Beachtung fand
auf der »Konziliaren Versammlung« reformorientierter Gruppen und Initiativen,
die im Oktober in Frankfurt stattfand (Publik-Forum
20/2012), ein Vortrag des Journalisten Michael
Jäger. »Ohne Angst leben« lautete sein
Titel. Jäger war früher Atheist und fand über eine kritische Auseinandersetzung
mit dem Christentum zum Glauben. Der nachfolgende Text ist eine stark gekürzte
und redaktionell überarbeitete Fassung dieses Vortrags. Jäger arbeitet als Redakteur bei der Wochenzeitung »Der
Freitag«.
Von Michael Jäger
Sehr viele Menschen sind nicht einverstanden
mit den vielen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und der Unsinnigkeit
unserer ökonomischen Ordnung. Doch sie rühren sich nicht. Sie sind gelähmt.
Aber lesen wir von solcher Lähmung nicht schon im Neuen Testament? Da kommt
dann einer und sagt: »Steh auf und wandle!«
Wäre es also
nicht gerade Aufgabe der Kirchen, ein entschiedenes Wort gegen die Lähmung zu
sagen? Die Menschen brauchen den Glauben, aufstehen zu können, haben ihn aber
nicht. Eine erneuerte Kirche würde sich in die Demonstrationen derer einreihen,
die den Kampf um eine bessere Welt bereits aufgenommen haben. In Ansätzen
geschieht das. Eine erneuerte Kirche würde sich aber auch derer annehmen, die
nicht zum Kämpfen gelangen, weil sie gelähmt sind. Denn wer sonst sollte das
tun können? Wer außer den Christen wüsste aus der Bibel, dass möglicherweise
Schuldbewusstsein und daraus resultierende Todesangst die Lähmung bewirkt haben
könnten?
Die
Verantwortlichen in den Kirchen haben oft eine eigene Art, Themen wie Schuldbewusstsein
und Todesangst, Vergebung der Schuld und Befreiung zum Leben zu behandeln: Man privatisiert sie, enthistorisiert sie,
entsozialisiert sie, entgeschlechtlicht sie. Man verwandelt sie in lauter Abstraktionen. Nicht selten wird dann eine private, ahistorische
»Seelsorge« ausgespielt gegen die
Notwendigkeit des Kampfes für eine bessere Welt, für einen Vorschein des
»Reiches Gottes«.
Papst Benedikt
XVI. hat aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils ein »Jahr des Glaubens« ausgerufen. Aufgabe der Kirche sei es, so der Papst, »die Menschen aus der Wüste
herauszuführen zu den Orten des Lebens – zur Freundschaft mit dem Sohn Gottes, der uns
Leben schenkt, Leben in Fülle«. So weit, so gut. Doch dann fährt der Papst fort: Nicht selten
geschehe es, dass die Christen sich »mehr um die sozialen, kulturellen und politischen Auswirkungen ihres Einsatzes
kümmern«.
Aus der Wüste
herausführen – welch ein großartiges Bild! Es passt zu unserer Situation in den reichen Ländern, wo uns, bevor wir zu kämpfen begannen, doch nicht das tägliche Brot gefehlt hat! Nein, wir spürten eine innere
Leere, die gerade das war, was uns gelähmt sein ließ – bevor wir herausgeführt wurden
zur Freundschaft mit dem »Sohn Gottes«, unserem Vorbild, »des Glaubens Führer«, wie es im Hebräerbrief heißt, der das Kreuz auf sich nahm
im Widerstand gegen die Händler im Tempel.
Wie kann man diesem Vorbild anders folgen als im sozialen,
kulturellen und politischen Einsatz? Muss man nicht gerade sagen, dass es der
Glaube ist, der zum Einsatz befreit, indem er die Lähmung besiegt, sodass wir
die Wüste verlassen können?
Tortur und
Sterben. Der Philosoph
Theodor W Adorno kann 1965, in seiner »Metaphysik-Vorlesung«, den Zusammenhang
deutlich machen zwischen dem physischen Leid in den armen Ländern und der Verwüstung der Seelen in den reichen Ländern; zwischen dem mehr oder weniger verdrängten Schuldbewusstsein von uns Reichen und der Lähmung und der Todesangst, die
uns befallen, wenn wir nicht, wie Adorno sagt, »Widerstand« leisten.
Der Philosoph spricht von einer »Welt der Tortur, die weitergeht nach Auschwitz …« Seine verallgemeinernde Charakterisierung der Zeit ist die »Tortur als Dauerinstitution«. Beispiele dafür finden sich vor allem in den armen Ländern: Hunger, Ausbeutung, Diktaturen ... Indem Adorno sich aber ebenso in den reichen Ländern umsieht, hebt er auch deren Charakteristikum hervor: Es ist die Unerträglichkeit des privaten Sterbens. Damit sind wir beim Thema »Seelsorge«.
»Wer stirbt«, sagt Adorno, »der merkt, dass er um alles betrogen ward. Und darum ist der Tod so unerträglich.« Wir meinen heute vielleicht, das sei übertrieben. Wahr ist, dass wir viel weniger betrogen sind als Menschen in anderen Weltteilen. Doch warum? Weil wir, ob wir wollen oder nicht, mitschuldig sind an der Armut und Tortur in anderen Weltteilen. Es ist gerade dieser »Schuldzusammenhang«, der für Adorno die Überleitung macht zwischen dem objektiven und dem subjektiven Charakteristikum der Zeit: zwischen der Welt der Tortur und der Unerträglichkeit des privaten Sterbens. Die Schuld der Menschen hierzulande liege darin, sagt Adorno, »dass man zu wenig widersteht«. Solche Schuld laste auf dem Sterben.
Und ist nicht auch der ökonomische Wachstumszwang die permanente Flucht vor der Endlichkeit?
Liegt hier nicht
ein Schlüssel, um die Lähmung der breiten
Bevölkerung zu begreifen? Menschen, die auch nur die leiseste Ahnung ihrer Verstrickung in diesen Schuldzusammenhang haben – aus welchem Antrieb heraus sollten sie sich zur Lebendigkeit befreien können und damit zum Widerstand? Nein, ihr Leben wird stocken, umso mehr, als es auf das Nichts hinauszulaufen scheint. Sie sehen nur, dass »nach uns die Sintflut« kommt, ja dass sie schon da ist und man sein Leben damit verbringt, das Ansteigen des Wasserspiegels zu beobachten – man tut das übrigens auch ganz buchstäblich. Man kann regelrecht die Stimme Mephistos aus Goethes
»Faust« hören: der Tod ein »reines Nichts«, vorher, infolgedessen, ein Leben »so gut, als wär es nicht gewesen«. Oder um mit Adorno zu sprechen: Es sei, als ob die Menschen »am Tod [ … ] erfahren würden[,] dass sie immer schon Tote waren«.
Mit dem Tod ist
nicht alles aus. Müsste es eine »seelsorgerische« Kirche hier nicht drängen, die Frohe Botschaft zu verkünden? Sie liegt laut dem
Hebräerbrief darin, dass es Jesus Christus darum ging, »alle die
freizubekommen, die durch Todesfurcht während des ganzen Lebens der Knechtschaft verhaftet waren«.
Was aber tut die Kirche? Spricht sie von der Weltarmut und
-tortur, um zum Beispiel uns Deutsche, die davon nicht betroffen sind, auf diese Kehrseite hinzuweisen, von der wir dann eben doch betroffen sind, in der Weise
einer gewissen Unerträglichkeit unseres Sterbens und Lebens? In der Todesangst,
die sehr berechtigt ist, aber nicht sein müsste, weil wir, das Kreuz auf uns nehmend, Widerstand
leisten könnten? Doch die Kirche spielt gegen die Anklage der Weltarmut und
-tortur ihre seelsorgerische Tätigkeit aus. So als folge diese Anklage »trügerischen
Prinzipien«, wie Benedikt XVI. es der »Theologie
der Befreiung« vorwirft. Weniger trügerisch soll es wohl sein, wenn man die Menschen auf ihre abstrakte Privatheit reduziert und zurückwirft …
Was nun zeichnet
den Widerstand der Christen aus? Was müsste und könnte ihn auszeichnen?
Erstens: das
Wort vom Kreuz. Wenn es wirklich die bessere Welt ist, für die Christen kämpfen, das Reich Gottes, dann brauchen Christen die Niederlage
in diesem Kampf nicht zu scheuen, denn sie ist in den Sieg verschlungen. Der Kampf geht weiter, nach der Niederlage,
sogar nach dem Leben. Weil Christen das
wissen, sind sie nicht gelähmt.
Zweitens: Christen leisten Widerstand und treffen auf Feinde. Feinde sind Menschen, die man auch als Feinde behandelt.
Sonst hätte der Satz »Liebt eure Feinde«
überhaupt keinen Sinn. Diese Aufforderung
bedeutet nicht einfach dasselbe wie »Liebe deine Geliebte«. Seine Bedeutung ist
die, dass zur Behandlung der Feinde zwar selbstverständlich und auch für Christen gehört, dass man sie zu besiegen versucht – ohne die Niederlage zu scheuen –, dass es aber darüber hinaus auch dazugehört, dass man sie liebt.
Drittens: Was heißt es, die Feinde zu besiegen und zugleich zu lieben? Es heißt, sie so zu besiegen, dass sie hinterher, ja schon während des Kampfes, die Möglichkeit haben, ihre Feindschaft zu revidieren. Die Feinde müssen zur Freundschaft mit der christlichen Sache und mit den Christen selbst übergehen können. Nicht, dass Christen den Kampf aufs Spiel setzen, damit die Feinde zu falschen Freunden werden; gerade das wäre keine Haltung der Liebe ihnen gegenüber. Aber wenn Christen wissen, dass den Feinden die Möglichkeit bleiben muss, sich zu ändern, dann hält es sie davon ab, das Unrecht, das die Feinde in die Welt setzen, durch eigenes Unrecht an ihnen noch zu vervielfachen. Die Geschichte der Revolutionen ist voll von solch reagierendem Unrecht.
Ganz von selbst
taucht in diesem Kontext die Frage des Todes auf. »Nach dem Leben ist nicht alles aus«, sagen Christen. Wenn es nicht so wäre, wenn die Geschichte nicht weiterginge, nachdem der Beitrag unseres Lebens zu ihr vielleicht nur darin besteht, dass wir Niederlagen
erleiden, dann wären auch wir gelähmt. Dann würden wir die Kraft zum Widerstand
nicht haben, und auch uns würde das
Schuldbewusstsein ängstigen bis hin zur Todesangst.
Viele werfen der
Kirche vor – und wohl nicht immer
zu Unrecht –, sie wolle die Todesangst dadurch besiegen, dass sie ein besseres Weiterleben nach dem Tod beschwöre, worauf man während eines Lebens ohne Widerstand immer schon die Hoffnung richten könne. Wenn dieses Missverständnis aufkommt, werden die Christen es berichtigen
müssen. Sie werden sagen können, was der
große Theologe Karl Rahner so formuliert hat: »Wer einmal eine sittlich gute Entscheidung auf Leben und Tod getroffen hat, radikal und unversüßt, sodass daraus absolut nichts für ihn
herausspringt als die angenommene Güte dieser Entscheidung selbst, der hat darin schon jene Ewigkeit erfahren,
die wir hier meinen« – und die durchaus nicht, fährt Rahner fort, »als ein zeitliches Weiterdauern ›hinter‹ unserem Leben sich
hinzieht«.
Wüssten die
Menschen darum, sie würden es satt
haben, wie Tote zu leben. Sie würden aufstehen. –
• Publik-Forum 2012 Nr. 22