Oriana Fallaci, bekannte Schriftstellerin und Journalistin,
brach angesichts der Ereignisse vom 11. September ihr selbst auferlegtes
zehnjähriges Schweigen und antwortete Tiziano Terzani auf seinen Artikel im
Corriere della Sera. In ihrer Entgegnung spricht Fallaci all jenen die
Menschenwürde ab, die mit Osama bin Laden »sympathisieren« bzw. ihn zu
verstehen versuchen. Für diese »Zweifler«, so Fallaci, habe sie nur eines
übrig: Spucke und Fußtritte.
Florenz, 4. Oktober
2001
Oriana,
aus dem Fenster eines Hauses, das gar nicht so weit
entfernt liegt von deinem Geburtshaus, betrachte ich die majestätischen,
eleganten Klingen der Zypressen, die sich gegen den Himmel abzeichnen, und
stelle mir vor, wie du aus deinem Fenster in New York den Blick auf die Skyline
der Stadt richtest, aus deren Silhouette nun die beiden Zwillingstürme
herausgebrochen sind. Dabei kommt mir wieder ein Tag vor vielen, vielen Jahren
ins Gedächtnis, an dem wir beide einen langen Spaziergang über die von
Olivenbäumen versilberten Hügel unserer Heimat machten. Ich war noch Anfänger
in jenem Handwerk, in dem du bereits zu den Großen zähltest. Damals hast du mir
vorgeschlagen, wir sollten uns »Briefe aus zwei Welten« schreiben: ich aus dem
China unmittelbar nach Mao, du aus Amerika. Es lag an mir, dass daraus nichts
wurde. Eben wegen deines großzügigen Angebotes von damals erlaube ich mir
heute, dir zu schreiben, wobei ich dich nicht in einen Briefwechsel verwickeln
möchte, den wir beide lieber vermeiden würden. Denn zu keinem Zeitpunkt hatte
ich so sehr das Gefühl wie in diesem Moment, in einer Welt zu leben, die von
der deinen vollkommen verschieden ist, obwohl wir doch zusammen denselben
Planeten bewohnen.
Ich schreibe dir auch – und dies öffentlich –, weil ich
den Lesern beispringen möchte, die über deine verbalen Attacken genauso
entsetzt waren wie über den Einsturz des World Trade Centers. Dort starben
Tausende von Menschen und mit ihnen unser Gefühl von Sicherheit. Unter deinen
Worten aber scheint mit die beste Seite des menschlichen Verstandes, nämlich
die Vernunft, und auch die edelste Regung des menschlichen Herzens, nämlich
Mitgefühl, verschüttet worden zu sein.
Dein Ausbruch hat mich tief getroffen. Er hat mich
verletzt und mir Karl Kraus ins Gedächtnis gerufen: »Wer etwas zu sagen hat,
der trete vor und schweige«, schreibt er voller Verzweiflung, weil den Menschen
selbst angesichts der unbeschreiblichen Gräuel des Ersten Weltkriegs die Worte
nicht versagen. Ganz im Gegenteil: Sie verfallen in ein ebenso sinnloses wie
konfuses Geplapper. Schweigen hieß für Kraus Atem schöpfen, die richtigen Worte
suchen, erst nachdenken, dann sprechen. Er nutzte diese bewusste Stille, um Die letzten Tage der Menschheit zu
schreiben, ein Werk, das auch heute noch von beunruhigender Aktualität ist.
Es ist dein Recht, zu denken, was du denkst, und dies
schriftlich festzuhalten. Das Problem liegt nur darin, dass dank deiner
Berühmtheit deine brillante Lektion in Intoleranz auch Eingang in die Schulen
finden und die Jugend erreichen wird, und genau das ist der Punkt, der mich
beunruhigt.
Die augenblickliche Situation ist von historischer
Bedeutung. Die Spirale des Schreckens steht erst am Anfang, aber wir können sie
noch anhalten, wenn wir diesen Moment nutzen, um unsere Sicht der Dinge einmal
zu überdenken. Daher liegt in diesem Moment auch eine enorme Verantwortung,
denn die Hetzparolen jener, deren Mund noch immer nicht still steht, zielen wie
immer nur auf unsere niedrigsten Instinkte. Sie wecken die Bestie des Hasses,
die in jedem von uns schläft, und rütteln jene dumpfen Emotionen wach, die jede
Untat denkbar machen. Sie sind es, die ohne Unterschied uns wie unsere Feinde
zum Töten anstacheln – zum Mord oder Selbstmord.
»Der Leidenschaften Herr zu werden scheint mir ungleich
schwieriger, als die Welt mit Waffengewalt zu erobern. Vor mir liegt ein
schwieriger Weg«, schrieb der große Mahatma Gandhi. Und fügte hinzu: »Solange
der Mensch nicht freiwillig den letzten Platz unter den Kreaturen der Erde
einnimmt, wird er kein Heil finden.«
Und du, Oriana? Glaubst du tatsächlich, dass du uns das
Heil bringst, indem du dich an die Spitze dieses Kreuzzuges gegen all jene
setzt, die nicht wie du sind oder die du einfach nicht magst? Unser Heil liegt
nicht in deiner geifernden Wut und schon gar nicht in diesem kalkulierten
Militärschlag, den man, um ihn für uns akzeptabler zu machen, mit dem
schönfärberischen Namen »Operation Dauerhafter Friede« belegt hat. Oder denkst
du wirklich, dass Gewalt am besten mit Gewalt begegnet werden sollte? Seit
Anbeginn aller Zeit hat es noch keinen Krieg gegeben, der definitiv allen
Kriegen ein Ende gesetzt hätte. Und bei diesem Krieg wird das nicht anders
sein.
Doch gleichzeitig geschieht hier etwas völlig Neues. Die
Welt um uns herum verändert sich. Und wir können unsere Art zu denken
verändern, unsere Art, auf dieser Welt zu leben. Dies ist eine gute
Gelegenheit, die wir nicht versäumen sollten: Stellen wir alles zur Diskussion!
Erfinden wir uns eine Zukunft, die sich von unserer Vision vor dem 11.
September unterscheidet. Vor allem lassen wir uns nicht entmutigen, weil der
Lauf der Dinge angeblich unabänderlich ist. Schon gar nicht, wenn es sich dabei
um Kriege handelt, die unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit oder schlicht nach
Rache befriedigen sollen.
Jeder Krieg ist furchtbar. Die fortwährende Verfeinerung
der Zerstörungs- und Tötungstechniken macht sie immer grausamer. Dabei sollten
wir eines nicht außer Acht lassen:
Wenn wir diesen Krieg mit allen uns zur Verfügung
stehenden Mitteln führen – auch mit Atombomben, wie der amerikanische
Verteidigungsminister dies vorschlägt –, dann müssen wir uns darauf einstellen,
dass auch unsere Feinde, wer immer sie sein mögen, mit noch größerer
Entschlossenheit auf dieselbe Weise zurückschlagen werden: ohne sich an Regeln
zu halten, ohne irgendwelche ethischen Prinzipien zu beachten. Antworten wir
auf deren Angriff auf das World Trade Center mit noch heftigerer Gewalt – zuerst
in Afghanistan, dann im Irak, dann wer weiß, wo –, so werden sie unsere
Reaktion mit noch entsetzlicheren Anschlägen beantworten. Und die Spirale der
Gewalt dreht sich immer weiter.
Warum also halten wir diesen Teufelskreis nicht vorher
schon an? Wir haben das Gefühl dafür verloren, wer wir sind, den Sinn dafür,
wie zerbrechlich und eng verflochten die Welt ist, in der wir leben. Daher
glauben wir irrtümlich, wir könnten Gewalt in kleinen oder »intelligenten«
Dosen einsetzen, um der Gewalt anderer Einhalt zu gebieten. Wir sollten uns von
unseren Illusionen verabschieden. Und zuallererst sollten wir jene Staaten, die
nukleare, chemische und bakteriologische Waffen besitzen – die Vereinigten
Staaten in vorderster Reihe –, dazu anhalten, der Menschheit gegenüber die
Verpflichtung einzugehen, sie niemals zum Erstschlag zu benutzen, statt ständig
mit dem tödlichen High-Tech-Säbel zu rasseln. Dies wäre ein erster Schritt in
eine neue Richtung. Dies würde den einzelnen Staaten nicht nur eine
beträchtliche moralische Überlegenheit geben (die in Zukunft eine mächtige
Waffe sein wird), sondern auch die schreckliche Spirale von Rache und Gewalt,
die sich eben zu drehen beginnt, gar nicht erst in Bewegung setzen.
Dieser Tage habe ich des Öfteren ein wunderschönes Buch
zur Hand genommen, das ein Freund von mir vor zwei Jahren in Deutschland
veröffentlicht hat. (Schade, dass es noch nicht ins Italienische übersetzt
ist.) Das Buch trägt den Titel: DieKunst, nicht regiert zu werden: ethische Politik von Sokrates bis Mozart.
Sein Autor ist Ekkehart Krippendorf, der jahrelang an der Universität von
Bologna gelehrt hat, bevor er nach Berlin zurückgekehrt ist. Krippendorf stellt
die faszinierende These auf, dass die Politik, in ihrer höchststehenden Form,
aus der Überwindung der Rache entstanden ist. Seiner Ansicht nach finden sich
die Wurzeln der westlichen Kultur in bestimmten Mythen wie zum Beispiel in der
Geschichte von Kain und Abel oder im Mythos von den Erynnien, die den Menschen
immer daran erinnern sollen, wie wichtig es ist, den Teufelskreis der Rache zu
durchbrechen, will er ein zivilisiertes Leben führen. Kain tötet seinen Bruder,
doch Gott verbietet den Menschen, Abel zu rächen. Nachdem er Kain zeichnet und
ihn so schützt, verurteilt er ihn zu einem Leben im Exil, wo er die erste Stadtgründet. (Einer afghanischen Sage zufolge war diese Stadt Kabul.) Die Rache ist
nicht Aufgabe der Menschen, sondern liegt in der Hand Gottes.
Krippendorf meint, dass dem Theater von Äschylos bis
Shakespeare eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des westlichen Charakters
zukommt. Die Protagonisten aller denkbaren Konflikte auf die Bühne zu stellen,
sie ihren Standpunkt darlegen, ihre innere Zerrissenheit und ihre möglichen
Handlungsalternativen durchspielen zu lassen, gab dem abendländischen Menschen
die Möglichkeit, seine Leidenschaften zu ergründen und die Sinnlosigkeit von
Gewalt zu erkennen, die niemals zum Ziel führt.
Leider sind wir heute auf der Weltenbühne die einzigen
Darsteller und die einzigen Zuschauer. Daher hören, sehen und lesen wir in
unseren Medien auch nur unsere Ansichten. Wir spüren nur unseren Schmerz. Die
Welt der anderen lernen wir nicht kennen.
Du, Oriana, sagst, dass Kamikazepiloten dich nicht
interessieren. Mich schon. Ich habe in Sri Lanka einige Tage bei den
Tamilischen Tigern verbracht, die sich dem Selbstmord verschrieben haben. Auch
die jungen Palästinenser, die sich in israelischen Restaurants in die Luft
sprengen, interessieren mich. Vielleicht hättest auch du ein wenig Mitleid
empfunden, wenn du in Chiran auf der Insel Kyushu gewesen wärst, wo die ersten
japanischen Kamikazepiloten ausgebildet wurden, und dort die mitunter
poetischen und traurigen Worte gelesen hättest, die sie heimlich aufschrieben,
bevor sie widerstrebend loszogen, um für Kaiser und Vaterland zu sterben.
Die Kamikazepiloten interessieren mich, weil ich verstehen
möchte, was sie zu diesem unnatürlichen Akt des Selbstmordes treibt und was sie
davon abhalten könnte.
Diejenigen von uns, deren Kinder – glücklicherweise – geboren
wurden, sodass wir ihnen keine posthumen Briefe schreiben müssen, beginnen
nämlich, sich Sorgen zu machen, wenn sie sie in diesem neuen, sich rapide
ausbreitenden Flammenmeer der Gewalt umtost sehen, von dem das World Trade
Center vielleicht nur der Anfang war. Hier geht es nicht darum, zu
rechtfertigen oder zu verurteilen. Wir müssen verstehen. Denn ich bin
überzeugt, dass wir den Terrorismus nicht besiegen werden, indem wir die
Terroristen töten, sondern nur, indem wir die Ursachen beseitigen, die sie zu
solchen machen.
In der Geschichte der Menschheit gibt es keine einfachen
Erklärungen. Nur selten existiert zwischen einem Faktum und einem anderen ein
klarer und direkter Zusammenhang. Jedes Ereignis, auch in unserem Leben, hat
Tausende von Ursachen, die ihrerseits wieder Tausende von Wirkungen
hervorrufen. Das Attentat auf das World Trade Center ist ein solches Geschehnis:
Resultat einer Unmenge komplexer Fakten. Eines ist es aber sicher nicht: ein
Angriff im Rahmen eines »Religionskrieges« der moslemischen Extremisten, eines
Kreuzzuges mit umgekehrten Vorzeichen, der auf die Gewinnung unserer Seelen
abzielt, wie du dies formulierst, Oriana. Und es ist auch kein »Angriff auf die
Freiheit und die westliche Demokratie«, wie die Politiker jeglicher Couleur
dies vereinfachend auszudrücken belieben.
Ein früherer Professor an der Berkeley-Universität, ein
Mann, den man sicher nicht antiamerikanischer Umtriebe oder finsteren
Sympathisantentums verdächtigen kann, liefert für das Geschehene eine ganz
andere Begründung. »Die Selbstmordattentäter vom 11. September haben keineswegs
Amerika angegriffen: Sie haben die amerikanische Außenpolitik attackiert«,
schreibt Chalmers Johnson in der Oktoberausgabe von The Nation. Für ihn, der
mehrere Bücher geschrieben hat (sein letztes, Blowback, »Gegenschlag«, das im Jahr 2001 erschien, hat nachgerade
etwas Prophetisches), handelt es sich bei dem Attentat nur um einen von
zahllosen »Gegenschlägen«, die mit der Tatsache zusammenhängen, dass die
Vereinigten Staaten ihre Vorherrschaft in der Welt durch ein Netz von immer
noch 800 Militärbasen in aller Welt unterstreichen, obwohl der Kalte Krieg nach
dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion vorbei ist.
Johnsons Analyse wäre in Zeiten des Kalten Krieges wohl
als gezielte Desinformation von Seiten des KGB gewertet worden, denn er listet
sämtliche Staatsaffären, Komplotte, Verfolgungen, Morde und Eingriffe in innere
Angelegenheiten auf, in welche die Vereinigten Staaten verwickelt waren. Seit
dem Zweiten Weltkrieg wurden dabei korrupte oder diktatorische Herrscher und
Regierungen in Lateinamerika, Afrika, Asien und im Nahen Osten mehr oder
weniger offen unterstützt.
Der »Gegenschlag«, der als Antwort auf die Attacken auf
das World Trade Center und das Pentagon gedacht war, steht in einer ganzen
Reihe ähnlicher »Geschehnisse«: 1953 die Vertreibung von Mossadegh aus dem Iran
und die Unterstützung von Schah Resa Pahlevi, der Golfkrieg und die daran
anschließende permanente Präsenz der amerikanischen Truppen auf der Arabischen
Halbinsel, vor allem in Saudi-Arabien, wo die heiligen Stätten des Islam
liegen. Johnson zufolge ist dieser Zug der amerikanischen Außenpolitik dafür
verantwortlich, dass »so viele rechtschaffene Menschen in den islamischen
Ländern davon überzeugt sind, Amerika sei ihr unerbittlicher Feind«. Daraus
rühre der heftige Antiamerikanismus bei den Muslimen, über den die Vereinigten
Staaten und ihre Verbündeten sich heute so sehr wundern.
Ob Johnsons Analyse nun zutrifft oder nicht, sei
dahingestellt. Unbestreitbar ist aber die Tatsache, dass hinter den
gegenwärtigen amerikanischen und europäischen Bemühungen im Nahen Osten – von
der israelisch-palästinensischen Frage einmal abgesehen – der fast besessene
Wunsch steht, die gewaltigen Ölreserven dieser Region mögen in der Hand
»befreundeter« Regierungen bleiben. Dies ist die Falle, in die wir getappt sind
und aus der wir uns jetzt befreien könnten.
Warum stellen wir unsere wirtschaftliche Abhängigkeit vom
Erdöl nicht endlich infrage? Warum erforschen wir nicht endlich, wie wir
alternative Energiequellen nutzen können, wie wir es schon vor mehr als zwanzig
Jahren hätten tun sollen?
Auf diese Weise müssten wir uns nicht mehr in die
Konflikte am Golf verwickeln lassen und Regierungen unterstützen, die nicht
weniger repressiv und abscheulich sind als die der Taliban-Herrscher. Und wir
würden keine weiteren »Gegenschläge« von Seiten der Gegner dieser Regierungen
mehr riskieren. Außerdem wäre damit auch das ökologische Gleichgewicht des
Planeten gesichert. Vielleicht könnten wir sogar Alaska retten, das Präsident
Bush, dessen politische Nähe zur Ölindustrie ja völlig unbestritten ist, ein
paar Monate zuvor für die Ölsucher freigegeben hat.
Überhaupt, was das Thema »Öl« angeht, liebe Oriana, bin
ich sicher, auch du hast bemerkt, dass augenblicklich zwar viel über
Afghanistan geschrieben wird, dass aber nur wenige Autoren darauf hinweisen,
welche strategische Bedeutung diesem armen Land zukommt: Jede Öl- bzw.
Gasleitung, die die immensen Methan- bzw. Erdölvorkommen Zentralasiens (der
ehemaligen Sowjetrepubliken, die – wie durch ein Wunder – plötzlich alle Verbündete
der Amerikaner sind) nach Pakistan bzw. Indien befördern und von dort aus – unter
Umgehung des Irans – nach Südostasien weiterleiten soll, muss zwangsweise durch
Afghanistan verlaufen. Niemand erinnert sich dieser Tage noch daran, dass 1997
zwei Delegationen der heute so verhassten Taliban in Washington (im
Außenministerium) empfangen wurden. Eine große amerikanische Ölgesellschaft,
die Unocal, schloss damals unter Mitwirkung keines Geringeren als HenryKissinger mit Turkmenistan einen Vertrag zum gemeinsamen Bau einer Ölleitungdurch Afghanistan. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass sich hinter dem
aktuellen Angriff auf Afghanistan, der angeblich der Verteidigung so hehrer
Ziele wie Demokratie und Freiheit dient, weniger wohlklingende, aber um so
handfestere Beweggründe verbergen.
Aus diesem Grund sorgen sich auch in Amerika viele
Intellektuelle, dass die Verquickung der Interessen von Öl- und
Waffenindustrie, die beide in Washington augenblicklich an höchster Stelle
repräsentiert sind, in Zukunft die amerikanische Außenpolitik nur noch in eine
bestimmte Richtung lenken wird. Und dass im Zuge der Terrorbekämpfung die
Bürgerrechte und demokratischen Freiheiten, die Amerika so einzigartig machen,
beschnitten werden.
Die Tatsache, dass ein Fernsehjournalist bei einer
Pressekonferenz des Weißen Hauses öffentlich abgekanzelt wurde, weil er die
Frage stellte, ob Bushs Ausdruck »feige« für die Selbstmordattentäter wirklich
zuträfe, gab dieser Besorgnis noch zusätzliche Nahrung. Außerdem wurden
einzelne Mitarbeiter, die als nicht gerade »regierungsfreundlich« galten, von
einigen Zeitungen »gegangen«, kritische Fernsehprogramme kurzerhand zensiert.
Die Zweiteilung der Welt in »jene, die für uns sind, und
die anderen, die gegen uns sind« (und so sehr an die Taliban gemahnt), erzeugt
ein Klima, in der Hexenjagden wieder gedeihen können. Man fühlt sich an das
Amerika der fünfziger Jahre erinnert, als unter Senator McCarthy zur
gnadenlosen Hatz auf Intellektuelle, Beamte und Akademiker geblasen wurde, die
im Ruch standen, Kommunisten zu sein bzw. mit ihnen zu sympathisieren. Viele
von ihnen wurden verfolgt, vor Gericht gestellt und fanden keine Arbeit mehr.
Dein Angriff, Oriana, in dem du Gift und Galle spuckst
gegen »Schwätzer« und »skeptische Intellektuelle«, geht in dieselbe Richtung.
Der Zweifel ist eine der wichtigsten Funktionen des Denkens. Und er ist ein
Fundament unserer Kultur. Wollten wir den Zweifel aus unserem Kopf vertreiben,
dann wäre dies, als wollten wir unseren Lungen die Luft zum Atmen verweigern.
Ich glaube wirklich nicht, auf alle Fragen eine Antwort zu haben (daher eigne
ich mich nicht zum Politiker), doch ich denke, dass es sehr nützlich ist, die
Antworten anderer in Zweifel zu ziehen und offen und aufrecht Fragen zu
stellen. Und ich denke, dass ich diesen Freiraum haben sollte. In Zeiten des
Krieges darf es kein Verbrechen sein, vom Frieden zu sprechen.
Leider zeigt sich auch bei uns ein neuer Hang zu »alten
Werten«, der einen zur Verzweiflung treiben könnte, vor allem im offiziellen
Umfeld von Politik und Medienwelt. Als jage uns Amerika schon jetzt Angst ein.
So habe ich erst neulich einen Exkommunisten, der in seiner Partei [der POS,
Partei der Demokratischen Sozialisten, Nachfolgepartei der Kommunistischen
Partei Italiens] auch ein Amt bekleidet, in einer Fernsehsendung sagen hören,
dass der Spielberg-Film »Der Soldat James Ryan« eine wichtige Symbolfigur für
das Amerika ist, das uns Europäer zweimal gerettet hat. Dabei kann ich mich
noch erinnern, wie wir gemeinsam gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam
protestiert haben.
Mir ist durchaus klar, dass dies für Politiker ein
schwieriger Moment ist. Ich verstehe das. Und noch mehr verstehe ich, welche
Ängste unser Ministerpräsident Silvio Berlusconi aussteht. Er, der sein Amt als
schnellen Weg zur Lösung einiger sehr irdischer Interessenkonflikte sah, die
vor allem sein eigenes Vermögen betrafen, sieht sich mit einem Mal mit einem
Interessenkonflikt auf göttlicher Ebene konfrontiert, einem Krieg der
Zivilisationen, der im Namen Gottes und Allahs geführt wird. Nein. Ich beneide
die Politiker keineswegs.
Wir, Oriana, haben Glück, sind wir doch keine
Entscheidungsträger. Da wir nicht von der aktuellen Strömung hin und her
geworfen werden, erfreuen wir uns des Privilegs, am Ufer zu stehen und nur
Zuschauer zu sein. Doch gerade dies überträgt uns auch große Verantwortung,
denn wir haben die nicht leicht zu erfüllende Aufgabe, hinter die so genannten
Wahrheiten zu blicken. Unser Job ist es, »Verständnis zu schaffen, nicht
Schlachten anzuheizen«, wie Edward Said, palästinensischen Ursprungs und Professor
an der Columbia University, in einem Aufsatz über die Rolle der Intellektuellen
schreibt, der etwa eine Woche vor den Attentaten in Amerika erschienen ist.
Unser Handwerk besteht nicht zuletzt auch darin,
komplizierte Dinge zu vereinfachen. Doch dabei sollten wir nicht übertreiben,
Oriana, indem wir Arafat zum einzigen Symbol der Doppelzüngigkeit und des
Terrorismus machen und die Vereinigungen unserer moslemischen Mitbürger
durchweg zu terroristischen Zellen umdeuten. Deine Argumente werden Eingang in
die Schulen finden, wo sie laut vor den weniger hasserfüllten Stimmen erklingen
werden. Glaubst du wirklich, dass die Italiener von morgen, erzogen im Geiste
dieser simplifizierenden Intoleranz, zu besseren Menschen werden?
Wäre es nicht besser, sie würden im Religionsunterricht
mehr über den Islam erfahren? Oder im Literaturunterricht auch die persischen
Dichter Rumi und Omar Khayyam lesen? Wäre es nicht schön, wenn es auch einige
gäbe, die Arabisch studierten statt Englisch und vielleicht noch Japanisch?
Wusstest du, dass im Außenministerium unseres schönen Staates, der am
Mittelmeer liegt und für den die arabischen Staaten quasi Nachbarn sind, nur
zwei Beamte Arabisch sprechen? Einer davon ist, wie dies bei uns eben des
Öfteren vorkommt, gerade als Konsul in Adelaide, Australien.
Dabei fällt mir ein Satz des Kulturtheoretikers ArnoldToynbee ein: »Die Werke der Künstler und Gelehrten leben länger als die Taten
der Soldaten, Staatsmänner und Händler. Poeten und Philosophen bohren tiefer
als Historiker. Die Heiligen und Propheten aber sind wichtiger als alle anderen
zusammen.«
Wo sind heute die Heiligen und die Propheten? Ja,
wenigstens einen davon bräuchten wir jetzt. Ein zweiter Franz von Assisi wäre
wirklich vonnöten. Auch er lebte zu Zeiten der Kreuzzüge, sein Interesse aber
richtete sich ganz auf das Wohl der »anderen«, gegen welche die Kreuzfahrer zu
Felde zogen. Er tat alles, um sie kennen zu lernen. Beim ersten Mal ging sein
Schiff unter, und er konnte sich gerade noch retten. Beim zweiten Mal wurde er
sehr krank, bevor er das Heilige Land erreichte, und kehrte nach Hause zurück.
Beim fünften Kreuzzug schließlich erlebte er die Belagerung von Damiette in
Ägypten und war entsetzt über das Verhalten der Kreuzfahrer. (»Er erblickte die
Sünde und das Böse.«) Schockiert vom Anblick der vielen Toten auf den
Schlachtfeldern, begab er sich in Feindesland, wurde dort gefangen genommen und
dem Sultan vorgeführt. Man schrieb das Jahr 1219. Schade, dass es damals noch
kein Fernsehen gab, denn der Bericht über diese Begegnung wäre sicher sehr
interessant gewesen. Nach einem Gespräch, das vermutlich die ganze Nacht
dauerte, ließ der Sultan den heiligen Franz frei. Er kehrte unverletzt ins
Lager der Kreuzfahrer zurück.
Es macht mir Spaß, mir vorzustellen, wie sie beieinander
saßen und einander ihre Standpunkte erläuterten. Wie Franz von Assisi von
Christus sprach und der Sultan Passagen aus dem Koran vorlas. Und wie sie sich
am Ende einig waren, dass wichtig nur das sei, was der »Gaukler Gottes« überall
zu verkünden pflegte: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Und ich stelle
mir vor, dass die beiden lächelnd auseinander gingen, da der heilige Franz ja
ebenso viel lachte wie predigte. Dass keinerlei Feindschaft zwischen ihnen
herrschte, da beide ja wussten, dass sie die Geschichte nicht würden ändern
können.
Und heute? Die Geschichte nicht zu ändern könnte durchaus
gleichbedeutend sein mit »ihr ein Ende bereiten«. Erinnerst du dich noch an
Padre Balducci, Oriana? Den Priester, der in Florenz predigte, als wir noch
jung waren? Sich auf den atomaren Holocaust beziehend, stellte er eine
interessante Frage: »Dass das Ende der Welt nahe sein könnte, dass wir die Wahl
zwischen Sein und Nichtsein haben, hat dies den Menschen menschlicher gemacht?«
Wenn ich mich so umsehe, würde ich eher mit Nein antworten. Trotzdem dürfen wir
die Hoffnung nicht aufgeben.
»Sagen Sie mir, was treibt den Menschen zum Krieg?«,
schrieb Albert Einstein 1932 in einem Brief an Sigmund Freud. »Ist es wohl
möglich, die psychische Entwicklung des Menschen so zu steuern, dass er fähig
wird, auf die seelische Krankheit des Hasses und der Zerstörungswut zu
verzichten?«
Freud nahm sich zwei Monate Zeit für die Antwort. Und er
meinte, dass eine gewisse Hoffnung durchaus bestünde.
Zwei Faktoren schienen ihm die Wahrscheinlichkeit
künftiger Kriege zu verringern: eine zivilisiertere Grundhaltung der Menschen
und die Angst vor den Auswirkungen des Krieges der Zukunft.
Der Tod ersparte es Freud, die Gräuel des ZweitenWeltkriegs miterleben zu müssen. Einstein hingegen nicht. Und dessen
Überzeugung von der Notwendigkeit einer radikal pazifistischen Einstellung
wuchs. Daher erteilte er 1955, kurz vor seinem Tod, von seinem Häuschen in
Princeton aus, wo er Zuflucht gefunden hatte, der Menschheit seinen Rat, wie
sie ihr Überleben sichern könne: »Erinnert euch, dass ihr Menschen seid, und
vergesst alles andere.«
Angriff, Oriana, ist keineswegs die beste Verteidigung.
(Ich denke hier an die Spucke und die Fußtritte, die du für all jene reserviert
hast, die nicht deiner Meinung sind.) Um uns zu schützen, müssen wir keineswegs
töten. Auch wenn es hier einige gerechtfertigte Ausnahmen von der Regel geben
mag. Ich habe immer gern in den Jataka genannten Geschichten gelesen, die von
den früheren Leben Buddha Shakyamunis erzählen. Er, der die Fleisch gewordene
Gewaltlosigkeit ist, sah sich in einer seiner vorhergehenden Lebenszeiten
selbst gezwungen, einen Menschen zu töten. In dieser Geschichte benutzt er
zusammen mit 500 anderen Menschen ein Schiff. Da er bereits hellseherische
Fähigkeiten entwickelt hat, »sieht« er, dass einer der Passagiere ein
Totschläger ist, der alle ausrauben und ermorden will. Der Buddha kommt ihm
jedoch zuvor und wirft ihn ins Wasser. Der Räuber ertrinkt, die anderen
Passagiere aber sind gerettet.
Gegen die Todesstrafe zu sein bedeutet ja auch nicht,
gegen jede Form der Bestrafung und für die Freiheit aller Verbrecher
einzutreten. Um aber auf gerechte Weise zu strafen, müssen wir bestimmte Regeln
beachten, die uns der Zivilisationsprozess gelehrt hat. Wir müssen die Gesetze
der Vernunft respektieren und den Schuldbeweis abwarten. Die Parteibonzen der
Nazis wurden vom Gerichtshof in Nürnberg abgeurteilt, die Japaner, die für alle
in Asien begangenen Grausamkeiten verantwortlich waren, stellte man in Tokio
vors Kriegsgericht. Sie wurden zum Tode verurteilt und gehenkt. Die Beweise
gegen sie waren erdrückend. Welche Beweise aber haben wir gegen Osama bin
Laden?
»Uns liegen erdrückende Beweise für die Schuld von Warren
Anderson vor, des Präsidenten von Union Carbide. Wir erwarten, dass ihr ihn uns
ausliefert«, schrieb vor einigen Tagen Arundhati Roy, die Autorin von Der Gott
der kleinen Dinge, aus Indien, offenkundig, um zu provozieren. Eine wie du,
Oriana, berühmt und nicht unumstritten, geliebt und gehasst. Wie du, Oriana,
ist auch sie immer bereit, eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Arundhati Roy
hat die internationale Diskussion um Osama bin Laden genutzt, um die
Auslieferung des amerikanischen Präsidenten der Unioh Carbide an ein indisches
Gericht zu fordern. Er war verantwortlich für die 1984 erfolgte Explosion in
der Chemiefabrik von Bhopal, Indien, die mehr als 16.000 Todesopfer forderte.
Auch er also ein Terrorist? Vom Standpunkt der Toten aus betrachtet, müssten
wir diese Frage vielleicht bejahen.
Der Terrorist aber, den man uns augenblicklich als »Feind«
verkauft, ist der saudi-arabische Millionär, der von einer Höhle im
afghanischen Gebirge aus den Angriff auf die Zwillingstürme befiehlt. Oder der
Ingenieur und Pilot, der – fanatischer Fundamentalist – im Namen Allahs sich
selbst und Tausende unschuldiger Menschen tötet. Oder der palästinensische
Jugendliche, der sich – mit einer Tasche voller Dynamit bewaffnet – in einer
Gruppe von Israelis selbst in die Luft sprengt.
Wir müssen akzeptieren, dass für andere der »Terrorist«
der Geschäftsmann ist, der zwar keine Bomben mit sich herumträgt, aber in
seinem Aktenköfferchen Pläne für eine Chemiefabrik hat, die er wegen der
erhöhten Explosionsgefahr und der umwelttechnischen Risiken in einem der
reichen Länder der Ersten Welt niemals bauen dürfte. Und das Atomkraftwerk, in
dessen Umkreis überdurchschnittlich viele Menschen an Krebs erkranken? Und der
Staudamm, für den Zehntausende Familien ihr Heim verlassen müssen? Oder die
vielen kleinen Fabriken, die auf gutem Reisland errichtet werden, sodass aus
den selbstständigen Bauern Arbeiter werden, die Sportschuhe und Miniradios
produzieren, zumindest bis zu dem Tag, an dem die Produktion an einen noch
billigeren Ort verlagert wird? Dann schließen die Fabriken, die Arbeiter haben
nichts mehr zu tun, doch die Reisfelder sind und bleiben verschwunden, sodass
die Leute regelrecht verhungern müssen.
Mit Relativismus hat diese Sicht der Dinge nichts zu tun.
Ich möchte nur sagen, dass Terrorismus als Strategie der Gewalt sich in den
verschiedensten Formen ausdrücken, ja auch wirtschaftlicher Natur sein kann.
Daher dürfte es schwierig sein, eine gemeinsame Definition für das zu
bekämpfende Übel zu finden.
Die Regierungen des Westens stehen heute wie ein Mann
hinter den Vereinigten Staaten, einig im Wissen darum, wer die Terroristen sind
und wie man sie zu bekämpfen hat. Die Bürger der einzelnen Staaten sind da
schon viel weniger überzeugt. Im Augenblick finden in Europa noch keine
Massendemonstrationen für den Frieden statt, doch das Gefühl des Unbehagens ist
weit verbreitet. Ebenso weit verbreitet wie die Unsicherheit darüber, was denn
anstelle des Krieges wünschenswert wäre. Auf dem Schild einer Demonstrantin in
Berlin stand zu lesen: »Wir wollen etwas Schöneres als den Kapitalismus.« Und
in Bologna, wo die Menschen vor einigen Tagen auf die Straßen gingen, sah man
einen Slogan, der in Italien weit verbreitet ist: »Un mondo giusto non e mai
Nato.« – Mit der Nato gibt es keine gerechte Welt. Eben. Und vielleicht ist es
das, was wir jetzt mehr denn je fordern sollten: eine »gerechtere Welt«. Eine
Welt, in der jener, welcher viel besitzt, sich dessen annimmt, der wenig
besitzt. Eine Welt, die sich an ihre Gesetze hält und ein wenig auch an eine
intakte Ethik.
Die breite Koalition gegen den Terror, die Washington
jetzt auf die Beine stellt, indem es alte Bündnisse kappt und vorher verfemte
Länder bzw. Staatschefs ins Boot holt, die plötzlich akzeptable Bündnispartner
abgeben, ist lediglich ein weiteres Beispiel für den ungeheuren politischen
Zynismus dieses Landes. Und ebendiese Haltung nährt den Terrorismus in vielen
Teilen der Welt und entmutigt so viele aufrechte Menschen in den Ländern des
Westens.
Die Vereinigten Staaten haben sich sogar an die Vereinten
Nationen gewandt, um ihrem »Kreuzzug« gegen den Terror den Anschein von
Legalität zu verleihen. Dabei haben die USA ihre Beiträge zur Finanzierung der
Arbeit dieser Institution jahrelang eingefroren. Die Vereinigten Staaten haben
weder das Gründungsstatut des Internationalen Strafgerichtshofes unterschrieben
noch die Vereinbarung über den Nichteinsatz von Anti-Personen-Minen. Und auch
die Klimaschutzvereinbarung von Kyoto hat Amerika nicht unterzeichnet.
Das nationale Interesse geht Washington über alles. Daher
hat die amerikanische Regierung jetzt auch entdeckt, wie nützlich Pakistan sein
kann, ein Land, dessen Militärregime man früher ablehnte und das wegen seiner
Atombombenexperimente immer wieder mit wirtschaftlichen Sanktionen bedacht
wurde. Daher wird die CIA wohl bald wieder Mafiosi und Killer in Sold und Lohn
nehmen, die für sie die »Schmutzarbeit« erledigen und verstreut über den Globus
jene Menschen liquidieren, die auf der schwarzen Liste des Geheimdienstes
stehen.
Und doch wird die Politik sich früher oder später an der
Ethik messen lassen müssen, wenn wir eine bessere Welt wollen. Und zwar besser
in Asien wie in Afrika, in Timbuktu wie in Florenz.
Und was Florenz angeht, Oriana, so bin ich auch
niedergeschlagen und traurig, wenn ich die Stadt besuche, weil alles dort
anders ist als früher, vor allem sehr viel vulgärer. Doch liegt das nicht am
Islam, und schon gar nicht an den Emigranten, die sich dort niedergelassen
haben. Sie sind es sicher nicht, die aus Florenz einen Andenkenladen gemacht
haben, der sich für die Touristen prostituiert! Dies geschieht leider überall.
Florenz war sehr viel schöner, als es noch kleiner und ärmer war. Heute ist die
Stadt ein Schandfleck, aber nicht weil die Muslime sich am Domplatz treffen,
die Filipinos an der Piazza vor Santa Maria Novella und die Albaner am Bahnhof.
Vielmehr ist Florenz jetzt auch »globalisiert«, weil es dem Ansturm jener Kraft
nicht widerstehen konnte, die – bis vor kurzem jedenfalls – als unbezwingbar
galt: der Macht des Marktes.
Innerhalb von nur zwei Jahren sind aus einer schönen
Straße in der Altstadt, der Via Tornabuoni, die ich als Junge so gerne entlangschlenderte,
verschwunden: ein Antiquariat, eine alte Bar, eine alteingesessene Apotheke und
ein Musikgeschäft. Und was findet sich jetzt stattdessen dort? Modeläden. Glaub
mir, auch ich finde mich in dieser Stadt nicht mehr wieder.
Aus diesem Grund habe auch ich mich zurückgezogen.
Ich lebe heute in einer Hütte im indischen Teil des
Himalaya, zu Füßen der göttlichsten Berge der Erde. Ich verbringe Stunden
damit, sie zu betrachten, wie sie da vor meinen Augen liegen, majestätisch und
unbeweglich, reinstes Symbol der Dauerhaftigkeit, und doch im Laufe des Tages
ständigen Veränderungen unterworfen wie alles im Universum. Die Natur ist eine
große Lehrerin, Oriana, daher sollten wir immer und immer wieder zu ihr
zurückkehren, um ihren Lektionen zu lauschen. Versuch es ruhig einmal. Sonst
wirst du dich am Ende wirklich noch einsam fühlen, eingeschlossen in einem
Apartment, eingepfercht in einen Wolkenkratzer, vor Augen nichts anderes als
verschachtelte Menschen in ebensolchen Wolkenkratzern. Dann fühlt man sich
vielleicht wirklich wie das zufällige Produkt der Umstände und nicht wie der
kleine Teil eines großen Ganzen, größer als alle Türme, die du noch vor Augen
hast und die jetzt verschwunden sein mögen. Betrachte einen Grashalm im Wind
und versuche, dich zu fühlen wie er. Dann wird auch deine Wut vergehen.
Ich grüße dich, Oriana, und ich wünsche dir von Herzen,
dass du Frieden finden mögest. Denn wenn er nicht in uns ist, finden wir ihn
nirgends.
aus Tiziano Terzani, Briefe gegen den Krieg