Die Erscheinung (Selbstbildnis mit Muse), 1917/18 |
In seiner 1921 begonnen Autobiographie „Mein Leben“ notiert Marc Chagall: „Plötzlich öffnete sich die Zimmerdecke und ein geflügeltes Wesen schwebte hernieder mit Glanz und Gepränge und erfüllte das Zimmer mit wogendem Dunst. Es rauschen die schleifenden Flügel. Ein Engel! denke ich. Ich kann die Augen nicht öffnen, es ist zu hell, zu gleißend. Nachdem er alles durchschweift hat, steigt er empor und entschwindet durch den Spalt der Decke, nimmt alles Licht und Himmelblau mit sich fort. Dunkel ist es wieder. Ich erwache. Mein Bild Erscheinung gibt diesen Traum wieder.“
Und in seinem Gedicht „Engel über den Dächern“ klingt dieses Erlebnis nach:
„…wo der Fluss schläft, dort träumte
ich goldene Tage hindurch.
Und in der Nacht – der lichte Engel
loderte über dem Speicherdach auf
und schwor mir, dass er meinen Namen
in die Höhe bringe…“
Marc Chagall
Das Bild stammt aus den Jahren 1917-1918. Chagall hat dieses Motiv wiederholt variiert. Es erinnert an seine erste Ankunft in Petrograd, St. Petersburg, 1909. Völlig mittellos teilt er das Bett eines Arbeiters auf einem ärmlichen Dachboden. Der Besuch der Kunstakademie scheidet aus, weil Chagall der entsprechende Schulabschluss fehlt, die Kunstgewerbeschule lehnt ihn ab, weil seine vorgelegten Arbeiten zu befremdlich seien. Aber nicht nur, was seine Kunst betrifft, droht Chagall den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der tägliche Kampf gegen den Hunger bedroht seine Existenz. Skrupel, Selbstzweifel und Grübelei bemächtigen sich seiner. Da träumt Marc Chagall eines nachts, dass sich die Zimmerdecke öffnet und ihm ein Engel erscheint. Das ist übrigens nicht das einzige Erlebnis dieser Art in seiner Biographie. Schon als Kind erfährt er sich am Ufer des Flusses, der durch sein Heimatdorf fließt, von neun Engeln umringt, die einen schützenden Kreis um ihn bilden.
Trotz der bedrückenden Erdenschwere, die Chagall in diesen Wochen erlebt, ist sein Bild überraschend leicht, gewichtlos, transparent und durchlässig. Es ist, als ob der Künstler auf den Grund der Dinge blickt. Er reduziert die Szene auf das Wesentliche — die Größe und den Glanz einer ungeheuerlichen Begegnung. Wie Prismen sammeln die Diagonalen das Bild in einem fernen Fluchtpunkt, in dem die schwarz-graue Welt des Künstlers und die zarte blaue Sphäre des Engels zusammentreffen. Wo sie sich begegnen, entsteht weißes Licht, das sich ausbreitet, das Zimmer und den Maler erfasst und auf dessen Leinwand widerstrahlt und ihr Grau-in-Grau verdrängt. Jeder Mensch braucht einen Engel, heißt es. Bei Chagall hat er ihn. Engel bevölkern sein Werk wie kaum ein anderes im 20. Jahrhundert. Sie sind Boten Gottes, die ihn behüten, beschützen und begleiten. Für Chagall ist es Gewissheit: Es kann ihm nichts geschehen, wie schwer und bedroht sein Leben auch immer sein mag.
Die Erscheinung des Engels erinnert mich daran, dass es eine beständige Verbindung gibt zwischen Himmel und Erde, dass Himmel und Erde füreinander offen sind und in andauerndem Austausch stehen. Solche Wunder, wie sie Chagall erlebt hat, geschehen täglich. Es ist nur die Frage, ob ich das wahrnehme. Es kommt darauf an, wie durchlässig ich selber bin, wie transparent mein Leben dafür ist, dass meine Erdenschwere ein himmlisch-leichtes Gegengewicht hat und mich Tag für Tag neu in die richtige Balance bringt.