Dienstag, 15. Januar 2013

Ohne Angst leben


 Christen könnten die weit verbreitete politische Lähmung und die Angst vieler Menschen vor dem Sterben überwinden helfen. Doch die Kirchen flüchten in eine abstrakte Glaubensverkündigung
Beachtung fand auf der »Konziliaren Versammlung« reformorientierter Gruppen und Initiativen, die im Oktober in Frankfurt stattfand (Publik-Forum 20/2012), ein Vortrag des Journalisten Michael Jäger. »Ohne Angst leben« lautete sein Titel. Jäger war früher Atheist und fand über eine kritische Auseinandersetzung mit dem Christentum zum Glauben. Der nachfolgende Text ist eine stark gekürzte und redaktionell überarbeitete Fassung dieses Vortrags. Jäger arbeitet als Redakteur bei der Wochenzeitung »Der Freitag«.

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Von Michael Jäger

Sehr viele Menschen sind nicht einverstanden mit den vielen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und der Unsinnigkeit unserer ökonomischen Ordnung. Doch sie rühren sich nicht. Sie sind gelähmt. Aber lesen wir von solcher Lähmung nicht schon im Neuen Testament? Da kommt dann einer und sagt: »Steh auf und wandle!«
Wäre es also nicht gerade Aufgabe der Kirchen, ein entschiedenes Wort gegen die Lähmung zu sagen? Die Menschen brauchen den Glauben, aufstehen zu können, haben ihn aber nicht. Eine erneuerte Kirche würde sich in die Demonstrationen derer einreihen, die den Kampf um eine bessere Welt bereits aufgenommen haben. In Ansätzen geschieht das. Eine erneuerte Kirche würde sich aber auch derer annehmen, die nicht zum Kämpfen gelangen, weil sie gelähmt sind. Denn wer sonst sollte das tun können? Wer außer den Christen wüsste aus der Bibel, dass möglicherweise Schuldbewusstsein und daraus resultierende Todesangst die Lähmung bewirkt haben könnten?
Die Verantwortlichen in den Kirchen haben oft eine eigene Art, Themen wie Schuldbewusstsein und Todesangst, Vergebung der Schuld und Befreiung zum Leben zu behandeln: Man privatisiert sie, enthistorisiert sie, entsozialisiert sie, entgeschlechtlicht sie. Man verwandelt sie in lauter Abstraktionen. Nicht selten wird dann eine private, ahistorische »Seelsorge« ausgespielt gegen die Notwendigkeit des Kampfes für eine bessere Welt, für einen Vorschein des »Reiches Gottes«.
Papst Benedikt XVI. hat aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils ein »Jahr des Glaubens« ausgerufen. Aufgabe der Kirche sei es, so der Papst, »die Menschen aus der Wüste herauszuführen zu den Orten des Lebens – zur Freundschaft mit dem Sohn Gottes, der uns Leben schenkt, Leben in Fülle«. So weit, so gut. Doch dann fährt der Papst fort: Nicht selten geschehe es, dass die Christen sich »mehr um die sozialen, kulturellen und politischen Auswirkungen ihres Einsatzes kümmern«.
Aus der Wüste herausführen – welch ein großartiges Bild! Es passt zu unserer Situation in den reichen Ländern, wo uns, bevor wir zu kämpfen begannen, doch nicht das tägliche Brot gefehlt hat! Nein, wir spürten eine innere Leere, die gerade das war, was uns gelähmt sein ließ – bevor wir herausgeführt wurden zur Freundschaft mit dem »Sohn Gottes«, unserem Vorbild, »des Glaubens Führer«, wie es im Hebräerbrief heißt, der das Kreuz auf sich nahm im Widerstand gegen die Händler im Tempel.
Wie kann man diesem Vorbild anders folgen als im sozialen, kulturellen und politischen Einsatz? Muss man nicht gerade sagen, dass es der Glaube ist, der zum Einsatz befreit, indem er die Lähmung besiegt, sodass wir die Wüste verlassen können?

Tortur und Sterben. Der Philosoph Theodor W Adorno kann 1965, in seiner »Metaphysik-Vorlesung«, den Zusammenhang deutlich machen zwischen dem physischen Leid in den armen Ländern und der Verwüstung der Seelen in den reichen Ländern; zwischen dem mehr oder weniger verdrängten Schuldbewusstsein von uns Reichen und der Lähmung und der Todesangst, die uns befallen, wenn wir nicht, wie Adorno sagt, »Widerstand« leisten. 
Der Philosoph spricht von einer »Welt der Tortur, die weitergeht nach Auschwitz …« Seine verallgemeinernde Charakterisierung der Zeit ist die »Tortur als Dauerinstitution«. Beispiele dafür finden sich vor allem in den armen Ländern: Hunger, Ausbeutung, Diktaturen ... Indem Adorno sich aber ebenso in den reichen Ländern umsieht, hebt er auch deren Charakteristikum hervor: Es ist die Unerträglichkeit des privaten Sterbens. Damit sind wir beim Thema »Seelsorge«.
»Wer stirbt«, sagt Adorno, »der merkt, dass er um alles betrogen ward. Und darum ist der Tod so unerträglich.« Wir meinen heute vielleicht, das sei übertrieben. Wahr ist, dass wir viel weniger betrogen sind als Menschen in anderen Weltteilen. Doch warum? Weil wir, ob wir wollen oder nicht, mitschuldig sind an der Armut und Tortur in anderen Weltteilen. Es ist gerade dieser »Schuldzusammenhang«, der für Adorno die Überleitung macht zwischen dem objektiven und dem subjektiven Charakteristikum der Zeit: zwischen der Welt der Tortur und der Unerträglichkeit des privaten Sterbens. Die Schuld der Menschen hierzulande liege darin, sagt Adorno, »dass man zu wenig widersteht«. Solche Schuld laste auf dem Sterben. Und ist nicht auch der ökonomische Wachstumszwang die permanente Flucht vor der Endlichkeit?
Liegt hier nicht ein Schlüssel, um die Lähmung der breiten Bevölkerung zu begreifen? Menschen, die auch nur die leiseste Ahnung ihrer Verstrickung in diesen Schuldzusammenhang haben – aus welchem Antrieb heraus sollten sie sich zur Lebendigkeit befreien können und damit zum Widerstand? Nein, ihr Leben wird stocken, umso mehr, als es auf das Nichts hinauszulaufen scheint. Sie sehen nur, dass »nach uns die Sintflut« kommt, ja dass sie schon da ist und man sein Leben damit verbringt, das Ansteigen des Wasserspiegels zu beobachten – man tut das übrigens auch ganz buchstäblich. Man kann regelrecht die Stimme Mephistos aus Goethes »Faust« hören: der Tod ein »reines Nichts«, vorher, infolgedessen, ein Leben »so gut, als wär es nicht gewesen«. Oder um mit Adorno zu sprechen: Es sei, als ob die Menschen »am Tod [ ] erfahren würden[,] dass sie immer schon Tote waren«.

Mit dem Tod ist nicht alles aus. Müsste es eine »seelsorgerische« Kirche hier nicht drängen, die Frohe Botschaft zu verkünden? Sie liegt laut dem Hebräerbrief darin, dass es Jesus Christus darum ging, »alle die freizubekommen, die durch Todesfurcht während des ganzen Lebens der Knechtschaft verhaftet waren«.
Was aber tut die Kirche? Spricht sie von der Weltarmut und -tortur, um zum Beispiel uns Deutsche, die davon nicht betroffen sind, auf diese Kehrseite hinzuweisen, von der wir dann eben doch betroffen sind, in der Weise einer gewissen Unerträglichkeit unseres Sterbens und Lebens? In der Todesangst, die sehr berechtigt ist, aber nicht sein müsste, weil wir, das Kreuz auf uns nehmend, Widerstand leisten könnten? Doch die Kirche spielt gegen die Anklage der Weltarmut und -tortur ihre seelsorgerische Tätigkeit aus. So als folge diese Anklage »trügerischen Prinzipien«, wie Benedikt XVI. es der »Theologie der Befreiung« vorwirft. Weniger trügerisch soll es wohl sein, wenn man die Menschen auf ihre abstrakte Privatheit reduziert und zurückwirft
Was nun zeichnet den Widerstand der Christen aus? Was müsste und könnte ihn auszeichnen?
Erstens: das Wort vom Kreuz. Wenn es wirklich die bessere Welt ist, für die Christen kämpfen, das Reich Gottes, dann brauchen Christen die Niederlage in diesem Kampf nicht zu scheuen, denn sie ist in den Sieg verschlungen. Der Kampf geht weiter, nach der Niederlage, sogar nach dem Leben. Weil Christen das wissen, sind sie nicht gelähmt.
Zweitens: Christen leisten Widerstand und treffen auf Feinde. Feinde sind Menschen, die man auch als Feinde behandelt. Sonst hätte der Satz »Liebt eure Feinde« überhaupt keinen Sinn. Diese Aufforderung bedeutet nicht einfach dasselbe wie »Liebe deine Geliebte«. Seine Bedeutung ist die, dass zur Behandlung der Feinde zwar selbstverständlich und auch für Christen gehört, dass man sie zu besiegen versucht – ohne die Niederlage zu scheuen –, dass es aber darüber hinaus auch dazugehört, dass man sie liebt.
Drittens: Was heißt es, die Feinde zu besiegen und zugleich zu lieben? Es heißt, sie so zu besiegen, dass sie hinterher, ja schon während des Kampfes, die Möglichkeit haben, ihre Feindschaft zu revidieren. Die Feinde müssen zur Freundschaft mit der christlichen Sache und mit den Christen selbst übergehen können. Nicht, dass Christen den Kampf aufs Spiel setzen, damit die Feinde zu falschen Freunden werden; gerade das wäre keine Haltung der Liebe ihnen gegenüber. Aber wenn Christen wissen, dass den Feinden die Möglichkeit bleiben muss, sich zu ändern, dann hält es sie davon ab, das Unrecht, das die Feinde in die Welt setzen, durch eigenes Unrecht an ihnen noch zu vervielfachen. Die Geschichte der Revolutionen ist voll von solch reagierendem Unrecht.
Ganz von selbst taucht in diesem Kontext die Frage des Todes auf. »Nach dem Leben ist nicht alles aus«, sagen Christen. Wenn es nicht so wäre, wenn die Geschichte nicht weiterginge, nachdem der Beitrag unseres Lebens zu ihr vielleicht nur darin besteht, dass wir Niederlagen erleiden, dann wären auch wir gelähmt. Dann würden wir die Kraft zum Widerstand nicht haben, und auch uns würde das Schuldbewusstsein ängstigen bis hin zur Todesangst.
Viele werfen der Kirche vor – und wohl nicht immer zu Unrecht –, sie wolle die Todesangst dadurch besiegen, dass sie ein besseres Weiterleben nach dem Tod beschwöre, worauf man während eines Lebens ohne Widerstand immer schon die Hoffnung richten könne. Wenn dieses Missverständnis aufkommt, werden die Christen es berichtigen müssen. Sie werden sagen können, was der große Theologe Karl Rahner so formuliert hat: »Wer einmal eine sittlich gute Entscheidung auf Leben und Tod getroffen hat, radikal und unversüßt, sodass daraus absolut nichts für ihn herausspringt als die angenommene Güte dieser Entscheidung selbst, der hat darin schon jene Ewigkeit erfahren, die wir hier meinen« – und die durchaus nicht, fährt Rahner fort, »als ein zeitliches Weiterdauern ›hinter‹ unserem Leben sich hinzieht«.
Wüssten die Menschen darum, sie würden es satt haben, wie Tote zu leben. Sie würden aufstehen. –


Publik-Forum 2012 Nr. 22

Rezensionen zu Adornos Metaphysik-Vorlesungen:

- Darf auch ruhig mal schiefgehen (Rezension in der FAZ, 1998, zu Adornos Metaphysik-Vorlesungen)
- Blicke auf das grauenhafte Sein der Welt (Rezension in der taz, 1998, zu Adornos Metaphysik-Vorlesungen)
- Die Trümmerfrau der Kultur (Rezension in der BZ, 1998, zu Adornos Metaphysik-Vorlesungen)
-  Transzendenz und Kapitalismus (Rezension in der ZEIT, 1998, zu Adornos Metaphysik-Vorlesungen)