Lügen unter Tränen
Die Wahrheit von Aussagen wurde bereits lange Zeit vor der Popularität des Begriffs ,,Fake News“ fragwürdig. Dass vor einem Krieg in der Propaganda oft hemmungslos gelogen wird, ist ein Gemeinplatz: Vom Anschlag auf den Sender Gleiwitz, der 1939 von der SS initiiert wurde und den Angriff auf Polen rechtfertigen sollte, über den fingierten Tonkin-Zwischenfall, den die USA 1964 als Anlass für den Vietnamkrieg nahmen, bis zur Vorlage gefälschter Beweise bei der UNO durch Colin Powell 2003 zur ,,Begründung“ des zweiten Golfkriegs. Man könnte diese Liste beliebig verlängern. Wenn es um ökonomische Motive, Kriegsvorbereitungen, aber auch ideologische Gegensätze geht, so spielt ,,Wahrheit“ fast keine Rolle mehr. ,,Fakten“ werden vielfach einfach hergestellt (,,gefaked“), auch durch falsche Zeugenaussagen. Man denke an die ,,Brutkastenlüge“ vor dem 1. Golfkrieg, die von Nayirah al-Sabah, der Tochter des kuwaitischen Botschafters, unter Tränen vor dem US-Kongress vorgetragen wurde. Klaus Hartmann sagt in seinem Vortrag ,,Die Brutkastenlüge“: ,,Die ganze Inszenierung war eine Auftragsarbeit der PR-Agentur Hill & Knowlton, die vorher in Umfragen ermittelt hatte, dass die US-Bürger Grausamkeit gegen hilflose Kleinkinder am entschiedensten verabscheuten. Fake News als Ergebnis von spin doctoring, auch ,professionelle strategische Kommunikation’ genannt.“ Gefälscht werden auch immer häufiger Videos oder Fotos und in den sozialen Medien auf eine Weise verbreitet, die sich gefährlich auswirkt. Nicht Wahrheit, sondern Reichweite entscheidet, gepaart mit einer starken emotionalen Aufladung.
Nun hat sich im 20. Jahrhundert die erwähnte „strategische Kommunikation“ wie ein Nebelschleier über die ganze Gesellschaft verbreitet, Die Lüge ist allgegenwärtig geworden. Der Physiker, Nobelpreisträger und Wissenschaftskritiker Robert B. Laughlin sagte: ,,George Orwells 1984 ist keine Zukunftsvision mehr; wir sind mittendrin.“
Experten als Hohepriester
Aber sind nicht wenigstens die Wissenschaften weiterhin der Wahrheit verpflichtet? In der Politik, aber auch bei einer vom Klima bewegten Jugend gelten ausgewählte Expertinnen und Experten als die Hohenpriester der Gegenwart. Doch immer häufiger werden gefälschte Aufsätze auch in angesehenen Zeitschriften entdeckt – bei hoher Dunkelziffer. Man spricht von einer Reproduzierbarkeitskrise: Mehrere seriöse Studien brachten in jüngerer Zeit ans Licht, dass sich quer durch die naturwissenschaftliche und medizinische Forschung 60 bis möglicherweise sogar 90 Prozent der Studien an anderen Forschungseinrichtungen nicht mit dem gleichen Ergebnis wiederholen lassen.
Schlimmer noch ist ein verbreiteter Opportunismus. Man forscht nur, wenn entsprechende Mittel verfügbar sind – Mittel, die entweder durch die Wirtschaft oder politische Interessen gelenkt sind. So können sich vermeintliche Mehrheitsmeinungen rasch insgesamt in Fake News verwandeln. Die Zeitschrift „The Economist“ veröffentlichte 2013 eine Studie, wonach gerade die führenden Fachzeitschriften vorwiegend Aufsätze akzeptieren, die sich vor allem an Mehrheitsmeinungen orientieren. Kritik wird meist gar nicht erst publiziert. Gerne wird als Lippenbekenntnis der Gedanke des Philosophen Karl Popper wiederholt, dass Wissenschaft nicht auf „Meinungsmehrheiten“ beruht, sondern vor allem auf Falsifizierbarkeit, also auf der prinzipiellen Möglichkeit, Ergebnisse zu widerlegen. Umgesetzt wird diese Forderung allerdings nur sehr spärlich.
Um zwei weitere Beispiele aus der Ökonomie anzuführen: 1997 bekamen Robert Merton und Myron Schales für ihre Finanzmarkt-Modelle den Nobelpreis. Ihre Modelle wurden vielfach bei Hedgefonds angewendet. Beide waren Direktoren der Firma Long-Term Capital Management – eine Firma, die nur zehn Monate nach der Preisverleihung Pleite ging und die Finanzmärkte in eine tiefe Krise stürzte. In ihren Modellen hatten die Autoren abstruse Annahmen versteckt, die durchaus erkennbar waren und auf die ich selbst in einigen Texte aufmerksam gemacht habe; der Fake war also durchschaubar.
Kenneth Rogoff, ein weiterer US-Ökonom, zeitweilig Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, publizierte mit Carmen Reinhart 2010 einen sehr einflussreichen Aufsatz zur Staatsverschuldung, der vielen Regierungen immer noch als maßgebende Begründung für Sparzwänge gilt. Ein Student der Volkswirtschaftslehre, Thomas Herndon, wies aber nach, dass die Berechnungen der beiden gefeierten Autoren recht simple Fehler in ihren Excel-Tabellen enthalten und ihre Folgerungen deshalb unhaltbar sind. Die vermeintlich „wissenschaftliche“ Mehrheitsmeinung hat hier – wie in vielen anderen Bereichen – dennoch weiter großen politischen Einfluss.
Fake News mögen also falsch sein – wirksam sind sie allemal. Dies mahnt zur Vorsicht bei aktuellen Fragen, in denen man sich auf ,,Expertinnen“ und ,,Experten“ beruft, denn der Übergang von schlechter Wissenschaft zu einer Anpassung an die Interessen und politischen Ideologien der Geldgeber bis hin zu echten Lügen sind fließend. Die Wahrheit in den Wissenschaften ist in einer ernsten Krise, auch wenn diese Tatsache das öffentliche Bewusstsein bislang kaum erreicht hat.
Europa: Wahrheit ohne Ethik
Hier nun ist der Ort, an dem die buddhistische Tradition eine andere, neue Perspektive einzubringen vermag. Wie ist es überhaupt möglich, dass die Wahrheit durch eine fiktive Wahrnehmung, durch Lügen oder Fakes so häufig einfach ersetzt wird?
,,Wahr" sollen Aussagen sein, die mit „der Realität“, den ,,Fakten“ übereinstimmen. Doch Fakten sind nicht einfach gegeben, weiß der Buddhismus. Alle Erfahrung, wie der buddhistische Philosoph Dharmakirti sagt, wird hergestellt. Individuell durch die Sinnesorgane, sozial durch Experimente und Diskurs vermittelt Fakten sind nicht irgendwo „da draußen“. Sie sind als Objektivität ein Produkt, eine Messung, eine Statistik, eine Beschreibung. Und was man herstellt, kann man auch fälschen.
Nun mag es so scheinen, als würde die buddhistische Philosophie so etwas wie eine objektive Realität, eine Wirklichkeit ganz in Abrede stellen. Sagt nicht Nagarjuna, das, was wir als Wirklichkeit glauben, erscheine nur wie eine ,,Fata Morgana, als Luftspiegelung, als Traumgebilde“ (Nagarjuna, Mulamadhyamakakarika 17.33)? Ist damit nicht jede Aussage illusionär, wie ,,Schreiben auf Wasser“ (Nagarjuna, Suhrllekha 17)?
Tatsächlich gibt es in der europäischen Philosophie mit der Postmoderne heute eine Auffassung, die alle Wirklichkeit, vor allem aber alle Moral infrage stellt. Lange Zeit war in Europa die Wahrheit fest mit dem Gottesbegriff verbunden. Man dachte: Es ist Gott, der die Welt erschaffen, das heißt als Realität wahr gemacht hat. Mit der Aufklärung und dem modernen Atheismus ist der Haltepunkt „Gott“ verschwunden. Der religiöse Glaube wurde vom Glauben an die rein wissenschaftliche Wahrheit entthront. Geist, Spiritualität und ethische Werte haben in dieser Auffassung keine Wurzeln mehr in der Wirklichkeit Es öffnete sich damit eine sowohl philosophische wie moralische Kluft, die von postmoderner Beliebigkeit durch erfundene „Wahrheiten“ gefüllt wurde. Für die Postmoderne sind Moral, Denken, Geschlecht, Ethnie und vieles mehr nur ,,soziale Konstruktionen“.
Die Krise der Wahrheit, wie sie in der wachsenden Verbreitung von Fake News offenbar wird, wäre dann nichts weiter als die konsequente praktische Vollendung dieses Grundgedankens.
aus: Karl-Heinz Brodbeck, Fake News und die Krise der Wahrheit, Buddhismus aktuell, 1|20, S. 50ff.
siehe auch:
- Tödlicher Ernst – Die Pharmaindustrie ist eines der gefährlichsten Kartelle der Welt. (Post, 23.08.2018)
- Salisbury: Parallelen zum deutschen Plutonium-Skandal 1994 (Post, 03.04.2018)
- Realität ist, was wir glauben wollen oder Hirnströme von Friseurpuppen (Post, 29.08.2013)
- Wir geben ihnen Macht 1 (Post, 14.03.2013)