Nationen und Stammeszugehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen so genannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit. Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen“(1917).
„Der Antisemitismus ist ein Hohn auf allen Glauben an die Ideen. Er spricht vor allem der Idee Hohn, dass die Menschheit höher steht als jede Form (Stamm, Rasse, Volk), in der sich die Menschheit auslebt.“(1901).
„Unsere (anthroposophische) Gesellschaft vereint in einer gemeinsamen geistigen Strömung die Angehörigen der verschiedensten Rassen, Völker, die heute feindlich gegeneinander sind (…). Wir suchen das, was zerstreut war in der Welt, wiederum zu sammeln, und die Angehörigen der verschiedenen Nationen umfassen sich wieder brüderlich, werden Brüder innerhalb unserer Reihen“ (13.9.1914!).
Diese Reihe ließe sich mit ähnlichen Zitaten beliebig fortsetzen.

4. Die anthroposophische Praxis
1918, unter dem Eindruck der Weltkriegskatastrophe, vollzog Steiner eine für einen spirituellen Lehrer radikale Wende ins Praktische. Erst jetzt entstehen in schneller Folge die anthroposophischen Einrichtungen, unter anderem die Waldorfpädagogik.
Innerhalb weniger Jahre war die Anthroposophie weltweit präsent. Da die Kritiker von deren antisemitischer und rassistischer Ausrichtung überzeugt sind, dürfte dies gar nicht sein, weshalb man sich sicherheitshalber nicht mit ihrer Internationalität und ihrem Kosmopolitismus auseinandersetzt.
Sonst müsste man ja erklären, weshalb
… ausgerechnet anthroposophische Einrichtungen in Südafrika während der Apartheid Angehörige beider Rassen unterrichtet und erzogen haben;
… es Waldorfschulen und -kindergärten in Israel gibt, in denen jüdische und palästinensische Kinder koedukativ erzogen werden;
… viele enge Mitarbeiter Steiners Juden waren; der bekannteste war Karl König, der Begründer der Camphill-Bewegung;
… die von Rudolf Steiner und Ita Wegmann entscheidend geförderte anthroposophische Heilpädagogik bereits in den 20er Jahren Therapie und Heilung von geistig und seelisch Behinderten, nach damaligem Verständnis „minderwertigen“ Menschen, betrieben haben – zu einer Zeit also, als Behinderte bestenfalls auf Verwahranstalten hoffen konnten.
Außerdem müssten die Kritiker erklären, weshalb die Nazis von der Unvereinbarkeit von Anthroposophie und Nationalsozialismus überzeugt waren, Zitat: „(…) dass eine Verbindung von anthroposophischen Gedankengängen und germanisch-völkischer Weltanschauung unmöglich ist und die Anthroposophie letzten Endes zur Zersetzung der nationalsozialistischen Weltanschauung führen muß“ (Bericht des Reichssicherheitshauptamtes, Berlin 1941)

Die Angriffe auf Steiner, die Anthroposophie und die Waldorfpädagogik sind ärgerlich, und sie sind in ihrer Form und Heftigkeit lächerlich.
Auch an Waldorfschulen werden Fehler gemacht wie an jeder anderen Institution auch. Wir Lehrer sind weder vor Übereifer oder Vereinfachungen, noch vor Fehlern im Umgang mit Kindern und Eltern gefeit. Das ist bedauerlich, aber menschlich, und es kommt an staatlichen Schulen genauso vor.
Diese individuellen Schwächen und Fehler der Waldorfpädagogik und der Anthroposophie und deren vermeintlich latenten Rassismus und Antisemitismus anzurechnen ist unfair und primitiv; hier wird Ignoranz zum Dogma!
Als ob es im Jahre 17 nach der Wiedervereinigung Deutschlands nicht längst viel zu viele real existierende Rassisten gäbe, gegen die dringend etwas unternommen werden müsste! Ist nicht ein Zusammenschluss aller demokratischen Köpfe und Herzen in Deutschland nötig, um dieser braunen Gefahr zu begegnen?

Ach ja, bevor ich es vergesse: die Bundesprüfstelle hat entschieden, die kritisierten Bücher von Rudolf Steiner NICHT auf den Index zu setzen.

Noch Fragen?

Thomas Beirle (L)



Extrem niedrige Fremdenfeindlichkeit an Waldorfschulen

Immer wieder werden dem Werk Rudolf Steiners rassistische Aussagen vorgeworfen und daraus eine fremdenfeindliche Tendenz an Waldorfschulen abgeleitet, wie im Frühjahr bei ZDF und 3SAT. Eine neue empirische Studie von Christian Pfeiffer vom Kriminologischen
Forschungsinstitut Niedersachsen zeigt, dass genau das Gegenteil zutrifft.

Sowohl bei Fremdenfeindlichkeit als auch bei Rechtsextremismus weisen Waldorfschüler nach der empirischen Studie von Kriminologie-Professor Christian Pfeiffer das allerniedrigste Niveau auf. Sind es bei Hauptschülern 24,7 Prozent beziehungsweise 9,5 Prozent, fallen die Anteile hei Gymnasiasten auf 8,3 Prozent beziehungsweise 1,9 Prozent, während nur 2,8 Prozent der Waldorfschüler als fremdenfeindlich und 1,2 Prozent als rechtsextrem einzustufen sind. Für diese Auswertungen wurden nur die Angaben der 9.001 deutschen Jugendlichen der 9. Jahrgangsstufe herangezogen.

Fremdenfeindlichkeit kommt damit drei mal häufiger an Hauptschulen als an Gymnasien vor, aber noch drei mal so häufig an Gymnasien wie an Waldorfschulen. Ein Wert, der in seiner deutlichen Niedrigkeit besonders ins Auge fällt, vor allem wenn man in Betracht zieht, dass in einigen anderen Kategorien (etwa Graffitisprayen, Ladendiebstahl und Schulschwänzen) Waldorfschüler ähnlich wie Hauptschüler in der Studie eingeordnet werden, weit über den Gymnasiasten.

Noch frappierender sind die Ergebnisse bezüglich der so genannten ,,Machogesinnungen“, die bei Waldorfschülern eine ultrageringe Zustimmung erfahren: Nur 0,3 Prozent der Neuntklässler stimmten Aussagen wie „Ein Mann, der nicht bereit ist, sich gegen Beleidigungen mit Gewalt zu wehren, ist ein Schwächling“ oder „Wenn eine Frau ihren Mann betrügt, darf der Mann sie schlagen“ zu. Bei Gymnasiasten waren es fast sieben mal mehr (2,0 Prozent). Bei Hauptschülern im Vergleich zu Gymnasiasten „nur“ über vier mal mehr (8,7 Prozent).

Waldorfschüler haben also gerade in den Bereichen, wo es am häufigsten zu erniedrigenden Stereotypisierungen kommt (nämlich gegenüber Frauen und gegenüber Fremden) viel modernere Einstellungen als ihre Mitschüler an Regelschulen. Das wiederum entspricht der Einstellung Steiners hierzu in seinen schriftlichen Werken, insbesondere seinem Hauptwerk „Die Philosophie der Freiheit“, wo er im Schlusskapitel „Individualität und Gattung“ über das menschliche Wesen schreibt:

„Wir suchen nun vergebens den Grund für eine Äußerung dieses Wesens in den Gesetzen der Gattung. Wir haben es mit einem Individuum zu tun, das nur durch sich selbst erklärt werden kann. Ist ein Mensch bis zu dieser Loslösung von dem Gattungsmäßigen durchdrungen, und wir
wollen alles, was an ihm ist, auch dann noch aus dem Charakter der Gattung erklären, so haben wir für das Individuelle kein Organ. Es ist unmöglich, einen Menschen ganz zu verstehen, wenn man seiner Beurteilung einen Gattungsbegriff zugrunde legt.“

Detlef Hardorp


http://www.waldorf.net/html/aktuell/pfeiffer_studie.htm


aus SchulZeit Nr. 68, Oktober 2007 (Schulzeitung der Freien Waldorfschule Hannover – Maschsee)

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